Was Schreien ausdrücken kann

Früher vermutete man eine Kolik, wenn ein schreiender Säugling nicht zu beruhigen war. Aber körperliche Ursachen sind eher selten, der harte Bauch ist meist ein Symptom der inneren Unruhe. Auslöser können Stress und Angst sein, die sich auch von den Eltern aufs Kind übertragen. Daraus kann ein gefährlicher Teufelskreis entstehen, den Hebammen erkennen und durchbrechen sollten. Elien Rouw

Wer kennt diese Situation nicht? Eine Mutter ruft am Abend verzweifelt ihre Hebamme an: Ihr Sohn, fünf Wochen alt, schreit schon seit zwei Stunden und lässt sich einfach nicht beruhigen. Sie hat alles versucht: gestillt, getragen, gewickelt, aber nichts hat geholfen. Und jetzt hat sie Angst, dass irgendetwas nicht stimmt, dass ihr Sohn krank sein könnte. Gleich nach der Geburt lief noch alles so gut, aber seit zwei Wochen wird es immer schlimmer. Meistens ist ihr Sohn tagsüber ruhig, obwohl er auch dann manchmal schreit, aber abends nimmt die Unruhe zu. Erst gegen Mitternacht wird es besser und Mutter und Kind schlafen erschöpft ein. Heute Abend ist es besonders schlimm. Gerade jetzt ist ihr Partner unterwegs, und sie weiß sich einfach nicht mehr zu helfen.

Eine derartige Unruhe beim jungen Säugling wurde lange als »Kolik« definiert. Sie wird als exzessives Weinen eines ansonsten gesunden und gedeihenden Säuglings beschrieben. Meistens beginnt dieses Weinen in den ersten Lebenswochen und endet oft nach rund vier bis fünf Monaten. Der amerikanische Kinderarzt Morris A. Wessel beschrieb dieses Phänomen bereits im Jahr 1954 als sogenannte »Dreierregel«: exzessives Schreien für mindestens drei Stunden pro Tag an mindestens drei Tagen pro Woche, mindestens drei Wochen nacheinander (Wessel et al. 1954).

Allerdings ist hier nicht die Rede von einem klar abgegrenzten Krankheitsbild. Es gibt noch viele weitere Definitionen dieses Phänomens und auch die Inzidenz wird in verschiedenen Studien und Ländern sehr unterschiedlich angegeben. In einem Übersichtsartikel berichten der niederländische Wissenschaftler Peter Lucassen und seine Kolleg:innen im Jahr 2001 nach Durchsicht von vielen prospektiven und retrospektiven Studien von sehr großen Unterschieden in der Definition (Lucassen et al. 2001). Die Inzidenz variierte von 5 % bis 40 %. Natürlich hängt das auch von der gewählten Definition ab. Der Leidensdruck der betroffenen Eltern ist jedoch oft sehr hoch, führt zu Überforderung und im Extremfall sogar zu Kindesmisshandlung.

 

Definitionen und Symptome

 

Zuerst wurden oft Bauchschmerzen als Ursache vom Schreien definiert. Der harte Bauch, die regelmäßig auftretenden Blähungen gaben Anlass zu dieser Vermutung, so dass diese Unruhe als »Koliken« beschrieben wurde. Allerdings wurde bereits 1991 erwähnt, dass hier wohl in den seltensten Fällen ein Darmproblem vorliege (Miller & Barr 1991). Wahrscheinlich ist der geblähte Bauch des Säuglings eher Folge als Ursache des Weinens. Ein kleiner Ausflug in PubMed und Google Scholar bringt bei den Begriffen »unruhige Säuglinge«, »Koliken«, »Schreibabys« oder auch »Crying« viele Hunderte von Forschungsergebnissen. Sie zeigen, dass die Ursachen nicht klar sind und dass die Bandbreite von angebotenen Therapien sehr groß ist.

Wieso gibt es diese Vielzahl an Ursachen und Therapien? Das wird klar, wenn man bedenkt, dass Weinen gerade für jüngere Säuglinge eine der wenigen zur Verfügung stehenden Wege der Kommunikation ist (Kempter 2018). Hunger, Durst, Einsamkeit, Schmerz, Angst, Frustration, Panik: Das alles wird mit Schreien angedeutet und ist nur im Kontext der Situation des Kindes zu begreifen. Alle diese Ursachen können die Symptome von kindlichen Stresszeichen hervorrufen. Und nichts bringt Eltern so aus der Fassung wie das Weinen ihres Kindes, denn damit werden auch bei ihnen Ängste und Unsicherheit geweckt. Das wiederum hat seine Auswirkungen auf das Kind und verstärkt dessen Stresssymptome. Es gibt viele Möglichkeiten, den Stress zu reduzieren, sowohl beim Kind als auch bei den Eltern, und deshalb gibt es so viele Therapie-Ansätze.

Was hilft einer Hebamme dabei, adäquat zu reagieren, Ursachen möglichst schnell zu erforschen, das System von Eltern und Säugling zu stabilisieren und letztlich das Problem zu beheben? Das kann mitunter sehr schnell gehen, zum Beispiel wenn eine Erkrankung wie Otitis Media behandelt wird. Das kann aber auch länger dauern, vor allem wenn bei den Eltern die eigenen Ängste und Traumata das Verhalten beim Weinen prägen. Das kann sogar teilweise unmöglich sein, wenn die Ursache in der grundsätzlichen Veranlagung des Kindes liegt, zum Beispiel bei Hypersensitivität oder erhöhter Reizbarkeit. In dem Fall kann die Unterstützung auch dahingehen, dass die Betreuer:innen des Kindes lernen, mit dieser Situation umzugehen und sich selbst Unterstützung oder auch Pause in dieser schwierigen Situation verschaffen.

 

Ursachen beim Kind

 

Generell sind »Koliken« wohl eine Extremform des normalen Verhaltens eines jeden Säuglings. Eine Literaturanalyse zeigt, dass Weinen in den ersten sechs Wochen bei Säuglingen in vielen Länder zu beobachten war und danach generell abnahm (Wolke et al. 2017). Hier waren allerdings große Unterschiede in der Inzidenz in verschiedenen Populationen festzustellen. Die Säuglinge in Dänemark und Japan weinten deutlich weniger als die Säuglinge in Großbritannien (Wolke et al. 2017). Hier zeigt sich, dass eine gewisse kulturelle Komponente bei diesen Symptomen zu erkennen ist.

Natürlich werden erstmal physiologische Ursachen beim Kind ausgeschlossen: Hat es Hunger (siehe Seite 38ff.)? Ist es übermüdet? Hat es Schmerzen? Oder möchte es einfach ausscheiden und fühlt sich nicht wohl in der Windel? Das wären einige einfache Ursachen, die immer erfragt werden sollten. Gerade die Verbindung mit Ausscheidungen ist vielen Eltern unbekannt und es kann eine sehr einfache Methode sein, das Kind zu beruhigen, indem einfach die Windeln ausgezogen werden (Jordan et al. 2020). Eine falsche Stillhandhabung kann ebenfalls zu Unruhe beim Kind führen. Hier kann eine andere Stillposition hilfreich sein, zum Beispiel eine zurückgelehnte Haltung der Mutter, oder eine andere Stillhandhabung, wie das mehrmals an einer Seite anlegen.

Wenn ein Säugling nicht zu beruhigen ist, sollten auch medizinische Ursachen ausgeschlossen werden (siehe Seite 32ff.). Wenn ein zuvor sehr ruhiges und ausgeglichenes Baby plötzlich nicht mehr zu beruhigen ist, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass eine medizinische Ursache gefunden wird. Bekannte Befunde sind in so einem Fall eine akute Otitis Media oder andere Infekte, Reflux – obwohl es Hinweise gibt, dass diese Diagnose zu leichtfertig gestellt wird (Dahlen 2018), eine Invagination der Därme, dramatische Ursachen wie eine Hirnhautentzündung oder auch ganz kleine Ursachen mit großen Folgen, wie ein Faden, der einen Zeh abschnürt. Das Kind sollte komplett ausgezogen und gründlich untersucht werden. Eine allergische Reaktion auf Kuhmilcheiweiß – wenn die Kinder nicht gestillt werden oder wenn die Mutter Kuhmilch zu sich nimmt – wurde früher oft vermutet, ist jedoch nur in Ausnahmefällen die wirkliche Ursache (Munblit et al. 2020).

Wenn physiologische und medizinische Ursachen ausgeschlossen sind – und meistens wird hier nicht die Ursache des Weinens gefunden –, sollte den Eltern (erneut) klar gemacht werden, dass ihr Baby nach der Geburt viele Bedürfnisse mitbringt, die im Mutterleib automatisch gedeckt wurden und jetzt anders befriedigt werden müssen. Das Bedürfnis des Säuglings nach Nähe und Wärme, nach Tragen und Schutz gegen Reize im Alltag, all das muss jetzt durch Betreuer:innen befriedigt werden, denn der Säugling kann sich noch nicht selbst versorgen.

In den ersten Lebenswochen und -monaten müssen Neugeborene erstmal erfahren, dass Hilfe kommt, wenn sie diese brauchen. Je schneller die Kinder lernen, dass ihre Bedürfnisse ernst genommen werden, desto weniger weinen sie, wie die Untersuchung des Londoner Professors für Psychologie Ian St. James-Roberts zeigt (St. James-Roberts et al. 2006). Allerdings gab es in allen untersuchten Gruppen von Babys auch solche Kinder, die nicht zu beruhigen waren, unabhängig von den elterlichen Reaktionen. Hier liegt wohl ein anderer Mechanismus des Schreiens vor, der eher auf bestimmte Eigenschaften oder individuelle Verarbeitungsmuster von Reizen zurückgeht. Es kann einen Hinweis auf Autismus, Hypersensitivität, ADHS oder andere spezifische Empfindlichkeiten der Wahrnehmung des Kindes sein (Gurevitz et al. 2012). Hier spielen die elterlichen Reaktionen eine deutlich weniger wahrnehmbare Rolle.

 

Familiäre Faktoren

 

Nicht nur körperliche Ursachen des Neugeborenen oder die Befriedigung seiner Bedürfnisse spielen eine Rolle, sondern auch seine Emotionen. Denn ein Neugeborenes weiß nicht, wie es die Außenwelt und sich selbst einschätzen soll und ist dafür von seiner direkten Umgebung abhängig. Der junge Säugling kann seine Emotionen noch nicht selbst steuern, ob es nun Schmerz, Hunger, Angst oder Frustration ist, sondern er wird durch die nächsten Erwachsenen in seinen Affekten reguliert (Schore 2001).

Das Baby ist am Anfang seines Lebens darauf angewiesen, dass ein Gegenüber, ein Erwachsener, die Ursachen oder den Auslöser von Störungen behebt und das Gleichgewicht wieder zurückbringt. Aber für die Familie und das Umfeld ist diese Ursachenforschung oft anstrengend, vor allem, wenn nur eine Person dafür verantwortlich ist, meistens die Mutter. Wenn die Mutter emotional stabil ist und sich selbst regulieren kann, schafft sie das gut. Sie behebt Ursachen von Unwohlsein und zeigt, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt. Das Baby weiß dann, dass die Welt wieder in Ordnung ist. Das Selbstvertrauen der Mutter ist deshalb ein Schutzfaktor gegen lang anhaltendes Schreien des Kindes (Smidjell 2018). Auch Geschwister wirken manchmal beruhigend, auch wenn wir das nicht von den älteren Kindern erwarten dürfen. Dabei hilft es den Erwachsenen, wenn sich nicht alles um das Baby dreht, sondern nebenbei auch andere Aufgaben erledigt werden müssen. So schaukeln sich die Emotionen weniger hoch.

Oft übertragen sich aber Überforderung und Erschöpfung, Traumata und Spannungen der Eltern auf das Baby, das dann seine eigenen Spannungen durch Weinen äußert. Hier können auch negative Erfahrungen in der Schwangerschaft und bei der Geburt für die Mutter eine Rolle spielen. Andererseits kann ein unruhiges Kind bei der Mutter oder auch beim Vater Gefühle der Hilflosigkeit und Trauer auslösen. Und auch dadurch können sie manchmal nicht in der Lage sein, adäquat auf ihr Baby zu reagieren (Baldassarre et al. 2021). Hinzu kommt, dass viele Eltern bei ihrem ersten Kind nicht wissen, wie das Verhalten von Säuglingen ist oder welche Bedürfnisse sie haben. Sie fühlen sich allein gelassen, wenn das Baby anders reagiert, als sie erwarten. Das kann ein Gefühl von Hilflosigkeit verstärken, vor allem wenn sie sich selbst »schuldig« oder als »schlechte Eltern« fühlen.

 

Gesellschaftliche Einflüsse

 

Auch gesellschaftliche Faktoren spielen möglicherweise eine Rolle, dass viele Säuglinge so unruhig sind. Es gibt viele Reize, die eine Überforderung für das Baby sein können und dadurch auch eine Belastung für die Eltern. Problematisch ist, dass die Eltern und vor allem die Mütter oft isoliert sind. Denn auch sie brauchen Unterstützung, auch sie sollten »reguliert« werden. Wenn der Kreis der Betreuer:innen des Kindes groß genug ist, können viele diese Aufgabe der Beruhigung und Entlastung der Eltern übernehmen.

Leider ist vielen Eltern die »Dorfstruktur« abhandengekommen. Sie sind auf sich gestellt, in der Kleinfamilie isoliert und haben oft selbst keine Kraft, ihren Säugling zu beruhigen. Die Reizüberflutung und Hektik der Gesellschaft trägt dann noch zusätzlich zur Unruhe bei Eltern und Kind bei.

 

Der Umgang mit dem unruhigen Kind

 

Klar ist, dass Unruhe beim Kind multifaktoriell ist. Viele Ursachen oder auslösende Faktoren können eine Rolle spielen und das macht es unmöglich, die Therapie für dieses Problem zu benennen. Ein Review hat ergeben, dass möglicherweise Probiotika bei gestillten Kindern zur Reduzierung des Weinens beitragen können (Ellwood 2020). Auch manuelle Therapie hat einen leicht positiven Effekt. Und generell sind Information für die Eltern vor der Geburt wie auch Unterstützung und Begleitung nach der Geburt hilfreich (Ellwood 2020).

Ansonsten gibt es eine Reihe von möglichen Ansätzen, je nach vermuteter Ursache. Generell gilt: Je schneller auf Schreien reagiert wird, desto geringer das Risiko, dass die Unruhe chronisch wird. Auch regelmäßiger Körperkontakt und Tragen durch den Tag trägt zur Vermeidung von sehr langem Weinen bei (Douglas 2011).

Hebammen können die Familien unterstützen, auch emotionell. Sie können die Still- oder Füttergewohnheiten und Beruhigungsmethoden besprechen, aber auch gemeinsam schauen, wie die Eltern selbst Unterstützung bekommen und entlastet werden können. Hier können auch Schrei-Ambulanzen eine wichtige unterstützende Rolle spielen. Denn je schneller der Teufelskreis von unruhigem Kind, aufgebrachten Eltern und damit einem noch unruhigeren Kind durchbrochen wird, je eher sich die Situation entspannt, desto schneller kann eine belastungsfreiere Beziehung zwischen Eltern und Säugling aufgebaut werden.

Rubrik: 1. Lebensjahr | DHZ 12/2021

Literatur

Baldassarre ME, Antonucci LA, Castoro G, Di Mauro A, Fanelli M, Grosso FM, Cassibba R, Laforgia N: Maternal Psychological Factors and Onset of Functional Gastrointestinal Disorders in Offspring: a Prospective Study. J Pediatr Gastroent Nutr 2021. 73(1):30–36. doi: 10.1097/MPG.0000000000003107

Dahlen HG, Foster JP, Psaila K, Spence K, Badawi N, Fowler C, Schmied V, Thornton C: Gastro-oesophageal reflux: a mixed methods study of infants admitted to hospital in the first 12 months following birth in NSW (2000–2011). BMC Pediatrics 2018. 18:30. DOI 10.1186/s12887–018–0999–9

Douglas P, Hill P: Managing infants who cry excessively in the first few months of life. BMJ 2011. 343:d7772 doi: 10.1136/bmj.d7772
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