»Leitplanke in der Beratung«

Diese fünf Hebammen arbeiten ausdrücklich evidenzbasiert. Sie deklarieren dies auch auf ihren Internetseiten. Wir haben sie gefragt, wie sie darauf gekommen sind und wo sie die dazu nötigen Kenntnisse erworben haben. Wie groß schätzen sie den tatsächlichen Anteil der evidenzbasierten Maßnahmen in ihren Wochenbettbetreuungen ein? Und machen sie dies »ihren« Frauen jeweils deutlich? Wo sehen die Kolleginnen noch Lücken in der Evidenzlage für das Wochenbett? Tara Franke

Hoffnung auf eine neue Wertschätzung

 

 

Heike Edmaier

»Zunächst einmal ist mein Bestreben in der Wochenbettbegleitung immer, möglichst wenig Behandlungen und Maßnahmen zu ergreifen. In vielen Fällen gibt es hierfür auch eine hohe wissenschaftliche Evidenz. Für den überwiegenden Teil meiner Maßnahmen gibt es Evidenzen, allerdings unterschiedlichen Levels. Außerdem gehört ja zum evidenzbasierten Arbeiten immer auch die Einbeziehung von Erfahrungswissen und der individuellen Bedürfnisse und Lebenseinstellungen der Frau. Wichtig ist für mich, meine Arbeit beständig zu reflektieren. Studienergebnisse haben ja immer einen vorläufigen und hinterfragbaren Charakter. Die dazu nötigen Informationen finde ich in Fachliteratur, auf Fortbildungen, in Datenbanken wie beispielsweise Cochrane oder Pubmed, im Studium und im Austausch mit Kolleginnen. Im Bereich der Aromatherapie für Wöchnerinnen und Neugeborene bin ich allerdings immer noch auf der Suche nach verlässlichen Studien, die mein Erfahrungswissen ergänzen.

Ein wichtiges Element des evidenzbasierten Arbeitens ist die informierte Entscheidung der Frau. Der Wunsch der Frau ist eine der Säulen der Arbeit. Das heißt ohne Einbezug des Willens und der Bedürfnisse der Frau kann ich ja gar nicht evidenzbasiert arbeiten. Ich erkläre den betreuten Frauen bei Handlungsempfehlungen und Vorschlägen für Maßnahmen meine Gründe dafür. Manchmal erwähne ich dabei auch Studien. Manchmal begründe ich auch eher intuitionsgeleitete Vorschläge. In der alltäglichen Berufspraxis hängt das auch von verschiedenen Gegebenheiten ab, wie beispielsweise zeitliche Ressourcen, Setting, Bildungsstand der Frau, sprachliche Voraussetzungen.

Dass ich evidenzbasiert arbeite, steht in meinem Leitbild, welches ich auf meiner Homepage veröffentlicht habe. Neben »evidenzbasiert« stehen da Begriffe wie »individuell«, »fachkompetent«, »ressourcenorientiert« und »wertschätzend« – Begriffe, die für mich handlungsleitend sind. Für mich ist evidenzbasiertes Arbeiten ein Weg, Frauen und deren Familien bestmögliche, individuelle und kompetente Betreuung zu bieten. Die Nutzung von evidenzbasiertem, beruflichem Wissen ist übrigens auch in unserem Ethik-Kodex verankert, der Hebammen als Orientierung für das berufliche Handeln dienen soll. Ob Frauen den Begriff »Evidenz« kennen, hängt sicherlich von deren Interesse, dem Beruf und dem Bildungsstand ab. Nur vereinzelt nehmen Frauen darauf Bezug. Ich betreue auch häufig geflüchtete Frauen, die kennen den Ausdruck überwiegend nicht.

Wenn eine Frau eine Behandlung oder Maßnahme möchte, für die es meines Wissens keine Evidenzen gibt, die deren Wirksamkeit und/oder Unschädlichkeit belegen, dann bin ich erstmal erfreut, dass die Frau eigene Ideen hat, was ihr helfen könnte. Gegebenenfalls äußere ich Bedenken. Grundsätzlich ist eines meiner Betreuungsziele im Wochenbett, den Frauen zu vermitteln, dass sie selbst die Expertin für ihr Kind und ihren eigenen Körper sind. Die Arbeit mit Frauen aus anderen Ländern und Kulturen erlebe ich diesbezüglich als herausfordernd und sehr bereichernd. Sie haben oft ganz andere Ideen und Auffassungen. Da eröffnen sich nochmals ganz neue Forschungsperspektiven.

Ich überprüfe und aktualisiere meine Behandlungskonzepte kontinuierlich auf aktuelle Evidenzen. Durch regelmäßige Fortbildung versuche ich, mein Wissen auf aktuellem Stand zu halten und mein eigenes Handeln zu hinterfragen. Eine große Schatzkiste ist diesbezüglich die geballte Ladung an Hebammenkompetenz in unserem Studiengang. Ich studiere gemeinsam mit Kolleginnen mit meist langjähriger Berufserfahrung. Das erlebe ich als sehr große Bereicherung zusätzlich zum Fachwissen, das von den meist sehr kompetenten DozentInnen vermittelt wird. Lange Zeit hatte ich als Hebamme der Forschung gegenüber leider viele Vorbehalte, die in einer diffusen Angst vor Fremdbestimmung und mangelnder Wertschätzung von Erfahrungswissen begründet lagen. Und dem Wissen darum, dass nicht alle lebendige Erfahrung in irgendwelchen Parametern gemessen werden kann.

Ein Produkt aus der Hebammenforschung ist der »Expertinnenstandard zur Förderung der physiologischen Geburt«, gemeinsam entwickelt vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege und dem Verbund Hebammenforschung (DNQP 2014). Seine Grundlage ist evidenzbasiertes Wissen und Expertinnenwissen. Er hat mein Hebammenherz sehr berührt. Er hat mir Hoffnung geschenkt für eine neue Wertschätzung und Priorisierung der physiologischen Geburt in den Kliniken. Es ist für mich eines von vielen Beispielen, in denen deutlich wird, dass evidenzbasierte Betreuung unnötige Interventionen vermeidet. Hier wird die praxisrelevante und gesundheitsfördernde Auswirkung von Hebammenforschung sehr deutlich. Das hat meine Lust auf Forschung geweckt.«

 

Die Interviewte

 

Heike Edmaier, Jestetten, freiberufliche Hebamme mit kleiner Praxis an der Schweizer Grenze, bietet Schwangerschaftsbegleitung und Betreuung im Wochenbett und in der Stillzeit an. Sie ist Familienhebamme, seit zwei Jahren betreut sie auch geflüchtete Frauen. Seit Oktober 2017 studiert sie an der Dualen Hochschule Stuttgart angewandte Hebammenwissenschaft.

 

 

Den Blick für das Wesentliche schärfen

 

 

Beatrice De Pascalis

»Ich mag Evidenz. Wenn mir jemand eine Anweisung gibt ohne eine relevante Begründung oder Erklärung, regt sich in mir Widerstand. Evidenzbasiert zu arbeiten, entspricht meiner Vorstellung, wie ich meine Arbeit, Beratung und Begleitung korrekt ausführen kann. Mittels Evidenz und Erfahrungswissen kann ich Frauen und Familien korrekt und professionell beraten.

Zu meiner Entscheidung, evidenzbasiert zu arbeiten, hat mit Sicherheit mein Masterstudium »Physiologie und Salutogenese« in Salzburg beigetragen, basierend auf dem salutogenetischen Betreuungsmodell der Hebamme Verena Schmid. Dort habe ich gelernt, wie ich an die Erkenntnisse der Evidenz komme, wo ich mir Wissen einholen kann. In dieser Zeit gründete ich die Hebammenpraxis Appenzell, konnte dort das Leitbild, das Betreuungsmodell selbst festlegen und meine Arbeit, mein Angebot danach ausrichten.

Ich habe meine Masterarbeit zum Thema Wochenbett geschrieben. Der Titel lautete »Das Wochenbett im klinischen Kontext. Eine qualitative Studie zum Wochenbett im Spital.« Bei der Suche nach Studien zum Wochenbett habe ich sehr schnell merken müssen, dass es dazu sehr wenig Forschung und damit verbunden wenig Evidenz gibt.

Es gibt zur evidenzbasierten Wochenbettbetreuung ein Buch aus dem Jahr 2004 von Debra Bick und ihren Co-AutorInnen: »Evidenzbasierte Wochenbettbetreuung und -pflege«. Dieses Buch stellt die Ergebnisse der sogenannten IMPaCT-Studie dar. Diese wurde gestartet, nachdem 1992 in Großbritannien ein Report des House of Commons Committee die Vernachlässigung der Betreuung im Wochenbett und fehlende Forschungen in diesem Bereich bemängelt hatte. In meine Arbeit heute beziehe ich zusätzlich evidenzbasiertes Wissen aus Psychologie, Soziologie, Neonatologie, Salutogenese, Pädiatrie, Physiotherapie und anderen Bereichen ein.

Ich kann derzeit schätzungsweise gut drei Viertel meiner Behandlungen und Maßnahmen durch Evidenz begründen.

Ich habe das Glück, dass ich alle Frauen vor der Wochenbettbetreuung in der Schwangerenberatung kennenlerne und begleiten darf. Beim ersten Treffen erkläre ich mein Arbeitsmodell und damit das evidenzbasierte Arbeiten. Die Frauen verstehen das sehr wohl und sind sehr dankbar, zu wissen, dass sie nicht mit Ratschlägen eingedeckt werden, »einfach, weil man dies oder das so macht«. Evidenzbasiertes Arbeiten bedeutet für mich, der Frau genügend Information zukommen zu lassen, so dass sie entscheiden kann, welche Maßnahme, welches Screening für sie richtig ist.

In der Schwangerenbetreuung halte ich mich an die britischen Guidelines des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) und erörtere den Frauen die Leitlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. So sind die Frauen schon sehr selbstbewusst und selbstbestimmt, wenn sie im Wochenbett ankommen. Sie wollen wissen, was die Forschung sagt, und gleichen diese Erkenntnisse ab mit dem, was sie denken oder spüren. Frauen sind sehr kompetent, wenn man sie nur lässt oder fragt.

Frauen, die über das Internet eine Hebamme für die Begleitung in einer überaus wichtigen und sensiblen Zeit ihres Lebens suchen, lesen die Homepages genau. Und sie googeln, wenn sie etwas nicht verstehen. Dann wird ihnen schnell klar, worum es geht, wenn ich schreibe, dass ich evidenzbasiert arbeite.

Mittlerweile kommen die Frauen auf Empfehlung von anderen Müttern und wissen daher, wie meine Art der Betreuung aussieht. Einige Frauen nehmen direkt Bezug auf meine Art, evidenzbasiert zu arbeiten, und freuen sich, individuell und nach erwiesener Wirksamkeit in verschiedensten Situationen informiert, betreut und beraten zu werden.

Als Hebamme bin ich in der Physiologie verankert. Evidenz kann auch als Diskussionsgrundlage dienen. Mir gibt sie ein Stück weit Leitplanke und Sicherheit in der Beratung. Es gibt immer die Möglichkeit, Frauen in die Betreuung von anderen FachspezialistInnen zu verweisen. Ich habe nicht den Anspruch an mich, alle Fragestellungen selbst lösen zu können oder zu müssen. Ein gutes Netzwerk ist das A und O in unserer Arbeit. Am Schluss zählt die Sicherheit und das Aufgehobensein der Frau beziehungsweise ihrer Familie.

Wie überprüfe und aktualisiere ich ständig meine Behandlungskonzepte auf aktuelle Evidenzen? Sobald mir neue Erkenntnisse in die Hände geraten oder sich Fragen in der Arbeit auftun, werden diese evaluiert und angepasst. Die Deutsche Hebammen Zeitschrift ist für mich Quelle von Evidenzen, gut recherchiert, immer mit den aktuellen Quellen belegt, eine riesige Hilfe!

Mein Fazit: Evidenzbasiertes Arbeiten macht wirklich Freude! Der Blick für das Wesentliche wird geschärft, die Betreuungsqualität ist hoch und die Selbstwirksamkeit der Frau wird dadurch gestärkt, dass sie im Mittelpunkt steht und durch genügend Information zur Evidenz in der Lage ist, für sich selbst zu entscheiden, was sie braucht oder nicht.«

 

Die Interviewte

 

Beatrice De Pascalis, Hebamme MSc Midwifery, ist tätig in eigener Praxis in Appenzell, Schweiz. Sie studierte im Masterstudiengang »Angewandte Physiologie für Hebammen« in Salzburg. Ihre Abschlussarbeit verfasste sie zum Thema »Das Wochenbett im klinischen Kontext. Eine qualitative Studie zum Wochenbett im Spital«.

 

 

Immer wieder einzelne Vorgehensweisen diskutieren

 

 

Vanessa Sepke

»Ich bin im ersten Beruf Rechtsanwältin. Daher bin ich grundsätzlich mit wissenschaftlichem Arbeiten vertraut. Aber auch in der Hebammenausbildung an der Berliner Charité hat das evidenzbasierte Hebammenwissen immer eine wichtige Rolle gespielt. Beispielsweise haben wir Auszubildenden Fälle aus der Praxis präsentiert bekommen, für die wir die Studienlage sichten und die Vorgehensweisen aus der Praxis zusammentragen sollten. Die Ergebnisse wurden dann diskutiert und zur Problemlösung herangezogen. In der Ausbildung wurde dazu die Quellensuche aus Datenbanken oder Literatur sowie die Auswertung von Studien vermittelt.

Etwa 70 % meiner Vorgehensweise ist evidenzbasiert. Dabei ziehe ich meine Grundkenntnisse aus der Ausbildung heran, die ich vor allem in Fortbildungen, beispielsweise derzeit zum Thema Stillen oder im vergangenen Jahr zum Thema Schwangerenvorsorge und Wochenbett, auf ihre Aktualität hin überprüfe. Im QM-Zirkel werden aber auch immer wieder einzelne Vorgehensweisen diskutiert, so zum Beispiel der Umgang mit ß-Streptokokken, und die Studienlage dazu ausgewertet (NICE-Guidelines, Hinweise der Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe/DGGG, Cochrane, WHO und andere). Im Gespräch mit den Frauen weise ich vor allem dann auf evidenzbasierte Empfehlungen hin, wenn anders vorgegangen wird und weiterer Beratungsbedarf seitens der Eltern besteht oder ein Behandlungserfolg ausbleibt.

Auf meiner Website weise ich darauf hin, dass ich evidenzbasiert arbeite, weil ich finde, dass dies ein Qualitätskriterium für die Arbeit einer Hebamme ist, insbesondere vor dem Hintergrund der immer komplexer werdenden Aufgabenfelder in der täglichen Praxis. Von Evidenzen spreche ich dabei nicht, eher von aktuellen Empfehlungen oder Studiengrundlagen. Das ist besser verständlich – explizit danach fragen tun die wenigsten. Ich informiere und kläre die Eltern über die aktuellen Empfehlungen auf, lasse aber Raum, eigene Wege vor diesem Wissenshintergrund zu gehen.

Seit Einführung des QMs überprüfe ich nunmehr jährlich meinen Stand aktueller Evidenzen. Oder auch dann, wenn ich Kenntnis von neueren Erkenntnissen erlange.«

 

Die Interviewte

 

Vanessa Sepke, Hebamme in der Praxis Herztöne – Hebamme für Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg

 

 

Das eigene Handeln transparent machen

 

 

Elá Wehrle

»Durch mein Studium der Hebammenwissenschaft an der Hochschule 21 in Buxtehude wurde mir die evidenzbasierte klinische Entscheidungsfindung im Hebammenwesen nähergebracht. Die notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen habe ich somit im Laufe des Studiums erworben und konnte diese in meiner freiberuflichen Tätigkeit vertiefen. Meiner persönlichen Schätzung nach liegt der Anteil der Behandlungen und Maßnahmen im Wochenbett, die ich auf Evidenzen begründen kann, bei 60 %. Die benötigten Informationen finde ich in ausgewählten Fortbildungen, in der eigenen Recherche von Fachliteratur und Datenbanken, sowie durch den kollegialen Austausch mit Hebammen, die ebenfalls evidenzbasiert arbeiten.

Mir ist es wichtig, dass meine Arbeit transparent ist. Demnach kommuniziere ich mit den Frauen, welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, was in der Hebammenarbeit auf Evidenzen beruht und was nicht. So gebe ich den Frauen die Möglichkeit, eine »informed choice« zu treffen. Die Akademisierung des Hebammenberufs liegt mir sehr am Herzen und deshalb möchte ich auch die Familien, die ich betreue, dafür sensibilisieren und gehe in meinen Vorgesprächen darauf ein, dass ich die notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen des evidenzbasierten Arbeitens besitze. Die Frauen nehmen selten von selbst auf diese Aussage Bezug.

Wenn eine Frau eine Behandlung oder Maßnahme möchte, für die es meines Wissens nach keine Evidenzen gibt, die deren Wirksamkeit und/oder Unschädlichkeit belegen, erfolgt eine Aufklärung darüber, dass ich dazu keine eindeutigen Informationen oder Belege kenne. In solchen Fällen gehe ich in den kollegialen Austausch, um von der langjährigen Berufserfahrung meiner Kolleginnen zu profitieren. Damit kann ich den Frauen die Erfahrungswerte und Beobachtungen meiner Kolleginnen vermitteln, was auch für mich als Berufsanfängerin immer sehr interessant ist

Da ich erst seit einem Jahr im Beruf bin, arbeite ich noch an der Vollständigkeit meines Qualitätsmanagements. Ich habe es mir als Ziel festgelegt, jährlich ein internes Audit durchzuführen. Wichtig ist es für mich, regelmäßig Fortbildungen zu besuchen, um so weiterhin auf einem aktuellen Stand zu bleiben und somit auch meine Behandlungskonzepte zu aktualisieren. Auch durch den kollegialen Austausch werde ich immer wieder angeregt, meine persönlichen Behandlungskonzepte zu überprüfen.«

 

Die Interviewte

 

Elá Wehrle arbeitet seit ihrem Examen 2017 als freiberufliche Hebamme in Kooperation mit der Hebammenpraxis an der Alster in Hamburg. Im Sommer 2018 hat sie das Studium der Hebammenwissenschaft an der Hochschule 21 abgeschlossen.

 

 

Aus Großbritannien lernen

 

 

Lisa Welcland

»Ich bin während meines Aufenthaltes in Großbritannien das erste Mal in intensiven Kontakt mit evidenzbasiertem Arbeiten gekommen. Dort hatte ich zum einen die Möglichkeit, über meine klinische Arbeit als Hebamme mit den NICE-Guidelines zu arbeiten, aber auch immer wieder im Rahmen eines informierten Entscheidungsfindungsprozesses die individuellen Werte und Wünsche der von mir begleiteten Frauen gleichwertig mit einfließen zu lassen. Beeindruckt hat mich in diesem Prozess insbesondere, dass auch dann, wenn die Wünsche und Vorstellungen schwangerer Frauen außerhalb krankenhausinterner Standards lagen, ein interdisziplinäres ExpertInnenteam aus dem geburtshilflichen Bereich mit einbezogen wurde. So konnte gemeinsam und in einem respektvollen Umgang miteinander ein Behandlungsplan erarbeitet werden. Dies half, Qualität, Patientensicherheit und -zufriedenheit sicherzustellen. Zugleich studierte ich berufsbegleitend und konnte mir so das notwendige Hintergrundwissen für ein evidenzbasiertes Arbeiten aneignen.

Das evidenzbasierte Arbeiten ist heute ein wichtiger Bestandteil meiner Hebammenarbeit. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass viele Frauen sich vorab über eine Hebamme und ihr Betreuungskonzept informieren. Zudem spricht mich ein Großteil meiner Klientinnen ganz direkt auf meine Homepage und Philosophie an. Sie geben mir als Rückmeldung, dass diese Informationen ein wichtiger Bestandteil für ihre Auswahl einer Hebamme gewesen sind.

Wenn wir von einem physiologischen Wochenbett ausgehen, dann sind zunächst keinerlei Behandlungsmaßnahmen erforderlich. Ich nutze einen salutogenetischen Ansatz, bei dem es darum geht, Zusammenhänge zu verstehen. All die Gegebenheiten, die uns in unserem Leben begegnen, können so als ein essenzieller Teil einbezogen werden. Für den Fall, dass doch Maßnahmen oder Behandlungspläne im Wochenbett notwendig werden sollten, bezieht sich das evidenzbasierte Arbeiten in meiner Hebammentätigkeit in der Regel auf die Themenbereiche Milchstau und Mastitis, Wundheilungsstörungen jeglicher Art bei Mutter und/oder Kind sowie den Umgang und die Verlaufskontrolle des Neugeborenenikterus.

Die allgemeine Arbeitsweise und Philosophie meiner Hebammenbegleitung erläutere ich den Familien bereits in der Schwangerschaft. In der Regel bespreche ich einen konkreten Maßnahmenkatalog gemeinsam mit den Frauen, hebe dabei den jeweiligen Evidenzgrad aber nicht noch einmal im Einzelnen hervor. Sollten wir uns jedoch in einem Szenario befinden, bei dem der Evidenzgrad einer Intervention nicht erwiesen oder fragwürdig ist, informiere ich das Paar diesbezüglich, so dass es eine informierte Entscheidung treffen kann.

Wenn eine Frau eine Behandlung möchte, für die es meines Wissens keine Evidenzen gibt, die ihre Wirksamkeit oder Unschädlichkeit belegen, kommt es immer auf den Einzelfall an. Evidenzbasiertes Arbeiten schließt neben dem aktuellen Stand der Wissenschaft auch das klinische Erfahrungswissen und die Wünsche der Klientinnen mit ein. Je nach Schweregrad der individuellen Situation, kann die Entscheidungsfindung dann meist gemeinsam stattfinden. Falls damit meine Kompetenzen als Hebamme überschritten werden, wird dieser Prozess auf interdisziplinärer Ebene durch die Hinzuziehung eines Experten oder einer Expertin fortgesetzt.

Hebammen sind über den § 134a zur Versorgung mit Hebammenhilfe im SGB V gesetzlich zum Qualitätsmanagement aufgefordert, woraus sich gleichzeitig auch die Grundlage für mein QM-System in der Hebammenarbeit ableitet. In regelmäßigen Abständen wird mein System auditiert, angepasst und verbessert. Kommt es jedoch zuvor zu einem unvorhersehbaren Ereignis, das zu einem bestimmten Outcome geführt hat oder hätte führen können (»near-miss«), so findet eine Einzelfallanalyse statt, wobei der bisherige Maßnahmenkatalog überprüft und bei Bedarf angepasst wird. Dann überprüfe und aktualisiere ich meine Behandlungskonzepte auf aktuelle Evidenzen.

In Deutschland finde ich vor allem das Thema Säuglingsernährung unzureichend aufgearbeitet, insbesondere bei den allgemeinen Empfehlungen zum ausschließlichen Stillen und Muttermilchersatznahrungen im Zusammenhang mit einer Allergieprävention sowie bei den allgemeinen Beikost-Empfehlungen. Hier wünsche ich mir einen intensiveren Einbezug globaler Dokumente, wie zum Beispiel der WHO-Empfehlungen zur Säuglingsernährung, der Lancet-Serie für Kinderernährung oder auch den Stellungnahmen von Internationalen Hebammenverband (ICM) zum Thema Stillen. Des Weiteren fände ich es interessant, sich mit den Evidenzen zu hypoallergener Babynahrung intensiver auseinanderzusetzen und hierbei auch die internationale Perspektive mit einzubeziehen. Welche Länder produzieren überhaupt HA-Nahrung? Wenn es keine HA-Nahrung gibt, was sind die dortigen allgemeinen Empfehlungen zur Allergieprävention und Säuglingsernährung? Und unterscheidet sich die Prävalenz von Allergien signifikant zu Deutschland?«

 

Die Interviewte

 

Lisa Welcland, Hebamme seit 2006, hat einen Master of Science in International Child Health. Sie arbeitet als freiberufliche Hebamme in Saarbrücken und ist Lehrbeauftragte an der Hochschule Ludwigshafen.

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 02/2019

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