Kinästhetischer Händezug

Ziehen – aber richtig!

Der kinästhetische Händezug (kH) hat sich in den vergangenen 15 Jahren als eine Unterstützungsoption vor allem für Geburtspositionen in der aktiven Austrittsphase etabliert. Er ist einigen Kolleginnen auch als Kreuzgriff bekannt. Wie lässt er sich anwenden und was macht ihn in der Geburtsbegleitung so besonders? Andrea Mora
  • Abbildung 1: Hier geht die Kraft der Frau in der Wehe deckenwärts, wenn sie am Tuch zieht.

  • Abbildung 2: Zieht die Frau an einem Tuch aus dieser Richtung, kann sie die Kraft leichter beckenwärts richten.

Eine der wichtigsten Veränderungen, die die Kinästhetik-Begründerin Dr. Lenny Maietta (1950–2018) mit in die Geburtshilfe gebracht hat, war die Idee einer richtungsoptimierten Anpassung der einzelnen Gebärpositionen. Hiermit kann die Kraft der Gebärenden zielgerichteter eingesetzt und somit effektiv genutzt werden (DHV, 2013).

Im vierten Konzept (siehe Tabelle) geht es um Anstrengung als die Kraft, die das Körpergewicht in der Schwerkraft bewegt. Die Eigenschaft dieser Anstrengung erfährt man als Ziehen und Drücken. Unter der Geburt werden Ziehen und Drücken ständig von den Kreißenden benannt: Die Wehen ziehen im Kreuz, es beginnt zu drücken, sie brauchen Hände zum Drücken.

Je klarer das Verständnis für den Effekt ist, den der Zug an einem Körperteil hat, desto effektiver kann man Ziehen und Drücken während der Geburt einsetzen. Eine wichtige Kernaussage aus dem Konzept Anstrengung heißt: Je genauer die Richtung, desto niedriger die erforderliche Anstrengung.

Dies ist ein zentraler Aspekt bei der Unterstützung von Gebärpositionen besonders dann, wenn man in der Übergangs- und Austrittsperiode mit Kraft sehr behutsam und sparsam umgehen muss.

Das Greifbedürfnis von Frauen unter der Geburt ist weitreichend untersucht (Hertel, 2008). Wenn Frauen sich üblicherweise an einem Tuch festhalten, das in den meisten Fällen über den Kreißbetten befestigt ist, geht die Richtung ihrer Anstrengung deckenwärts. Um in Richtung Beckenboden mitschieben zu können ist es – vor allem für die Gebärende, die aktiv an dem Tuch zieht – hilfreicher, wenn sie die Möglichkeit hat, an einem Tuch, das aus der Richtung ihrer Füße kommt, zu ziehen.

Weitere Aspekte des Ziehens sind: Bei Zug läuft die Bewegung zweier Gewichte weg von ihrem Kontaktpunkt. Arme und Brustkorb eignen sich am besten zum Ziehen. Im Beispiel der halbsitzenden Gebärposition bedeutet dies, dass die Frau ihr Gewicht weg von der Hebamme zieht – ähnlich wie beim Tauziehen. Dadurch bringt sie ihr Gewicht auf ihre Rückseite (also die Wirbelsäule, über die das Gewicht gut abgegeben werden kann), so dass die Bauchmuskeln zum Mitschieben frei sind.

Beim Drücken läuft die Bewegung zweier Gewichte hin zu einem Kontaktpunkt. Hier sind Becken und Beine besonders gut geeignet. Die in Abbildung 2 gezeigte Unterstützung der Füße hilft, das nötige Spannungsnetz aufzubauen, um die Richtung des Drucks in Richtung Steißbein beziehungsweise nach unten zu leiten.

 

Was ist Kinaesthetics?

 

MH Kinaesthetics, benannt nach den Begründer:innen Dr. Maietta und Dr. Hatch, ist eine Lehre von der Bewegung. Dabei soll Menschen die Fähigkeit vermittelt werden, die eigene Bewegung (Kinesis) differenziert wahrzunehmen (aesthetics). Gelernt wird dabei, sich in alltäglichen Bewegungen zu beobachten und mithilfe von unterschiedlichen Konzepten jede Bewegung aus unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen, um sie dann analysieren und anpassen zu können. Die sechs Konzepte der Kinästhetik (siehe Tabelle) sind die Basis, Bewegung allgemein und systematisch zu begreifen, um dieses Wissen auf alle denkbaren Situationen übertragen zu können.

 

Tabelle: © Andrea Mora

 

 

Gebärhaltungen sind so individuell wie jede Geburt

 

Es gilt, das intuitive Verhalten der Frau zu unterstützen und gleichzeitig aufmerksam zu beobachten, um – wenn notwendig – therapeutisch eingreifen zu können. Gebärhaltungen können zur Wehensteigerung oder -hemmung eingesetzt werden.

Hier lädt die Kinästhetik ein, sich für die eigenen Vorgaben zu sensibilisieren, die sich im Laufe der Erfahrung etabliert haben. Häufig beinhalten unsere Anleitungen, wie zum Beispiel bei der Geburtsposition Seitenlage, »Halten Sie ihr Bein am Oberschenkel (oder am Schienbein) fest«, eine bestimmte Form der Seitenlage, die eine bestimmte Beckenbewegung impliziert. Diese ist, je nach Bewegungsmuster der Frau und durch Faktoren wie die Knochenlänge von Ober- und Unterschenkel, durchaus unterschiedlich. Wenn wir also bei unserem Bild der Seitenlage solche Bewegungsdetails vorgeben, hält uns dies davon ab, die Vielfalt an Möglichkeiten des Haltens des oberen Beins zu entdecken, und bringt die Frauen weg von ihrem intuitiven Wahrnehmen.

 

Arme überkreuz?

 

Die erste Anwendungsidee des kH war, Frauen daran zu hindern, die Beine zu verschließen, wenn sie bei der Dehnung des Damms durch den vorangehenden Teil des Kindes aus Angst »klemmen«. Hier sollte man zunächst überprüfen:

  • Ob das Aneinanderdrücken der Beine nicht für die notwendige Öffnung des Beckenausgangs sorgt und die Geburt gerade so gut voranschreitet?
  • Ob das Verlangsamen durch die Mutter nicht genau passend für diesen Geburtsverlauf ist?

Wenn das Schließen der Beine auf eine Abwehrreaktion hindeutet, die die Geburt des Kindes erschwert, kann es hilfreich sein, dass die Frau gebeten wird, ihre Unterarme an die Innenseite der Oberschenkel zu halten. Wenn die Hebamme ihr nun die überkreuzten Arme anbietet, entscheidet die Größe des X in den Armen der Hebamme über die Öffnung der Beine der Gebärenden. Wenn die Gebärende in der nächsten Wehe den Impuls des Schließens der Beine verspüren sollte, »blockieren« ihre eigenen Arme die Beinbewegung, was mitunter ein Tiefertreten des Köpfchens begünstigt, weil die Richtung der Kraft sehr genau in Richtung des Beckenausgangs geht. Dies hat sich vor allem bei Geburtsbegleitungen bewährt, bei denen es keine gemeinsame Sprache gibt und so nicht erklärt werden kann, warum das Schließen der Beine gerade geburtshinderlich ist.
Manchmal kommt der Impuls der überkreuzten Arme von der Gebärenden. Wenn sie so nach dem Tuch oder den Händen greift, sollte beobachtet – und eventuell in späteren Forschungsarbeiten untersucht werden –, inwiefern so gegebenenfalls spezielle (besonders trainierte Muskelketten) aktiviert werden, um die Kraft möglichst zielgerichtet einzusetzen.

 

Das Individuelle im Blick

 

Jeder Mensch benutzt – auch für alltägliche Bewegungen wie beispielsweise dem Bewegen eines Besens oder Koffers – entweder eher eine drückende Anstrengung, anderen fällt Ziehen leichter. Diese Bewegungsvorlieben zeigen uns Frauen auch unter der Geburt. Lange Zeit war die Unterstützung von Gebärpositionen eher auf Tücher ausgerichtet, die sich zum Ziehen eignen. Frauen, die eher eine Möglichkeit zum Drücken suchen, sind uns beispielsweise bei Steinschnittlagerungen aufgefallen, weil sie immer den Kopf nach hinten ins Kreißbett drücken möchten.


In allen bekannten Gebärpositionen können Frauen Möglichkeiten angeboten werden, dass sie über Druck ihre Kraft in Richtung Becken einsetzen kann. Hier sind Impulse an den Knien oft hilfreich, um Frauen in die Aktivität zu bringen.

 

Wer braucht welche Unterstützung?

 

Gerät eine Geburt ins Stocken, gilt es individuell zu entscheiden, ob oder welches Eingreifen hilfreich sein kann. Hierbei soll zunächst abgewogen werden, ob es sich um eine konstruktive Pause handelt, bei der Mutter und Kind zum Kraft Tanken kommen.

Sollte das nicht der Fall sein, gilt es zu überlegen, ob die Verzögerung kindliche oder mütterliche Ursachen hat.

Sollte das Kind nur zögerlich tiefer treten, beispielsweise bei einer Einstellungsanomalie, kann es aus dem Blickwinkel der Kinästhetik hilfreich sein, hier die Anstrengung der Mutter – beispielsweise über die zusammengerollte Windel – gezielt in die Führungslinie zu bringen.

Alle anderen Maßnahmen, die einen Einfluss auf die jeweiligen Beckenräume haben, können natürlich ergänzend angewandt werden. Vermutet man Gründe, die die Mutter betreffen, so können folgende Überlegungen hilfreich sein:

  • Bei einer leichten Wehenschwäche kann immer zunächst der kH und/oder ein Angebot zum zielgerichteten Mitdrücken gemacht werden. Bei noch vorhandenem Muttermund kann so der Ferguson-Reflex ausgelöst werden, bei der Beckenpassage kann das spürbare Tiefertreten des kindlichen Köpfchens (oder des Steißes) eine große Motivation für die Frau sein.
  • Kommt es trotz regelmäßiger, kräftiger Wehen nur zu einem zögerlichen Geburtsfortschritt, lohnt es sich auf individuelle Eigenschaften des Beckens zu achten. Vermutlich kann eine lange Symphyse ein Grund sein, warum die Beckenpassage länger dauern darf.

 

Je mehr, desto besser?

 

Unterstützt man die Gebärende mit dem kinästhetischen Händezug oder der Möglichkeit eines richtungsoptimierten Drückens, so bemerkt man oft die enorme Kraft, die Frauen unter der Geburt entwickeln. Das macht eine solche Hilfe häufig sehr anstrengend für die Kolleg:innen. Hier hat es sich bewährt, sensibel zu beobachten, ob sich der Zug oder der Druck in jeder Wehe steigert und steigert und ob das immer so gewünscht ist. Gerade wenn die Hebamme bemerkt, dass der kinästhetische Händezug ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zu einem Geburtsfortschritt führt, hat es sich als hilfreich herausgestellt, ihn weniger intensiv durchzuführen. So kann sie zu Beginn der Wehe den zuletzt hilfreichen (in der Regel hohen Zug/ Druck) anzubieten um dann im Verlauf der Wehe eher von der Quantität zur Qualität zu gehen.

Das kann vergleichbar sein mit dem beruhigenden Wiegen eines Neugeborenen. Führt man schuckelnde Bewegungen aus, so können sie einen sehr beruhigenden Einfluss haben. Wir alle haben allerdings Bilder vor Augen, bei denen Neugeborene, die viel weinen, immer kräftiger geschuckelt werden, so dass diese Bewegungen ihre beruhigende Wirkung vollständig verlieren.

Mit einer reduzierteren Spannung lässt sich mehr mit Nuancen der Richtung spielen, die das Tiefertreten des Kindes unterstützen.

Manche Kollegin, die den kH immer wieder effektiv durchführt, weiß, dass es eine durchaus sehr anstrengende Form der Unterstützung ist, weil man mit einer großen Kraft und mit dem Gewicht der Frau beschäftigt ist.

Bietet man den Frauen die Hände in der ursprünglichen Form an, so entsteht eine enorm große Belastung auf das Daumengrundgelenk. Auch wenn hier die vielschichtigen Bewegungsmöglichkeiten des Handgelenks sehr gut genutzt werden können, um das Kind beim Tiefertreten zu unterstützen, ist die Verletzungsgefahr hoch und der Selbstschutz wichtig. Eine zusammengerollte Windel eignet sich hervorragend, um sie der Frau als Griff anzubieten. Gerade bei schwitzenden Händen oder langen Fingernägeln der Gebärenden ist diese Unterstützung deutlich angenehmer. Außerdem kann die Hebamme so in der Regel mit geraderem Rücken stehen oder knien, da die Windel als eine Verlängerung ihrer Arme betrachtet werden kann.

Sollte die Hebamme dennoch merken, dass die Gebärende mehr Kraft einsetzt als sie selbst entgegensetzen kann hilft ein am Bett befestigtes Tuch oder Stecklaken, um einen Teil der Kraft abzufangen.

 

Resümee

 

Der kH ist eine Möglichkeit, Frauen zu helfen, ihre Kraft zielgerichtet einzusetzen und Kinder beim Tiefertreten durch das Becken zu unterstützen. Dabei ist der alleinige Fokus auf dem Ziehen nur ein kleiner Aspekt der richtungsoptimierten Unterstützung. Kombiniert mit den verschiedenen Facetten des Drückens, ermöglicht er Hebammen ein vielfältiges Repertoire für individuelle Anpassungen der bekannten Geburtspositionen. Genau darin liegt der Schatz der Kinästhetik: Das Bewegungskonzept lädt uns ein, aus verschiedenen Blickwinkeln auf Bewegung zu achten, um intuitiver auf unser Gegenüber eingehen zu können.

Die kinästhetischen Konzepte geben uns die Möglichkeit, unser Tun immer wieder auf unsere Absicht zu hinterfragen, vor allem dann, wenn es sich um automatisierte Routinen handelt. In der Begründungszeit der Kinästhetik arbeiteten Dr. Frank Hatch und Dr. Lenny Maietta eng mit Mosche Feldenkrais zusammen und prägten den Leitgedanken: Nur wenn ich weiß, was ich tue, kann ich tun was ich will (Feldenkrais, 1995).

Rubrik: , Geburt | DHZ 10/2022

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