»Eindeutig uneindeutig«

Die Frage nach dem Geschlecht begleitet uns in allen Bereichen der Gesellschaft, vor allem, wenn ein Kind geboren wird. Sie ist nicht nur eine intime persönliche Frage, sondern entscheidet darüber, wie wir Menschen einordnen und behandeln. Die Antwort kann auch ungewöhnlich ausfallen und bedarf allgemeiner wie besonderer Aufklärung und Unterstützung. Was müssen begleitende Gesundheitseinrichtungen wissen? Tinou Ponzer
  • »Jedes Kind hat sein individuelles Geschlecht und wir können nicht vorhersehen, wie ein Mensch sich körperlich und psychisch entwickeln wird.«

Ein Kind wird in einem idyllischen Dorf in den Bergen geboren. Nach Begutachtung seines äußeren Genitals werden Untersuchungen angestellt, woraufhin Arzt und Hebamme den Eltern erklären, dass ihr Kind intersexuell und gesund sei. Sie machen deutlich, dass keine medizinischen Interventionen zur reinen Geschlechtszuweisung getroffen werden dürfen – diese Entscheidung liege bei ihrem Kind. Ohne seine Zustimmung würden diese Eingriffe eine Menschenrechtsverletzung darstellen. Damit hat der Vater allerdings zu kämpfen, da er sich dem Druck des (familiären) Umfelds ausgesetzt sieht, ein »normal« aussehendes Kind aufzuziehen.

Vielleicht haben auch einige Hebammen vor kurzem die Folge »Eindeutig uneindeutig« der ZDF-Serie »Lena Lorenz« gesehen? Diese Folge ist nicht nur bemerkenswert, weil die wichtige Information zu Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das Recht auf körperliche Unversehrtheit von jungen Patient*innen vermittelt wird, sondern weil sie auch eines veranschaulicht: den Mangel an sensibilisierter Gesundheits-Versorgung und Betreuung, wenn es um unabhängige Peer-Beratung, psychosoziale Begleitung und spezifische Berufsgruppen geht.

Im Rahmen meines Engagements für VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich) gebe ich Workshops und halte Vorträge unter anderem für diese Berufsgruppen. Dort begegnen mir praktizierende und werdende Hebammen, die noch nie davon gehört haben, dass Geschlecht nicht nur weiblich oder männlich ist. Mit »weiblich« und »männlich« meine ich alles, was wir gelernt haben, damit voneinander komplett abgegrenzt zu assoziieren: innere und äußere Geschlechtsorgane, Geschlechtsdrüsen, die Lage der Harnröhrenmündung, Chromosomen und andere genetische Eigenschaften, Geschlechtshormone, sekundäre Geschlechtsmerkmale. All diese Faktoren sind Teil des körperlichen Geschlechts und können einzeln oder in Kombination anders als das bekannte Schema sein.

 

Eines von 500 Neugeborenen

 

Der Begriff »intergeschlechtlich« beschreibt auf entpathologisierende Weise vielfältige Variationen von körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Diese sind in der Medizin als Intersexualität, VdG (Varianten der Geschlechtsentwicklung), DSD (Disorders/Differences of Sexual Development) beziehungsweise als zahlreiche verschiedene Diagnosen im internationalen Krankheitsindex der WHO bezeichnet.

Wenn man alle bekannten Variationen einschließt, kann man von mindestens 1,7 % der Menschen ausgehen, die sich in diesem Spektrum befinden. Bei den meisten wird es erst rund um die Pubertät bekannt. Bei circa einem von 500 Neugeborenen wird es rund um die Geburt bereits ersichtlich und schon während der Schwangerschaft kann dies bei Ultraschall-Untersuchungen thematisiert werden.

 

»Korrektur« als Unterstützung?

 

Eltern, die ein intergeschlechtliches Kind erwarten oder bekommen haben, trifft diese Diagnose in der Regel wie aus dem Nichts. Sie befinden sich rund um die Geburt in einer besonders vulnerablen Situation. Die ärztliche Mitteilung über ihr Kind ist eher problembehaftet als freudig-positiv: Man fixiert sich auf ein großes Maß an Untersuchungen, um rasch medizinische Lösungen, also »korrektive« Behandlungen anzubieten. Diese Abläufe können Stress erzeugen.

In erster Linie wollen Eltern die Sicherheit, dass ihr Kind wohlauf und gesund ist. Hauptsächlich über Diagnosen, Störungen, Fehlbildungen, Anomalien und Ähnliches zu sprechen, vermittelt das Gegenteil. Die Begriffe »normal«, »unterentwickelt«, »abweichend«, »nicht richtig« suggerieren Krankheit und dringenden Handlungsbedarf. So kann es auch dazu kommen, dass Eltern in ihrer Überforderung mit der völlig unerwarteten Situation darauf drängen, dass ihr Kind geschlechtszuordnende Behandlungen bekommt.

Bei bestimmten Diagnosen, die in der Schwangerschaft schon zu erkennen sind, wird sogar massiv zum Abbruch geraten.

 

Von der Aufklärung zur Selbstbestimmung

 

Doch die gute Nachricht ist: Die Schwangerschaft und Geburt eines Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung ist kein medizinischer Notfall! Sofern nicht eine Salzverlustkrise wie bei einem Adrenogenitalen Syndrom (AGS) verhindert werden oder bei funktioneller Blockade der Harnabfluss ermöglicht werden muss, gibt es keine Eingriffe, die sofort nötig wären. Das heißt, die medizinische Indikation zu Behandlungen darf sich hier nur auf funktionell lebensnotwendige Maßnahmen beschränken. Operative und hormonelle Eingriffe, die ein binäres Geschlecht (männlich oder weiblich) zuweisen sollen, dürfen nicht ohne die freiwillige, persönliche und vollumfassend aufgeklärte Zustimmung der betroffenen Person stattfinden. Diese Entscheidungen kann sie aber erst begreifen und treffen, wenn sie älter ist. Es geht hierbei schließlich um einen ganz intimen Bereich und schwerwiegende Eingriffe, die nicht rückgängig zu machen sind. Laut der Schweizer Studie »Shaping Parents« würde die Mehrheit der Eltern einem nicht notwendigen, geschlechtsnormierenden Eingriff an ihren Kindern nach einer medizinischen Aufklärung im klinischen Setting zustimmen (Streuli et al. 2013). Dagegen würde sich die Mehrheit von Eltern anders entscheiden, wenn sie außerhalb der Klinik psychosozial eingebettete Beratung erfahren haben. Ausschlaggebend sind also durchgehend soziale Gründe, warum Eltern die Geschlechtsmerkmale ihres Kindes anpassen wollen: Sie sorgen sich, dass das Kind Hänseleien ausgesetzt wäre und ausgegrenzt würde. Aber auch das eigene Ansehen in der Gemeinschaft können sie als gefährdet sehen.

 

Intergeschlechtlichkeit – Selbsthilfe, Peer-Beratung, Bildungsarbeit

 

Intersexuelle Menschen e.V. Bundesverband: www.im-ev.de

Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen – OII Germany: www.oiigermany.org

Plattform Intersex Österreich: www.plattform-intersex.at

VIMÖ – Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich: www.vimoe.at

 

Gesellschaftliches Tabu

 

Intergeschlechtlichkeit ist in unserer Gesellschaft noch immer so sehr tabuisiert, dass Eltern auch eine Ablehnung gegen ihr Kind empfinden können. Oft brauchen sie aber einfach eine Orientierung, wie sie ihr Kind erziehen und eintragen sollen. Oder sie wissen nicht, wie sie es ihrem Umfeld erklären könnten. Eine ernstnehmende, positive und nicht pathologisierende Kommunikation über ihr Kind ist der Beginn – die Familien brauchen sensibilisierte Aufklärung, psychosoziale Unterstützung und Zeit. Dazu gehört Raum für Fragen, den Druck rauszunehmen und auch Zugang zu umfassendem Wissen und Begegnungen.

Es gibt nicht immer einfache Antworten. Aber gerade über die negativen und traumatischen psychischen wie physischen Folgen für das Kind müssen die Eltern Bescheid wissen, wenn sie über nicht notwendige Eingriffe für ihr Kind entscheiden. Nicht selten wird dies vom Kind (später) als Vertrauensbruch empfunden und die Eltern-Kind-Beziehung und das eigene Selbst- und Körperbewusstsein dadurch massiv erschüttert. Viele Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte geben dem Kind das ständige Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimme.

 

Unumkehrbare Eingriffe

 

Geschlechtsmodifizierende Eingriffe können fatale Folgen haben: Es gibt Narbengewebe, das nicht mitwächst, Taubheitsgefühle, wo sexuelle Erregung spürbar sein sollte, (chronische) Schmerzen, Probleme beim Harnlassen, häufige Folgeoperationen und mehr. Betroffene fühlen sich isoliert und beschreiben psychologische und sexuelle Übergriffe. Die Scham kann manchmal umso größer werden, je öfter ihnen versichert wird, ein normaler Junge, ein normales Mädchen zu sein. Irgendwann stellen sich Betroffene die Frage: Sind diese Erfahrungen normal?

Ein wichtiger Schlüssel-Moment ist, andere Menschen kennenzulernen, die ähnliche Geschichten teilen. Eine von der Klinik unabhängige Peer-Beratung durch intergeschlechtliche Erwachsene und Eltern, die »wissen, wie es ist«, bietet hier einen unersetzbaren Austausch und Unterstützung. Gespräche können auf Augenhöhe geführt, Erfahrungen geteilt und medizinische Beratung gemeinsam reflektiert werden. Diesen wertvollen Kontakt zu Erfahrungsexpert*innen sollten Ärzt*innen und Hebammen fördern.

 

Wir sind schön und perfekt, wie wir sind!

 

Durch Gemeinschaftsgefühl und gegenseitige Stärkung können sich auch Rollenvorbilder entwickeln und diverser Geschlechtsentwicklung positiv begegnet werden. Ebenso ist die Einbindung von professioneller psycho-sozialer Begleitung wichtig, da deren Kompetenzen nicht von den medizinischen Berufsgruppen übernommen werden können und sollen. Außerdem ist es unerlässlich, dass Hebammen, Ärzt*innen, Krankenschwestern und Pfleger*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen spezifische Weiterbildung erfahren, wie sie inter*-sensibilisiert mit den Familien und Betroffenen umgehen können.

Die Thematisierung von Geschlechtervielfalt muss außerdem bei uns allen schon viel früher beginnen. Bei der Familienplanung und im Zuge der Schwangerschaftsbegleitung stellen Hebammen einen Angelpunkt und Vertraute dar.

In einer Gesellschaft, die auf einer zweigeschlechtlichen Ordnung basiert, kann ein intergeschlechtliches Kind als Mädchen oder als Junge aufwachsen. Es braucht allerdings besondere Offenheit, um sich zu entfalten. Es muss gestärkt und über sein So-Sein altersgerecht aufgeklärt werden. Es kann sich herausstellen, dass sich das Kind von Anfang an oder später als dazwischen oder beides, also »inter« benennt und fühlt. Es ist wichtig, darüber zu reden, das Kind zu respektieren und zu fördern. Begleitende Bücher wie beispielsweise »PS: Es gibt Lieblingseis« von Luzie Loda können dazu hilfreich sein.

 

Inter+Trans-Menschenrechte in Europa

 

Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleistet die Achtung des Privat- und Familienlebens. Darunter fallen auch der Schutz der menschlichen Persönlichkeit in ihrer Identität, Individualität und Integrität und somit die geschlechtliche Identität.

Art. 8 EMRK räumt daher »Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht ein, dass auf das Geschlecht abstellende Regelungen ihre Variante der Geschlechtsentwicklung als eigenständige geschlechtliche Identität anerkennen, und schützt insbesondere Menschen mit alternativer Geschlechtsidentität vor einer fremdbestimmten Geschlechtszuweisung.«

 

Gesetzliche Regelung

 

Ab 1. Januar 2019 wird es in Deutschland den Geschlechtseintrag »divers« geben, der allerdings nur Menschen zur Verfügung stehen soll, die mittels medizinischer Gutachten ihre Intersexualität glaubhaft machen können. So positiv die Schaffung einer weiteren Option ist, wenn sie freiwillig gewählt werden kann, so tragisch ist, dass sie wieder nur über Fremdbestimmung und Pathologisierung erlangt werden kann. Die Frage ist, ob der Druck, den richtigen Geschlechtseintrag für sein Kind wählen zu müssen, oder auch die Angst vor Stigmatisierung, wenn man die dritte Option wählt, nicht durch ein generelles Streichen der Einträge bei Neugeborenen gelöst werden könnte – bis jeder Mensch selbst darüber Bescheid geben kann. Denn jedes Kind hat sein individuelles Geschlecht und wir können nicht vorhersehen, wie ein Mensch sich körperlich und psychisch entwickeln wird.

 

Fazit: Offenheit lernen, Akzeptanz fördern

 

Auch wenn es in unserer Gesellschaft Wahrscheinlichkeiten bezüglich dieser Entwicklungen gibt, kann nur jede und jeder selbst die Perspektive auf das eigene Geschlecht, den Körper und die Identität mitteilen und will Anerkennung erfahren. Eine Gesellschaft, die sich bewusst über die eigene Diversität ist, kann Unsichtbarkeit überwinden und eine Offenheit lernen, die jede Körperlichkeit und jeden Menschen miteinschließt.

 

Wenn Trans-Menschen Eltern werden

 

In Finnland hat 2018 zum ersten Mal ein Trans-Mann ein Kind geboren. Damit verstieß er gegen geltendes Recht. Vor einer Geschlechtsanpassung müssen Trans-Menschen in Finnland gegenüber den Behörden eigentlich ihre Unfruchtbarkeit nachweisen.

In der Praxis erklären finnische Ärzt*innen Trans-Männer nach einer längeren Testosteron-Therapie für unfruchtbar, ohne die weitere Einnahme der Hormone zu überprüfen. Der Vater verteidigte seinen Verstoß: Er wolle sich von der Gesellschaft nicht diktieren lassen, was er zu tun habe.

Im deutschen Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1981 ist die Zwangssterilisation noch vorgeschrieben. Allerdings erklärte das Bundesverfassungsgericht 2011 diese Vorschrift als grundgesetzwidrig, weil sie gegen die Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit verstößt. Dieser Teil des Gesetzes darf damit nicht mehr angewandt werden.

2017 entschied auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Trans-Menschen nicht dazu gezwungen werden dürfen, sich sterilisieren zu lassen. Dies verstößt gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sichert.

Quelle: Queer communications: Trotz Verbot: Finnischer Trans-Mann bringt Kind zur Welt. 12.4.2018. http://queer.de/?30932
Peggy Seehafer

Rubrik: Politik & Gesellschaft | DHZ 01/2019

Literatur

Streuli JC, Vayena E, Cavicchia-Balmer Y, Huber J: Shaping Parents: Impact of Contrasting Professional Counseling on Parents' Decision Making for Children with Disorders of Sex Development. The Journal of Sexual Medicine 2013. https://doi.org/10.1111/jsm.12214

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