Fünf Yoga-Übungen für den Alltag

Geerdet zur eigenen Mitte

Diese fünf Yoga-Übungen können helfen, Veränderungen rund um die Geburt ihres Kindes anzunehmen. Auch Hebammen können üben, im Alltag für einige Momente innezuhalten. Wer Yoga selbst praktiziert, kann es auch leichter weitergeben. Katharina Middendorf, Annett Schpeniuk
  • Yoga erdet. Es ändert lang­fristig eingefahrene Gedanken­muster und Handlungen.

Es ist hoher Wellengang und jede Bewegung fordert heraus, nicht umzufallen. Ungefähr so können sich Veränderungen wie Schwangerschaft, Geburt und Babyzeit anfühlen. Yoga als Mind-Body-Methode kann helfen, das mentale, seelische und körperliche Gleichgewicht immer wiederzufinden.

 

Aus der Stressfalle

 

Obwohl der Mensch über Jahrtausende hinweg bewiesen hat, dass er mit Veränderungen umgehen und sich anpassen kann, ist es uns immer erstmal ein natürlicher Graus, wenn etwas anders ist oder anders werden muss, als wir es kennen und gewohnt sind. Veränderungen bedeuten nicht nur für den Körper, sondern auch für die Psyche eine Stresssituation. Viele Fragen fordern Gebärende und Eltern heraus, die insgeheim denken: »Wie soll das nur gut gehen?« Ebenso sorgen die eigenen hohen Ansprüche oder medialen Bilder von strahlenden Schwangeren und Paaren für Stress.

Die meisten Menschen erleben Stress als eine chronische Überforderung, als ein gefürchtetes Scheitern an Vorstellungen. Körperliche Empfindungen und Gedanken knallen im limbischen System aneinander wie Wellen in der Brandung. Das lässt wenig Möglichkeiten. Einige versuchen davonzulaufen, aber wohin auf weiter See? Andere versuchen dem Seegang etwas entgegenzusetzen, aber was? Und manche hocken sich auf den Boden des Schiffes, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und warten, bis der Sturm vorüber ist.

Alles drei sind keine Szenarien, die langlebig sind oder nachhaltig helfen, sich wieder sicher zu fühlen. Yoga als Mind-Body-Technik kann andere Wege aus der Stressfalle zeigen.

 

Was Yoga bewirken kann

 

Als erstes kann der Atem helfen – den haben immer alle dabei, selbst wenn das Baby auf dem Arm weint. Im Alltag läuft der Atem oft unbeachtet flach und schnell im Hintergrund einfach mit. Indem wir die Aufmerksamkeit auf den Atem richten, entspannt sich nicht nur der Körper, sondern auch der Geist. Die innere Aufruhr darf sich legen.

Im Yoga verbinden wir den Atem mit der Bewegung. Der Atem initiiert die Bewegung und der Körper folgt. Meist vertieft und verlangsamt sich der Atem dadurch auf natürliche Weise. Gleichzeitig kommt der ganze Organismus in Bewegung. Durch den erhöhten Blutfluss wird der Stoffwechsel angeregt und alle Systeme harmonisieren sich. Besonders die Öffnung der Körpervorderseite hebt die Stimmung in Richtung Zuversicht und Vertrauen. Energie wird zugeführt und nicht, wie oftmals im Sport, durch eine Ermüdung der Muskulatur abgezogen.

Das Hilfreiche beim Yoga ist, dass niemand perfekt sein muss. Vielmehr geht es darum, bei sich zu bleiben und darauf zu achten, dass der Atem die Möglichkeit hat, frei zu fließen. Und so wie der Atem fließt und nicht gleich bleibt, solange wir leben, verändert, wandelt und bewegt sich um uns herum alles. Veränderung ist der Stoff, aus dem unser Leben gewebt ist. Daran kann uns der Atem in jeder Sekunde erinnern.

Warum verunsichern uns Veränderungen so? Nun, wenn sich alles verändert, habe ich nichts mehr, was mir Halt gibt. Yoga hilft im Hier und Jetzt zu landen, hilft – in unterschiedlichen Körperpositionen – die Perspektive zu wechseln und weniger zu bewerten. So können wir uns dem Leben in der Deutlichkeit des ständigen Wandels leichter überlassen, neugierig und gespannt den Überraschungen entgegensehen. Wenn die großen Turbulenzen auf uns zukommen und wir befürchten, nicht durchzuhalten, dann kann Yoga Kraft, Stärke und einen langen Atem schenken, um gut durchzuhalten.

Besonders Menschen in helfenden Berufen kennen das. Vieles nimmt man mit nach Hause und manches, was bei der Arbeit auftaucht, wirft auch die stärkste und bestgeschulteste Person (fast) um. Somit möchten wir auch Hebammen ermuntern, diese Übungen einmal auszuprobieren.

Postpartale Depression

 

Wenn Yoga nicht ausreicht …

 

Bei einer handfesten Wochenbett-Depression (postpartale Depression) reicht kein Yoga. Zunächst kann es helfen, über diesen Selbsttest in Erfahrung zu bringen, ob eine postpartale Depression vorliegt: > https://schatten-und-licht.de/selbsttest/

Ist dies der Fall, dann finden Betroffene auf der gleichen Web­seite konkrete Hilfsangebote.

 

Übung 1: Boden unter den Füßen spüren

 

»Es fühlt sich an, als wäre ich ein Berg. Die Übung macht mir deutlich, dass ich Boden unter den Füßen habe. Auch wenn ich es gedanklich nicht sehe, so spüre ich Sicherheit. Und das ist oft schon ganz viel.«

Die Berghaltung (Tadasana) = aufrechtes Stehen

Diese Übung ist barfuß besonders effektiv. Die Füße stehen ungefähr im hüftweiten Abstand parallel zueinander. Das Gewicht wird gleichmäßig auf den Großzehenballen, den Kleinzehenballen und die Außenkanten der Fersen verteilt, so dass sich das Fußgewölbe in einem C-Bogen leicht hebt. Die anderen Zehen liegen locker auf. Die Beine sind gestreckt oder leicht gebeugt, die Kniescheiben zeigen nach vorne. Mit der Aufrichtung des Beckens tonisiert sich von allein die untere Bauchmuskulatur. Das Brustbein wird etwas nach vorne oben gehoben. Wenn das Kinn ungefähr parallel zum Boden ausgerichtet wird, verlängert sich der Nacken optimal. Die Schultern entspannen sich in Richtung Boden, die Arme und Finger sind mühelos gestreckt; fünf Atemzüge in der Haltung verweilen.

An weniger guten Tagen kann diese Haltung im Liegen ausgeführt werden. Die Füße liegen, wie beschrieben, aktiviert entweder an der Wand oder einem Klotz an.

An besonders guten Tagen können die Arme über die Seiten nach oben bewegt werden, so dass sich die Handflächen über dem Kopf berühren.

Wirkungen

  • körperlich: Kräftigung des ganzen Körpers, die allgemeine Körperhaltung wird verbessert.
  • seelisch: Führt zu innerer Ruhe und Gelassenheit, Stärkung des Selbstbewusstseins.
  • geistig: Der Geist wird stabilisiert und findet in die Ruhe.

 

Übung 2: Flexibel auf Schwankungen reagieren

 

»Wenn ich die Übung mache, dann fühle ich mich wie der Sturm im Wasserglas. Aber im guten Sinne. Lethargie und Antriebslosigkeit geben sich der Bewegung und dem Atem hin. Ich fühle mich beweglicher, im Körper aber auch im Geist.

 

«Sufi-Kreise (kreisend in die Mitte finden)
Im Schneidersitz (der rechte Unterschenkel liegt vorne) werden die Hände mit den Handflächen auf den Knien oder Oberschenkeln platziert. Das Becken verankert sich aufrecht mit den Sitzbeinhöckern am Boden. Die Wirbelsäule richtet sich mit dem Einatmen auf. Der Kopf thront als höchster Punkt in Verlängerung der Wirbelsäule über ihr. Die Aufmerksamkeit wird zur Mittelachse gelenkt, zur Wirbelsäule. Beim Ausatmen kreist der Oberköper über rechts nach hinten und beim Einatmen über links nach vorne. Die Bewegung wird langsam und gleichmäßig im Rhythmus des Atems ausgeführt. Der Atem führt die Bewegung an. Nach einer Minute wechseln die Unterschenkel ihre Position und die Bewegung läuft anders herum. Die Bewegung endet, indem der Oberkörper sich wieder in der Mitte einpendelt.

Der sich ständig ändernde Druck auf die Sitzbeinhöcker schult den Gleichgewichtssinn. Alle Schwankungen führen zurück zur Mitte.

Die Bewegung kann aus der Hüfte oder aus dem Brustkorb heraus gestartet werden. Der ganze Oberkörper darf sich mitbewegen. Sollte der Schneidersitz keine passende Position sein, kann die Übung auf einem Stuhl praktiziert werden.

Wirkungen

  • körperlich: Mobilisierung der Hüfte und Wirbelsäule, Lösen von Verspannungen in der Schulter, durch das Massieren der Bauchorgane wird die Verdauung angeregt.
  • seelisch: Verbessern der Körperwahrnehmung und des Körperbewusstseins, hilft beim Lösen von den Alltagssorgen.
  • geistig: Das ruhige Kreisen offenbart Momente der Stille, in denen der Geist entspannen kann.

 

Übung 3: Die Mitte als Motor nutzen!

 

»Da Anspannung und Angst bei mir oft ganz spontan auftreten, habe ich mit dieser Übung eine Art Tablette immer in der Hosentasche. Nach wenigen Atemzügen werde ich ruhiger und kann wieder besser denken.«

 

Tiefe Bauchatmung

Atmen kann man in jeder Position. Für diese Übung kann man sich auf einen Stuhl setzen, auf den Rücken legen und die Füße aufstellen oder bequem stehen. Die Hände liegen aufgefächert auf dem Bauch, so dass sich die Mittelfinger knapp auf Bauchnabelhöhe berühren. Die Schultern sind dabei entspannt, die Augen geschlossen und der Atem fließt zunächst in seinem eigenen spontanen Tempo. Der Einatem hebt die Bauchdecke und der Ausatem lässt sie wieder in Richtung Körperzentrum sinken. Anschließend wird etwa vier bis fünf Sekunden ein- und vier bis fünf Sekunden ausgeatmet (zehn Atemzüge wiederholen).

Diese Übung kann man überall und so oft man mag ausführen.

Wirkungen

  • körperlich: Die Durchblutung der inneren Organe wird verbessert, der Stoffwechsel durch den Anstieg von Sauerstoff erhöht, der Blutdruck sinkt.
  • seelisch: Ärger und Stress werden abgebaut.
  • geistig: Wirkt anregend und führt gleichzeitig in die Gelassenheit.

 

 

 

Übung 4: Platz schaffen, wenn es eng wird

 

»Manchmal fühlt es sich an, als würde ich eine zu enge Halskrause oder ein Korsett tragen. Das Gefühl werde ich oft den ganzen Tag nicht los. Wenn ich diese Übung abends mache, dann ist es so, als würde sie diese Begrenzungen ganz sanft aufsprengen.«

Länge und Entspannung im Nackenbereich (Variante Shava Udararkarshanasana)

In der Rückenlage mit aufgestellten Füßen liegen die Arme links und rechts mit etwas Abstand neben dem Oberkörper. Um Länge im Nacken zu erreichen, wird der Kopf etwas angehoben und ein Stück weiter oben zum Mattenrand hin wieder abgelegt.

Mit dem Einatmen wird der rechte Arm senkrecht nach oben gehoben und nach hinten zum Kopf geführt und abgelegt. Gleichzeitig dreht sich der Kopf langsam nach links. Ausatmend werden Kopf und Arm zurück in die Ausgangslage geführt. Diese Bewegung wird acht- bis zehnmal wiederholt und anschließend die Seite gewechselt.

An guten Tagen können die Beine mit in die Übung integriert werden. Sie sinken mit der Ausatmung auf die Seite des sich hebenden Arms. Das schafft mehr Raum in den Körperseiten. Atem und Bewegungen können synchronisiert und gezählt werden.

Wirkungen

  • körperlich: Lösen von stressbedingten Verspannungen und Blockaden im Nackenbereich, Mobilisierung der Halswirbelsäule.
  • seelisch: Stärkung des Körperbewusstseins, das Umherschweifen der Gedanken wird verhindert.
  • geistig: Der Geist entspannt sich.

 

 

Übung 5: Sich in sich selbst verankern

 

»Mit dieser Übung, obwohl ich kein besonders spiritueller Mensch bin, komme ich nach nur wenigen Minuten wieder bei mir selbst an. Ich fühle mich kraftvoller und wieder mehr ›in charge‹«.

»Ich bin« (So-ham-Mantra)

Der Körper befindet sich in einer angenehmen, stabilen, aufrechten Sitzposition (Schneidersitz oder auf einem Stuhl sitzend oder angelehnt an eine Wand). Die Schultern sinken weg von den Ohren und der Bauch ist weich. Die Hände können im Schoß oder auf den Beinen abgelegt werden. Körper und Geist kommen mit der Wahrnehmung des Atems langsam zur Ruhe. Nach einigen Atemzügen werden der Ein- und Ausatem bewusst wahrgenommen. Während des Einatmens erklingt im Geiste die Silbe »so« und im Ausatmen »ham«. Beide Silben entsprechen dem natürlichen Klang der Ein- und Ausatmung. Es ist auch möglich, bei der Einatmung »Ich« und bei der Ausatmung »bin« zu denken. Dauer: ein bis drei Minuten

Zusätzlich können die Zeigefingerkuppen an der Daumenwurzel liegen, der Daumen schmiegt sich um den Zeigefinger, die Handrücken liegen auf den Beinen (Chin Mudra); der Brustraum wird sanft geöffnet, ein Gefühl von Leichtigkeit entsteht.

Wirkungen

  • körperlich: Aufrichtung der Wirbelsäule, bessere Koordination von Körper und Geist, Verbesserung der Blutzirkulation.
  • seelisch: Stärkung des Selbstvertrauens, verhilft zur Klarsicht, tägliche Aufgaben können besser bewältigt werden.
  • geistig: Antriebskraft steigt, Verbesserung der Konzentration.

 

Ohne Anspruch auf Perfektion

 

Alle diese Übungen sind sozusagen für die Hosentasche. Sie sollen weder überfordern noch einen Anspruch auf Ausführungs-Vollständigkeit setzen. Die Übungen sind wie ein Helfer:innenteam, das immer und überall parat stehen kann. Hebammen sollten ihren möglichen Anspruch an Perfektion zur Seite stellen und sich trauen, die Übungen weiterzugeben. Sie können das!

Rubrik: Wochenbett | DHZ 10/2022

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