Eins-zu-eins-Betreuung

Den Faden aufnehmen

Die Bedeutung der Eins-zu-eins-Betreuung für die Gebärende ist das Thema einer Masterarbeit an der Fachhochschule Salzburg in Österreich. Im Rahmen einer qualitativen Erhebung befragte die Autorin Frauen, die eine gelungene Eins-zu-eins-Betreuung erlebt haben. Ziel war es herauszufinden, was sie dabei als wesentlich empfanden. Der Blick auf diese Stimmen offenbart, dass sie im gegenwärtigen geburtshilflichen System immer noch zu wenig Gehör finden. M.Sc. Anne Flade
  • Die Eins-zu-eins-Betreuung der Frau basiert auf einem einzigartigen Beziehungsgeflecht. Hier gilt es, immer wieder den Faden aufzunehmen.

»Unterstützung muss in das Gewebe jeder Begegnung zwischen Hebamme und Frau geflochten werden: Sie ist in jedem Ausdruck, den wir verwenden, begleitet jedes Wort, das wir aussprechen, und wird durch unsere Berührung weitergegeben. Frauen können unsere Ängste wahrnehmen und spüren unsere Zweifel, und wenn wir nicht an uns selbst arbeiten, werden wir niemals wirklich präsent für sie sein können.« (Dahlen 2016, Übersetzung der Verfasserin)

 

Bedeutsamer Doppelpunkt

 

Hebamme zu sein, bedeutet für mich, Frauen in der existenziell wichtigen Übergangsphase des Mutterwerdens zu begleiten. Es wird angenommen, dass seit dem Anbeginn menschlichen Lebens Frauen sich gegenseitig bei der Geburt unterstützt haben. Vor vergleichsweise kurzer Zeit wurden die gemeinschaftliche Fürsorge und der enge Kontakt abgelöst durch eine Überwachung mithilfe technischer Geräte. Im Namen einer mutmaßlich größeren Sicherheit wurde so etwas Grundlegendes wie der menschliche Beistand in den Hintergrund gedrängt. Doch die kontinuierliche, beruhigende und bestärkende Anwesenheit einer Hebamme scheint bedeutsam für das gute Gelingen einer Geburt zu sein.

In der Eins-zu-eins-Betreuung unter der Geburt treffen sich die Persönlichkeit der Frau und die Persönlichkeit der Hebamme in einer Interaktion. Daraus ergeben sich drei Kernkomponenten – die beiden Einsen und der Doppelpunkt (1:1). Beide Einsen können nicht von dem sie umgebenden System losgelöst betrachtet werden, das heißt die Frau von ihren familiären Rahmenbedingungen, die Hebamme von ihren Arbeitsvoraussetzungen und beide zusätzlich nicht von den gesellschaftlichen Werten und Normen. Hinzu kommt das Kind, das in Symbiose mit seiner Mutter heranwächst und sie auf unterschiedlichen Ebenen beeinflussen kann. Das bedeutet, dass jede Eins-zu-eins-Betreuung einzigartig ist, weil ihre Komponenten in jedem Zusammentreffen anders ausgeprägt sind. Es stellt sich die Frage, wie der Doppelpunkt als verbindendes Element definiert und ausgestaltet ist.

Da die Hebamme in die Eins-zu-eins-Betreuung als professionelle Fachkraft mit entsprechendem Wissen und Erfahrung hineingeht, sollte sie über wesentliche Instrumente verfügen, diese Beziehung im Sinne der Frau zu gestalten. Doch die Variationsbreite zwischen der Ermächtigung einer Gebärenden und einer Traumatisierung durch die Geburt infolge fehlender empathischer Betreuung ist immens.

 

Schutz für die einzigartige Normalität der Geburt

 

Erst kürzlich wurde ein Meilenstein in der geburtshilflichen Betreuung von Gebärenden durch Hebammen erreicht. Die Eins-zu-eins-Betreuung fand mit einer Konsensstärke von 100 % und einem hohen Evidenzgrad Eingang in die S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin. Die Verfasser:innen gehen davon aus, dass damit den Bedürfnissen von Frauen nach einer kontinuierlichen Betreuung entsprochen, das Fehlerpotenzial aus suboptimalem Schnittstellenmanagement reduziert und eine interventionsarme Geburt gefördert werden kann (AWMF 2021). Obwohl die Förderung der physiologischen Geburt durch eine kontinuierliche Hebammenbetreuung wissenschaftlich begründet werden kann (Dixon et al. 2013; Schmid & Downe 2010), wurde der Wert einer Eins-zu-eins-Betreuung lange nicht gewürdigt.

Wichtige körperliche Prozesse, zu denen auch die Geburt zählt, werden von Schutzstrategien des Menschen begleitet, welche nach neurowissenschaftlicher Forschung wesentlich von emotionalen Aspekten gesteuert sind (Schwaighofer 2017). Es ist davon auszugehen, dass Frauen in dem außergewöhnlichen Prozess der immensen körperlichen und emotionalen Öffnung für die Geburt schutzbedürftig sind. Dieser Schutz kann durch eine angemessene Betreuung sichergestellt werden. Studien zu kontinuierlicher Geburtsbetreuung belegen mehr Spontangeburten, einen geringeren Einsatz von Schmerzmitteln, eine höhere Zufriedenheit der Gebärenden und weniger Interventionen (Hodnett et al. 2003). Sie beschreiben aber nicht im Detail, welche qualitativen Betreuungsinhalte dafür ausschlaggebend sind. Ansätze zur Ausgestaltung der Beziehung, wie Vertrauensförderung und Ressourcenstärkung, finden sich in der freiwillig gegebenen Ethik für Hebammen des Deutschen Hebammenverbandes, die als Orientierung für Ausbildung, Berufsausübung und wissenschaftliches Arbeiten dienen soll (DHV 2017). Doch wo wird die so wichtige Beziehungsebene zwischen Hebamme und Frau beschrieben? Überwiegend wurde die Eins-zu-eins-Betreuung fälschlicherweise als rein gefühlsmäßiges Beiwerk und angenehme Ergänzung einer Dienstleistung angesehen und ihre enorme Bedeutung für den physiologischen Verlauf einer Geburt unterschätzt.

 

»Ich bin immer da«

 

An erster Stelle stand für alle von mir befragten fünf Frauen das Da-Sein der Hebamme. Imara [alle Namen wurden für die Masterarbeit anonymisiert], beschrieb: »…dass da jemand da ist, der da ist und da bleibt…«. Das Da-Sein ist das Herz der Eins-zu-eins-Betreuung, das, was ihren innersten Wesenskern bildet und ohne welches sie nicht existent ist. Es ist die Präsenz der Hebamme, die den Frauen wichtig ist, ihre Fokussierung auf eine einzelne Gebärende.

Mette erklärte: »Es ist sozusagen ihre Hauptaufgabe, mich zu sehen und mich zu begleiten.« Die Hebamme ist gegenwärtig und strahlt aus: »Ich bin da. Dieses: Ich bin immer da.» Ihre Präsenz ist spürbar im Raum. Dies entspricht den Erkenntnissen des Konzepts »The art of doing nothing well« (Kennedy 2000), weil das beobachtende und aufmerksame Nichts-Tun nur praktiziert werden kann, wenn die Hebamme mit all ihren Sinnen anwesend ist. Das von den Frauen beschriebene »Da-Sein« stimmt auch mit den beiden repräsentativsten Eigenschaften einer Hebamme im Konzept des »being with women« überein: die ständige Verfügbarkeit menschlicher Präsenz und die Unterstützung entsprechend der wahrgenommenen Bedürfnisse der Frau (Hunter 2002).

Das Da-Sein der Hebamme ist auch zentral in dem Ansatz der »Midwifery presence«, der in der Präsenz der Hebamme ein kraftvolles Instrument sieht (Kennedy et al. 2010). Die Autor:innen merken jedoch an, dass die Präsenz eine Kunstfertigkeit von Hebammen ist, die unterentwickelt sein oder die in einem medikalisierten Umfeld nicht ausgelebt werden könne. So bedeutet Präsenz nicht nur die bloße Anwesenheit im Geburtsraum. In Abgrenzung zu einer aufmerksamen und zurückhaltenden Präsenz kann eine Hebamme auch geistesabwesend sein (»absently present«, Anderson 2000).

In einer Literaturrecherche wurden Anhaltspunkte gefunden, dass Gebärenden zeitlich gesehen, nur minimale Eins-zu-eins-Betreuung zugutekam, obwohl sich ihre jeweilige Hebamme im Kreißsaal nur um eine einzige Frau kümmern musste (Sosa et al. 2012). Ylva schilderte die Anwesenheit ihrer Hebamme und betonte »… kein Alleinlassen …«.

Es gibt Hinweise, dass Frauen, die sich unter der Geburt selbst überlassen wurden, mehr Stress hatten und ängstlicher waren (Knape et al. 2013). Im leibtheoretischen Ansatz nach der Professorin für Hebammenkunde Sabine Hartmann-Dörpinghaus ist die Anwesenheit der Hebamme zentral, um leiblich zu kommunizieren und qualitative Aspekte im Begleiten zu erfassen. So erhält die Hebamme einen leiblichen Eindruck von der Gebärenden, der auch Unsagbares enthalten kann und damit vorsprachlich ist: »Wenn die Hebamme in ihrem professionellen Verständnis das Geburtsgeschehen zulässt und kontrolliert beobachtet, bedarf es zum Begleiten der Aufmerksamkeit – insbesondere auf die leibliche Seinsweise, um Zwischenzustände, Übergänge oder Widersprüchliches identifizieren zu können. Grundvoraussetzung ist hierfür wiederum, dass Offenheit, Neugier und wache Präsenz Pate stehen und ihr ermöglichen, mit ihrem leibliche Spüren in der Situation in einen unverfälschten Kontakt mit der Frau zu kommen« (Dörpinghaus 2016).

Als Hebamme die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine Frau ihren Verstand abschalten kann und damit unbewusst dem limbischen Teil des Gehirns den Vorrang zu lassen, erfordert die stetige und vertraute Anwesenheit der betreuenden Hebamme. Sind die Störungen aus der Umgebung einer Gebärenden zu dominant, können die von den Neurohormonen ausgelösten korrigierenden Anpassungsreaktionen für die Aufrechterhaltung eines optimalen inneren Milieus nicht aktiv werden, welches wiederum für ein physiologisches Gebären nötig ist (Dixon et al. 2013).

Es scheint wissenschaftlicher Konsens zu sein, dass das »Da-Sein« einer Hebamme der wesentliche Bestandteil einer Geburtsbetreuung sein sollte. Vieles deutet auch darauf hin, dass es zunächst eine sehr bewusste Entscheidung der Hebamme sein muss, da zu sein und dass es die geburtshilflichen Umstände auch erlauben müssen, da zu bleiben.

 

Qualitative Studie: Eins-zu-ein-Betreuung aus Sicht der Gebärenden

 

Anhand von leitfadengestützten Interviews wurden fünf Frauen nach außerklinischer Geburt zu ihrer positiv erlebten Eins-zu-eins-Betreuung befragt, um die inhaltliche Bedeutung der Begleitung qualitativ zu erforschen und induktiv auszuwerten.

Die Forschungsfrage lautete: Welche Eigenschaften und Handlungsweisen einer Hebamme in der Geburtsbegleitung sind für Frauen wichtig, um gut gebären zu können?

Ergebnisse: Die in acht Untergruppen zusammengefassten Aspekte sind Da-Sein, Ruhe und Geduld, Bestärkung, Zurückhaltung, Erfahrung, Vertrauen, Sicherheit und Hilfestellung.

Diese Kategorien lassen sich nur schwer voneinander trennen, da sie eine besondere Form der Beziehung illustrieren, die aus einer jeweils einzigartigen Verbindung zweier Individuen besteht.

Die Masterarbeit wird auf Anfrage an > kontakt@hebamme-anne-flade.de gerne versendet.

Quelle: Masterarbeit im Studiengang Salutophysiologie für Hebammen an der FH Salzburg 2018–2020. Erstbetreuung: Prof:in emer. Dr. Barbara Duden

 

Besonderes Beziehungsgewebe

 

In den Interviews der qualitativen Studie (siehe Kasten) sprach jede der fünf Frauen in ganz eigener und unvergleichlicher Weise von sich und ermöglichte damit einen tiefen Einblick in die Beziehung zu ihrer Hebamme. Es scheint sich dabei um eine sehr intensive Verbindung zu handeln, die die Frauen als miteinander vertraut, fast freundschaftlich, dennoch professionell beschreiben. Dabei lernen sich Frau und Hebamme gegenseitig kennen, kommunizieren auf Augenhöhe, sind Partnerinnen im Prozess des Mutterwerdens. Dennoch steht die Frau mit ihren Wünschen und Bedürfnissen im Mittelpunkt. Die Hebamme begleitet sie mit ihrem fachlichen Wissen, mit Aufmerksamkeit und gleichzeitig auch mit Zurückhaltung. Das ermöglicht den Frauen die Wahrnehmung ihrer eigenen körperlichen und emotionalen Bedürfnisse, die von der Hebamme berücksichtigt werden.

Die geschilderten Geburten folgten unter der einfühlsamen Begleitung der Hebammen ihrem eigenen Rhythmus und waren dabei unbeeinflusst von Störungen, zeitlichem Druck und institutionellen Zwängen. Die sensiblen, physiologischen Mechanismen der Geburt mit ihren Wechselwirkungen zwischen hormonellem und neurovegetativem System konnten in dieser Form der Eins-zu-eins-Betreuung ungehindert wirken. In dem für sie geschaffenen geschützten Rahmen waren die Frauen in der Lage, sich fallen zu lassen und sich für die Geburt zu öffnen. Sie wurden nach allen Kräften ermutigt und körperlich unterstützt und erlebten eine bestärkende Geburtserfahrung.

Die von den Frauen genannten wichtigen Eigenschaften und Handlungsweisen einer Hebamme waren eine Verknüpfung von Da-Sein, Geduld, Zeit und Ruhe, Zuspruch, Bestärkung und Ermächtigung, Zurückhaltung der Hebamme und Selbstbestimmtheit der Frau, Vertrauen, Sicherheit, Erfahrung, fachlichem Wissen und Professionalität sowie Angeboten, Vorschlägen und Hilfestellung (siehe Kasten).

 

Voraussetzungen jenseits von Standards

 

Schon in der Auswertung der Interviews wurde für mich deutlich, dass sich die für die Frauen wichtigen Komponenten schwer voneinander trennen lassen. Da sie eine besondere Form der Beziehung illustrieren, sind sie wie Fäden miteinander verwoben und bilden den Stoff, aus dem diese jeweils einzigartige Verbindung zweier Individuen in der Eins-zu-eins-Betreuung besteht. Jeder Faden beziehungsweise jeder Aspekt für sich betrachtet, scheint eher trivial und unbedeutend und wäre nicht in der Lage das Ganze zu beschreiben. Erst in der Verflechtung wird die Bedeutung sichtbar, die jede Faser für das Gewebe hat. Das scheint auch die Dimension innerhalb des Berufsbildes der Hebamme widerzuspiegeln, die sich durch eine rein mechanistische Auffassung nicht erklären lässt, sondern von einem leiblichen und emotionalen Verständnis von Geburt bereichert werden muss. Es wurde deutlich, dass die praktische Anwendung der von den Frauen hervorgehobenen Betreuungsqualitäten der Hebamme bestimmte Grundvoraussetzungen benötigt.

Die herausgearbeiteten Eigenschaften und Handlungsweisen der Hebamme in einer Eins-zu-eins-Betreuung können wegweisend für eine erweiterte Definition der Geburtsbegleitung sein, in der die Wünsche der Frauen in den Vordergrund gestellt und angemessen integriert werden. Dabei sind sie jedoch meiner Meinung nach nicht standardisierbar. Sie beschreiben eine jeweils einzigartige Form der Beziehung zwischen Frau und Hebamme im Geburtsgeschehen, welche nicht normiert werden kann. Das entspricht der These von Dörpinghaus, die konstatiert, dass die Beziehungsarbeit unter der Geburt davon gekennzeichnet ist, dass es keine eindeutig in Worte fassbare Standards für das Handeln der Hebamme gäbe: »Das hebammenkundliche Können erweist sich in der Begleitung als zu kontextintensiv, einzelfallbezogen und leiborientiert, als dass seine Flexibilität sich in Algorithmen fassen ließe« (Dörpinghaus 2016). Es muss laut Dörpinghaus anerkannt werden, dass sich unter der Geburt nicht alles vermessen lässt. Mit einer Standardisierung geht der Verlust von Erkenntnis einher und ein großer Teil dessen, was die Beziehung zwischen Hebamme und Gebärender ausmacht, wird nicht anerkannt (ebd.).

Für eine inhaltliche Ausgestaltung der Eins-zu-eins-Betreuung gilt es deshalb, die hebammenspezifischen Merkmale dieser besonderen Beziehungsarbeit in den Fokus zu rücken. Die Wirkung der empathischen Anwesenheit, die leibliche Kommunikation und ein fortwährendes Bestärken sind aus einer rein naturwissenschaftlich-technischen Perspektive nicht zu erklären. Die Hebammenwissenschaft sollte das Selbstbewusstsein entwickeln, ihr originäres Wissen und Können begründet in ihr Berufsverständnis einzufügen.

 

Bedeutsamkeit der Eins-zu-eins-Betreuung: Acht Aspekte

 

  1. Das Da-Sein steht für die verlässliche und fortwährende Präsenz der Hebamme und ist Grundlage der Eins-zu-eins-Betreuung.
  2. Geduldig sein, Zeit haben und Ruhe ausstrahlen beschreiben eine zeitliche Dimension des Da-Seins der Hebamme verbunden mit einer charakteristischen Art und Weise der Beruhigung, die dazu führt, dass die Gebärenden sich fallen lassen können.
  3. Zuspruch und Bestärkung durch ihre Hebamme helfen den Frauen durch schwierige Phasen des Gebärens und führen dazu, dass sie ermächtigt werden, die Geburt aus eigener Kraft zu schaffen.
  4. Zurückhaltung in der Begleitung fördert die Selbstbestimmtheit der Frauen.
  5. Vertrauen kennzeichnet die Beziehung zu der betreuenden Hebamme und ist wichtig für das Sicherheitsgefühl der Frauen.
  6. Wissen, Erfahrung und Professionalität unterstützen die Vertrauensbildung.
  7. Das Sicherheitsbedürfnis der einzelnen Gebärenden ist sehr unterschiedlich und die Herstellung seiner Rahmenbedingungen durch die Hebamme essenziell.
  8. Nicht zuletzt ist die mitfühlende und unterstützende Art und Weise von Hilfestellungen und anderen lindernden Angeboten durch die Hebamme für die Frauen sehr bedeutsam für den Geburtsprozess.

 

Aufmerksame Gegenwärtigkeit als Kernkompetenz

 

Auf dem Hintergrund des gegenwärtigen geburtsmedizinischen Systems ist die Beziehung in einer Eins-zu-eins-Betreuung stark vom Selbstbild der Hebamme, ihren Überzeugungen und auch Erfahrungen geprägt. Ob eine Frau in der Geburt motiviert und ermächtigt wird, diesen Prozess so weit wie möglich aus eigener Kraft zu bewältigen, hängt nicht zuletzt von dem Verständnis der Hebamme ab, das Gebären als hauptsächlich mechanischen Vorgang oder eben als im Sinne eines Übergangsritus bedeutsamen Erlebens zu verstehen. Hier wird das Selbstverständnis des Berufsstandes der Hebamme in seiner ganzen Tragweite berührt. Wollen Hebammen Gehilfinnen eines geburtsmedizinischen Systems sein, das von Ökonomisierung und Risikoabsicherung geprägt ist oder sehen sie sich als Unterstützerinnen von Frauen in einer sensiblen Lebensphase mit dem Ziel, das Potenzial von Gesundheit zu stärken? Wenn eine Eins-zu-eins-Betreuung für alle Frauen angeboten werden soll, sind Hebammen gefordert, sich das Herzstück ihres Berufs zurückzuerobern und die aufmerksame Gegenwärtigkeit als Kernkompetenz anerkennen zu lassen.

Doch wie erlangt eine Hebamme die Gewissheit, dass die Geburt gut gehen wird, wenn diese vom gegenwärtigen geburtsmedizinischen System immer wieder in Frage gestellt wird? Was die befragten Frauen sich von einer Eins-zu-eins-Betreuung wünschen, scheint am äußersten Gegenpol dessen zu liegen, was im Sinne von Risikominimierung und Absicherung derzeit in vielen Geburtssituationen praktiziert wird.

Die seit Jahren gestiegene Kaiserschnittrate ist ein Ausdruck dieses Vorgehens, in die Geburt einzugreifen. In einer gesellschaftlichen Realität, die den Kaiserschnitt normal erscheinen lässt und den Frauen damit indirekt vermittelt, dass ein Drittel von ihnen nicht vaginal gebären konnte, kann sich die Gewissheit von der Geburt als physiologischem Prozess schwerlich etablieren. Das betrifft Hebammen und Frauen. Es scheint, als ob wir immer noch weit von der Überzeugung entfernt sind, dass eine Frau die Kompetenz hat zu gebären und dass ihr Körper dabei in Übereinstimmung mit ihren Gefühlen aktiv handelt. Solange dieses Vertrauen in die einzigartige Normalität der Geburt nicht gesellschaftlicher Konsens ist, wird die Gewissheit von Hebammen und Frauen einen schweren Stand haben.

 

Meisterhaft inaktiv sein

 

Geduld ausstrahlen und Beruhigung vermitteln kann nur eine Hebamme, die meisterhaft inaktiv sein kann, ihre Wahrnehmung geschult hat und über Instrumente verfügt, schwierige Situationen zu meistern. Diese Fähigkeiten können nur in der Begleitung von abwartender und nicht­invasiver Geburtshilfe erlernt werden.

Werden die Zahlen einer Kaiserschnittrate von rund 30 % zugrunde gelegt, die Einschränkung autonomen Handelns von angestellten Hebammen und die überdurchschnittliche Arbeitsbelastung anerkannt, wird deutlich, unter welchen Bedingungen werdende Hebammen heutzutage vorrangig ausgebildet werden und welche Fähigkeiten sie höchstwahrscheinlich nicht adäquat und sachgerecht entwickeln können. Die Sozialisation in der Klinik bestimmt über die Möglichkeit der Hebamme, ihre fachlichen Kompetenzen und die emotionale Beziehungsarbeit zu erlernen. Eine grundlegende Gewissheit und das Vertrauen in eine normale Geburt können sich im klinischen Rahmen nur schwer entwickeln und sind doch durch ihre unbewusste körperliche Übertragung wichtig für ein physiologisches Gebären. Ohne radikale Veränderungen der Arbeitssituation an den Ausbildungsorten werden die für eine Eins-zu-eins-Betreuung notwendigen Fertigkeiten nicht erlernt werden können und die Identität der Hebamme als selbstständige Expertin kann sich nicht entfalten (Kraienhemke 2020b).

Die Empfehlung zu einer Eins-zu-Eins-Betreuung durch eine Hebamme in der kürzlich veröffentlichten Leitlinie ist ein großer Schritt in Richtung einer neuen Geburtskultur. Die Fürsorge rückt wieder in den Vordergrund und kann damit die Physiologie der Geburt stärken. Ihre Ausübung ist aber fast unsichtbar und schwer messbar. Um diesen wesentlichen Aspekt von frauenzentrierter Hebammenarbeit sichtbar zu machen, wird der Begriff »watchful attendance« vorgeschlagen (De Jonge et al. 2021). Diese aufmerksame Gegenwärtigkeit beschreibt eine Kombination aus kontinuierlicher Unterstützung, klinischer Einschätzung und Reaktionsvermögen und soll helfen, die kaum ersichtlichen Elemente der Hebammenbetreuung zu definieren und wissenschaftlich zu begründen (ebd.).

Mir ist durchaus bewusst, dass der derzeitige Hebammenmangel, starre Arbeitszeitmodelle und die interventionsreiche Ausprägung unseres geburtsmedizinischen Systems die Umsetzung einer frauenzentrierten Eins-zu-eins-Betreuung nicht erleichtern. Die in der Arbeit herausgearbeiteten inhaltlichen Aspekte sind kein starres Regelwerk. Um den Gebärenden eine bestärkende Lebenserfahrung zu ermöglichen, können Hebammen immer wieder gezielt den Faden aufnehmen und ihn in ein einzigartiges Betreuungsgewebe einflechten.

Rubrik: Geburt | DHZ 08/2021

Literatur

Dahlen H: Foreword. In: Leap N, Hunter B (Hrsg.): Supporting women for labour and birth. A thoughtful guide. xii-xiii. Routledge. London & New York 2016

Deutscher Hebammenverband: Eine Ethik für Hebammen 2017. www.hebammenverband.de/index.php?eID=tx_securedownloads&p=5285&u=0&g=0&t= 1604868418&hash=a62b8d08034228b946ffdeee4c1f5106eccd7316&file=/fileadmin/user_upload/pdf/Verband/180108_DHV_Eine_Ethik_fuer_Hebammen_ web.pdf [letzter Zugriff: 9.8.2020]

Dixon L, Skinner J, Foureur M: The emotional and hormonal pathways of labour and birth: integrating mind, body and behaviour. In: New Zealand College of Midwives Journal 2013. 48, 15–23
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