Flieg los

Gestern ist mein einziger Sohn ausgezogen. Es war ein schöner, friedlicher Übergang. Er wohnt nicht weit weg, aber es war Zeit für ihn, und ich war erleichtert, als es tatsächlich so weit war.

Wenn dein Baby das erste Mal auf deinem Bauch liegt, federleicht, warm, weich und feucht, wirst du in ein neues Leben katapultiert. Bei aller Vorfreude war ich dann doch überrascht, wie verunsichernd das ist, wenn du plötzlich für ein so kleines Wesen verantwortlich bist. Wie sollte ich das schaffen? Was, wenn ich Fehler mache, was, wenn ihm etwas passiert, wenn ich nicht gut genug auf mein Kind aufpassen sollte? Die ersten beiden Tage war ich überwältigt von diesem Gefühl der Überforderung und der Ängste um meinen kleinen Jungen. In der zweiten Nacht nach seiner Geburt träumte ich, dass ich mit meinem Baby auf dem Arm eine sonnige Straße hinunterlief. Es war die kleine Straße in meinem Heimatort, in der mein Großvater gelebt hatte. Er war eine sehr warmherzige, bedachte Persönlichkeit. Jetzt kam er in meinem Traum langsam auf mich zu und schaute mich lächelnd an. Ich hielt ihm meinen Sohn entgegen und sagte: »Das ist Frithjof.« Er nahm ihn vorsichtig auf den Arm. Ich fragte ihn: »Kannst du bitte mit auf ihn aufpassen, bis er groß ist?« Mein Großvater schaute ihn liebevoll an und nickte. Nach diesem Traum waren meine Ängste verschwunden und ich ging sehr zuversichtlich mit dem Kleinen um. Ich würde so gut aufpassen, wie ich konnte, und für den Rest würde mein Großvater oder seine Seele sorgen. Als ich meinen 20-jährigen Sohn gestern in sein neues Zuhause fuhr, der Schrank aufgebaut und der Wagen entladen war, gab ich ihm noch eine kleine Kiste zum Abschied. Darin war auch eine kleine goldene Münze, die mein Großvater einmal mir zur Geburt geschenkt hatte – und ein paar andere Überlebensdinge. Dann fuhr ich fröhlich nach Hause, erleichtert, die Verantwortung für mein erwachsenes Kind offiziell abgeben zu dürfen. Was für eine Erleichterung. Am nächsten Tag aber spürte ich dann doch einen heftigen Abschiedsschmerz, besonders, als ich das Bild von uns beiden an der Wand sah, wo er als Stillkind auf meinem Schoß saß. Wir lachen beide darauf, und ich halte ihn schützend in meinem Arm.

 

Rubrik: Immer in der DHZ | DHZ 11/2022

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