Spüren und loslassen

Eine Physiotherapeutin berichtet von der Beckenbodenarbeit mit Patientinnen, die unter Inkontinenz oder Schmerzen leiden. Nicht selten sind durchtrainierte Sportlerinnen davon betroffen. Manuelle Therapien, Spür- und Atemübungen können helfen. Anneke Kleeberg
  • Manche Frauen, die durch Pilates oder ähnliche Trainingsprogramme einen starken Muskelaufbau haben, müssen erst wieder lernen auch zu entspannen.

Meine Patientin kommt ein wenig verschwitzt zum Behandlungstermin in meine Physiotherapiepraxis mit dem Schwerpunkt Orthopädie und Traumatologie. Da sie als Leistungssportlerin gerade in der Wettkampf-Vorbereitung ist, nutzt sie den Weg gleich für eine kleine Joggingeinheit. Eigentlich hat sie sich den Termin aber geholt, weil sie beim Anlaufen und bei Schnellkraftübungen ein schmerzhaftes Ziehen in der Leiste und im Gesäß hat. Trotz harten Trainings und Dehnübungen wird sie es nicht los. Da ist die Manualtherapeutin gefragt: Ob da wohl wieder mal das Iliosacralgelenk verriegelt ist? Wir widmen uns den Blockaden und haben noch Zeit, um am Muskeltonus der Adduktoren zu arbeiten. Dehnungen, Wärme, Triggerpunkte … Als ich einen der Triggerpunkte am Adduktorenansatz in Beckenbodennähe anhake, zuckt sie zusammen: „Das kann ich nicht aushalten! Das tut ja so weh!" Ich kenne sie schon länger. Wie die meisten LeistungssportlerInnen, ist sie „hart im Nehmen". Vorsichtig taste ich weiter, frage, wann es wo weh tut. „Zwischen den Beinen?" „Ja, fast immer …" Tränen fließen. Ich bin betroffen. Fast immer? Auch beim Sex? „Ja, gerade dann!"

 

„Stiefkind" der Physiotherapie

 

Eigentlich bin ich Kindertherapeutin. Neurologische Bewegungstherapien nach Bobath und Vojta, Entwicklungsdiagnostik, Wahrnehmungsschulung – das war meine Welt. Dann, mit drei eigenen Kindern und auf der Suche nach einer Teilzeitbeschäftigung, stolperte ich eher zufällig in das Thema Beckenboden hinein. Neben Rücken-Kursen an der Volkshochschule ergab sich eine Kooperation mit der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS). Sie gründete Anfang der 1990er Jahre eine Gruppe für Frauen, die mit verschiedensten Formen der Inkontinenz zu tun hatten. Eine Übungsleiterin für „Beckenbodentraining" war gefragt. Dass beim Training für viele Teilnehmerinnen das Loslassen fast wichtiger war als das Anspannen, erfasste ich schnell. Ganz gleich, ob rauf oder runter mit der Spannung: Vor allem das Gefühl dafür muss vermittelt werden. Üben kann dann jede, was ihr fehlt. Deshalb war es gut, dass die Teilnehmerinnen unterschiedliche Probleme hatten, auch wenn die Inkontinenz allen gemein war.

Als ich später in eigener Praxis mit Schwerpunkt Orthopädie und Traumatologie arbeitete, blieben mir die Inkontinenz-PatientInnen trotzdem erhalten. Für dieses „Stiefkind" der Physiotherapie lassen sich offensichtlich nicht so leicht KollegInnen finden, die sich ohne Scham und mit Begeisterung dieser Problematik annehmen. Heute arbeite ich vorwiegend manualtherapeutisch mit Schwerpunkt auf Wirbelsäulen- und Kopfgelenk-Problematiken sowie Schulter- und Hüftbehandlungen.

 

Top-Performance mit hohem Preis

 

Immer häufiger kommen nun aber junge, knackige, supersportliche Frauen zu mir, die hart für ihr Aussehen, für ihre Kondition oder für Wettkämpfe trainieren. Sie sind bereit, sich an Geräten, in Kursen oder mit Pilates zu schinden, um ihr Ziel zu erreichen. Aber sie haben völlig verlernt, wie sich Entspannung anfühlt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin – schon berufsbedingt – eine leidenschaftliche Verfechterin von Bewegung und Sport! Pilates kann eine großartige Möglichkeit zum Muskelaufbau und zur Erlangung von Stabilität sein. Manche Frauen trainieren ihr „Powerhouse" aber mit einer Inbrunst, dass sie schließlich eine Beckenbodenmuskulatur wie Beißzangen haben. Jeder Teil des Körpers soll pausenlos straff und knackig sein. Um eine körperliche Top-Performance in jedem Augenblick präsentieren zu können, zahlen manche einen hohen Preis. Für Entspannung oder Sich-Gehen-Lassen gibt es keine Medaille. Aber dass diese eigentlich körperbewussten Frauen beim Sex keine Freude, sondern Schmerzen haben, das ist bitter. „Ich weiß ja, dass ich wahrscheinlich total verspannt bin. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich locker lassen soll. ‚Entspann dich mal‘ hilft mir nicht….", schluchzt meine Patientin. Klar, der Wettkampf muss gewonnen werden. Aber trotzdem will sie lernen, wie Lockerlassen geht. Hier schließt sich der Kreis für die Behandlungen mit manualtherapeutischen Techniken an Triggerpunkten, zur Mobilisation des Iliosacralgelenks und des Steißbeins. Häufig steht es zu weit nach ventral, beispielsweise durch einen Sturz oder Fehlhaltungen beim Sitzen. Atemübungen und Übungen für die Körperwahrnehmung mit Eutonie, eine Methode zur Regulation der Körperspannung, nach Feldenkrais oder die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson bieten sich an. Ziel ist es, mit Hilfe dieser Techniken ein Gefühl für körperliche An- und Entspannung zu erlangen.

 

Ein Gefühl für den Beckenboden

 

Natürlich helfen auch die Klassiker aus der Geburtsvorbereitung und Rückbildung, wie das innere Bild des Liftfahrens, das Anspannen der Beckenbodenmuskulatur mit Hilfe der Vorstellung, diese wie einen „Lift" nach oben zu ziehen und durch das innere Loslassen wieder nach unten fahren zu lassen. Das Ziel muss immer sein, überhaupt ein Gefühl zu vermitteln für die Lage des Beckenbodens, gleichzeitig für Spannung und Entspannung. Egal, welche Methode, Hauptsache sie erreicht die Patientin. Gerne arbeite ich zum Einstieg für die Vermittlung von Spannung und Entspannung mit Elementen aus der Eutonie. Je nachdem, wie gut ich die Patientin kenne oder wie offen sie mit ihrer Problematik umgeht, fange ich dafür bei Muskelgruppen an, die nicht im direkten Zusammenhang mit dem Beckenboden stehen. Aus Rückenlage auf einem kleinen Jonglierball oder mit einem geknoteten Geschirrtuch unter der Schulter, dem Rücken oder Gesäß geht es darum, zunächst den Widerstand und das Gegenhalten zu spüren. Dann folgt die Aufgabe, dem Druck nachzugeben, weich zu werden… Schließlich soll die Patientin den Ball oder das Tuch in den Körper einsinken lassen den Widerstand gegen den Druck aufgeben. Das braucht eine ruhige Atmosphäre und Zeit.

Natürlich sind besonders die supersportlichen Frauen sehr ehrgeizig. Sie möchten sicher sein, dass sie „richtig" fühlen. Wichtig ist immer, wie sich die Entspannung anfühlt. Ich lasse die Patientinnen eigene Formulierungen dafür finden. Gelingt dies unter Schulter, Gesäß und Lendenwirbelsäule, wagen wir uns an den Beckenboden. Auch hier übe ich mit einem weichen kleinen Ball, mit einem Geschirrtuch oder Rundholz.

Im Sitzen üben wir das Erspüren der Sitzhöcker. Danach wird zum Beispiel in gleicher Position direkt medial der Höcker (Tuber ischiadicum) unter die dort ansetzen Bänder und Beckenbodenmuskeln das geknotete Tuch gelegt. Es drückt, es stört, vielleicht tut es ein bisschen weh, wenn nun Gewicht darauf abgegeben wird. Wir üben Zulassen, Annehmen, Atmen. Da zuvor an „unbefangenen" Stellen das Gleiche gut gelungen ist, ist die Bereitschaft dazu jetzt groß. In jeden Fall sollte natürlich abgeklärt werden, ob eventuell auch Fehlstellungen des Steißbeins oder Blockaden im Iliosacralgelenk eine zu hohe Spannung oder Dysbalance der Muskulatur und Bänder im Beckenboden mit verursachen (siehe Seite 32ff.). Manche Patientinnen spüren diese Dysbalancen auch in Form von „Ziehen in der Blase" oder Leiste.

 

Besserung in wenigen Wochen

 

Im Laufe der Übungstermine, die durchaus zwischen drei und zehn Terminen schwanken können, werden die „Verdeutlicher" wie Ball oder Tuch abgebaut. Auch ohne Verstärkung von außen, entweder durch Triggern der Therapeutin oder eben die Hilfsmittel, üben die Frauen das Gefühl für die Körperspannung, für Anspannen und Loslassen. Manchen Frauen helfen dabei die imaginären Bilder vom Lift, manchen die Vorstellung, wie sich Zwerchfell und Beckenboden gegenseitig hoch und runter schaukeln. Wegen des Bauchdruckes und des Antagonismus zwischen Beckenboden und Zwerchfell kombiniere ich zu Beginn des Übens das Anspannen des Beckenbodens (Lift hoch) mit der Ausatmung und umgekehrt. Da die Patientinnen in der Regel einen hohen Leidensdruck haben, sind sie entsprechend motiviert und neugierig. In den allermeisten Fällen stellt sich eine deutliche Verbesserung innerhalb weniger Wochen ein. Wenn nicht, muss auch an Ursachen gedacht werden, die nicht im körperlichen Bereich liegen. Oft hilft eine Umstellung bei der Ausführung der Übungen, so beispielsweise beim Krafttraining eine Anpassung des Gewichtes oder Widerstandes. Ein gut trainierter Beckenboden muss überhaupt nicht weniger entspannt sein als ein untrainierter. Meistens haben Frauen mit einem gut trainierten Beckenboden auch einen guten Zugang zu ihrem Körperempfinden. Wenn das Gefühl für Spannung und Entspannung stimmt, können sie es aktiv einbringen. Für das Erleben erfüllter und entspannter Sexualität ist dies für die meisten Frauen – und ihre Partner – eine große Bereicherung!

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 11/2016

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