Wenn das zweite Kind kommt

Aus einem eingespielten Dreierteam wird ein Viererteam – aber obwohl vieles über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett schon bekannt ist, stellen sich den Eltern viele neue Fragen. Wie kann man ihnen die Vorbereitung und die erste Zeit zu viert erleichtern? Nathalie Klüver
  • Je geringer der Altersabstand ist, umso größer ist die Rivalität unter Geschwistern.

Egal, wie groß der Altersunterschied zwischen den Kindern ist, die Entscheidung für ein zweites Kind stellt das bisherige Familienleben auf den Kopf. Mutter, Vater und zwei Kinder, das vierblättrige Kleeblatt, das nur Glück bringen kann: So ist das Bild, das die Werbung und die sozialen Medien transportieren. Doch das Leben mit Kindern ist eben nicht immer die pastellfarbene Wolke sieben, sondern auch stressig und anstrengend. Ja, mit zwei Kindern auch noch mal stressiger und anstrengender als mit einem Kind. Ein zweites Kind ist auch immer eine Belastungsprobe für die Beziehung, für das Familiengefüge. Es hilft Eltern, schon im Vorfeld ein realistisches Bild vom Leben zu viert zu haben.

 

Eine große Veränderung

 

Ich erinnere mich noch gut an die Geburtsvorbereitung für Mehrgebärende, in der die Hebamme zu uns sagte: »Es wird der Tag kommen, an dem ihr sagt, ich kann nicht mehr. Und es werden viele Tage kommen, an denen ihr mit euren Kräften an den Grenzen seid.« Die Dame übertreibt, dachte ich. Ich habe doch bereits seit zwei Jahren ein Kind, ich weiß doch, wie das mit dem Wickeln, Stillen und der der Beikost läuft, wie man mit Trotzanfällen umgeht und einhändig das Mittagessen zubereitet. »Das zweite Kind läuft doch so mit.« Wie naiv der Gedanke war und wie recht die Hebamme hatte, wurde mir schnell klar, als mein zweiter Sohn auf der Welt war.

Mir hat diese Ehrlichkeit geholfen. Denn auch wenn man das Wickeln im Halbschlaf beherrscht und gelassener mit dem ersten Babyschnupfen umgehen kann: Wenn ein Geschwisterchen auf die Welt kommt, stellen sich ganz andere Fragen. Denn da ist immer das erste Kind, das ebenfalls Aufmerksamkeit braucht, diese auch einfordert. Und auch für dieses erste Kind ändert sich mit der Ankunft des Geschwisterchens das ganze Leben.

Bisher war es nämlich die Nummer eins, das Kind, um das sich das Leben der Eltern drehte. Je geringer der Altersabstand ist, umso mehr kreiste alles um das Erstgeborene herum. Wenn sich diese Welt für das Erstgeborene ändert, spricht man auch von der »Entthronung des Kindes«. Den Begriff prägte der Psychologe Alfred Adler Anfang des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt die Lebensphase, in der sich kleine Kinder mitunter wie verlassen oder sogar verraten fühlen. Die Entthronung erfordert eine Neuordnung der Welt. Wie lange dieses Gefühl andauert und wie stark es ausgeprägt ist, hängt von mehreren Faktoren ab, unter anderem vom Charakter des Kindes, davon, wie sehr das Kind vorher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Eltern stand, von der Vorbereitung durch die Eltern auf das Geschwisterkind, aber auch vom Alter bei der Geburt des Geschwisterkindes.

 

Ein Rivale zieht ein

 

Allgemein lässt sich sagen: Je geringer der Altersabstand ist, umso größer ist die Rivalität. Denn je kleiner Kinder sind,desto mehr benötigen sie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern und umso weniger verstehen sie, was mit der Geburt eines weiteren Kindes geschieht. Entwicklungspsychologisch ist das zweite Lebensjahr die Zeit, in der Kleinkinder lernen, sich von der primären Bezugsperson zu lösen. Sie wollen die Welt erforschen – und suchen doch immer wieder die Nähe und den Schutz der Eltern. Mit diesem Ablösen wächst bei ihnen die Erkenntnis: »Ich kann weggehen, also kann Mama es auch.«

Erst mit drei Jahren sind Kinder in der Regel so weit, sich emotional zu lösen. Dann fällt es auch leichter, mit einem »Rivalen« klarzukommen. Denn das ist es, als was ein Geschwisterkind am Anfang wahrgenommen wird. Als jemand, der den eigenen Platz einnehmen möchte. Egal, wie gut das große Kind vorbereitet wird, eine genaue Vorstellung darüber, wie es ist, wenn ein Baby einzieht, können sich kleine Kinder noch nicht machen.

Hilfreich ist es, dem großen Kind keine falschen Versprechungen zu machen. Viele Eltern neigen dazu, dem Erstgeborenen das Geschwisterchen damit schmackhaft zu machen, dass sie ihm von einem zukünftigen Spielkameraden vorschwärmen. Ist das Baby dann da, ist die Enttäuschung oft groß: »Das kann ja nur schreien und schlafen.« Für ein kleines Kind ist es schwer vorstellbar, dass das kleine Menschlein, das sich noch nicht einmal alleine auf den Bauch drehen kann, einmal mit durch die Wohnung toben wird. Realistische Versprechen helfen, dieser Enttäuschung vorzubeugen. Altersgerechte Kinderbücher oder Besuche bei anderen Babys geben dem Erstgeborenen einen Einblick, wie das so ist mit einem Baby.

Oft zitiert wird der Vergleich mit der Ehefrau, deren Mann eines Tages plötzlich eine Geliebte mit nach Hause bringt und sagt: »Die wohnt jetzt bei uns und schläft bei uns im Bett. Aber keine Sorge, ich habe dich noch genauso lieb wie vorher.« Der Vergleich mag abgegriffen erscheinen, aber er trifft im Kern das, was im großen Kind vorgeht, wenn da auf einmal jemand ist, der ebenfalls Mamas und Papas Aufmerksamkeit verlangt, von ihnen geknuddelt wird und blöderweise ausgerechnet immer dann schreit, wenn man selbst ein Buch vorgelesen bekommen möchte. Im Eifer des Gefechts neigen viele Eltern dann dazu, das große Kind zurechtzuweisen und um Rücksichtnahme zu bitten. Doch genau das ist kontraproduktiv. Wenn das große Kind ständig Sätze hört wie »Nicht so laut, das Baby schläft«, dann werden von Anfang an negative Gefühle geschürt.

 

Sicherheit vermitteln

 

Wie bereiten nun Eltern ihre Kinder am besten auf das Geschwisterkind vor? Und wie können Hebammen sie dabei unterstützen? Zunächst einmal ist es wichtig, das Kind altersgerecht vorzubereiten. Kleinere Kinder können zum Beispiel noch nichts mit konkreten Zeiträumen anfangen wie: »In einem halben Jahr bekommst du einen Bruder.« Hier helfen Zeitangaben wie: »wenn es Sommer wird und draußen richtig warm« oder »nachdem der Weihnachtsmann da war«. Auch sollte der Ankündigung nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden, damit sich nicht das Gefühl auftut: »Wenn die jetzt schon so ein Trara darum machen, wie wird es erst sein, wenn das Baby da ist?« Eltern sollten die Neuigkeit nicht aufdrängen, das Kind nicht mit zu vielen Informationen versorgen, sondern auf Fragen warten. Kommen keine Fragen, ist das auch in Ordnung. Oft muss das Kind die Nachricht erst sacken lassen und verarbeiten.

Je kleiner ein Kind ist, umso weniger kann es begreifen, wie viel sich verändern wird, wenn es ein Geschwisterchen bekommt. Deshalb ist vor allem wichtig, dem Kind die Sicherheit zu vermitteln: »Wir sind für dich da und das wird sich nicht ändern. Wir werden dich weiterhin genauso lieb haben wie jetzt.« Hilfreich ist es, das Kind altersgerecht in die Vorbereitungen mit einzubeziehen. Also beim Windeln kaufen, Kinderwagen abstauben oder auch dabei, die Babykleidung wieder herauszusuchen.

Naht die Geburt des zweiten Kindes, beschäftigen Eltern andere Fragen als bei der ersten Geburt. Die Abläufe kennen sie schon. Stattdessen kreisen die Gedanken darum, wer sich um das ältere Kind kümmert, wenn die Wehen losgehen, wie schnell man ins Krankenhaus kommt, ob man überhaupt Ruhe im Wochenbett haben kann mit zwei Kindern, und natürlich die Frage, wie das große Kind auf das Geschwisterchen reagiert. Je besser es im Vorfeld organisiert ist, wer auf das große Kind aufpasst, wenn die Wehen kommen – egal ob nachts oder tagsüber – , umso gelassener können Mütter an die Geburt herangehen. Dasselbe gilt fürs Wochenbett: Je besser alles dafür vorbereitet ist, umso ruhiger können Mütter der Geburt entgegenblicken.

 

Wochenbett bleibt Wochenbett!

 

Überhaupt: das Wochenbett. Gerade weil sie die Abläufe wie Stillen und Wickeln schon kennen und die zweiten Geburten oft leichter verlaufen als die ersten, neigen viele Mütter dazu, sich zu überschätzen und viel zu früh den Alltag wieder aufzunehmen. Dabei ist es gerade beim zweiten Kind wichtig, nach der Geburt ausreichend Kraft zu tanken für den anstrengenden Alltag, der zweifelsohne auf die Familie wartet. Denn zwei Kinder sind mehr als eins, daran ist nichts zu rütteln, egal wie viel Routine man als Elternteil bereits hat.

Die Mutter zu bremsen, wenn sie sich zu viel zumuten möchte, ist auch eine Aufgabe der Hebamme. Viele Mütter müssen daran erinnert werden, dass es Wochenbett heißt, weil man die Zeit vor allem im Bett verbringen sollte, und dass diese Zeit länger sein sollte als ein oder zwei Wochen. Wie wichtig diese Erholungszeit für die Mutter und für den Start in das Leben zu viert ist, sollte auch dem Partner oder der Partnerin bereits in der Schwangerschaft deutlich gemacht werden. Ideal ist es, wenn er oder sie sich mehrere Wochen Urlaub nimmt oder gleich einen ganzen Monat Elternzeit einlegt. Nicht nur, um der Mutter Arbeit abzunehmen und sich von Anfang an mit dem Baby zu binden, sondern auch um dem großen Kind gerecht zu werden.

Wichtig ist es, in den ersten Wochen viel Zeit zum Kuscheln und viel Nähe für das größere Kind zu reservieren. Auch wenn das Baby gerade jetzt besonders schutzbedürftig erscheint, sollten Eltern nicht vergessen, das große Kind zu stärken und ihm Sicherheit zu geben. Denn das Baby kennt es nicht anders, es wird in diese Situation hineingeboren, das große Kind hingegen steht plötzlich nicht mehr allein im Mittelpunkt. Liebgewonnene Rituale sollten beibehalten werden. Wenn die Mutter sich noch im Wochenbett ausruht, sollte der zweite Elternteil diese Rituale übernehmen. Für das große Kind verändert sich die gesamte Welt. Da hilft es, wenn es sieht, dass es sichere Fixpunkte im Leben gibt, dass sich nicht alles ändert. Mit dieser Sicherheit ist es für das erstgeborene Kind auch einfacher, eine Bindung zu dem Neugeborenen aufzubauen. Wenn sich das große Kind am Anfang überhaupt nicht für das Baby interessieren zu scheint, ist das kein Grund zu Besorgnis, auch dieses Desinteresse ist normal und sollte akzeptiert werden.

 

Dem großen Kind entgegenkommen

 

Genauso wichtig ist es, dass Eltern akzeptieren, wenn das Erstgeborene auf einmal wieder klein sein möchte und regressives Verhalten zeigt. Dies ist kein Grund zur Sorge. Eltern sollten ihrem Erstgeborenen gestatten, auch mal klein zu sein, beim Essen auf dem Schoß zu sitzen, plötzlich wieder getragen zu werden oder sich nicht mehr alleine anziehen zu wollen. Verweigern Eltern die eingeforderte Zuwendung, ist das für das Kind eine weitere Ablehnung. Es hilft, das große Kind in die Alltagstätigkeiten und in die Babypflege einzubeziehen, ihm Aufgaben zu übertragen wie die Aufkleber an den Windeln zu schließen, Feuchttücher zu reichen oder an der Spieluhr zu ziehen. Das große Kind sollte auch in seinem Großsein bestärkt werden, darin, was es schon alles kann, denn das stärkt das Selbstvertrauen.

Eifersucht unter Geschwistern ist normal – als das sollte sie auch kommuniziert und angenommen werden. Eifersucht zu unterdrücken, wirkt kontraproduktiv. Wenn Eltern die Eifersucht des Kindes abtun oder gar bestrafen, können diese unterdrückten Gefühle weiterschwelen und zu Problemen im späteren Leben führen. Wenn ein Kind dem Geschwisterkind etwas wegnimmt oder es aus Eifersucht ärgert, dann möchte es nicht böse sein, sondern das ist einfach ein Signal, das sagt: »Mama, ich habe Angst, dich zu verlieren.« Es hilft kleinen Kindern, wenn Eltern diese Gefühle für sie in Worte übersetzen: »Du denkst, ich habe deinen Bruder lieber als dich, weil ich ihn gerade wickle anstatt mit dir die Eisenbahn aufzubauen?«

Im Wochenbett taucht Eifersucht oft in den Momenten auf, in denen das Baby die Aufmerksamkeit der Mutter einfordert, etwa beim Stillen, was ein intimer Moment ist, den Mutter und Baby miteinander teilen. Hierbei kann aber auch das Erstgeborene einbezogen werden. Es ist kein Problem, gleichzeitig ein Baby zu stillen und einem Kind etwas vorzulesen, es dabei im anderen Arm zu halten oder mit ihm ein Lied zu singen. Bewährt hat sich auch eine Kiste mit Spielsachen, die nur in den Stillzeiten herausgeholt werden, auf die sich das ältere Kind freuen kann.

Rubrik: Wochenbett | DHZ 06/2022

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