Ethische Reflexion

Was ist das »Gute«?

Wie werden wir auf ethische Dilemmata in der Hebammenarbeit aufmerksam? Wie können wir Standards und Prinzipien anwenden und diese in unserer Praxis implementieren? Eine Anleitung zur ethischen Reflexion in der täglichen Praxis in sechs Schritten. Marianne Weincke Axelsen
  • Wenn Hebammen ihr Handeln im Alltag ethisch hinterfragen, erlernen sie Sicherheit in ihrer Praxis

Wie sollte ich mich verhalten, wenn eine gebärende Frau den ihr empfohlenen Kaiserschnitt verweigert?

Haben Frauen wirkliche eine Wahl bezüglich vorgeburtlicher Untersuchungen? Ich denke nicht, dass die Information hierzu das Recht der Frauen auf eine freie Wahl respektiert. Als Hebamme bin ich oft enttäuscht von Frauen, die während der Schwangerschaft rauchen – wie sollte ich mich verhalten, wenn ich meine, dass sie darauf angesprochen werden sollte?

Ich erlebe normale Geburten als immer medikalisierter. Ist es beispielsweise richtig, eine Geburt ohne medizinische Indikation einzuleiten?

Wie sollte ich mich bei einem späten induzierten Schwangerschaftsabbruch verhalten, wenn das Kind Lebenszeichen zeigt?

Als Hebamme bin ich frustriert, wenn eine Frau nicht stillen möchte. Ich weiß, dass es das Beste für Mutter und Kind ist. Wie sollte ich reagieren, wenn die Autonomie der Frau nicht respektiert wird?

Wie sollte ich mich respektvoll gegenüber dem Lebensrecht des Kindes und der Autonomie der Frau verhalten, wenn sich die Frau bei einer Hausgeburt weigert, aufgrund von Komplikationen während der Geburt ins Krankenhaus zu gehen?

In ihrem Arbeitsleben sind Hebammen und werdende Hebammen täglich mit diesen und jeder Menge ähnlicher Fragen konfrontiert. Häufig sind sie in der schwierigen Situation, evidenzbasierte medizinische Leitlinien, klinische Anamnese, Hebammenwissen, die Wünsche der Frau und die Fürsorge für das Ungeborene oder Neugeborene gegeneinander und miteinander abzuwägen. Schnelle technologische Entwicklungen und die komplexen Themen können eine große Herausforderung im Arbeitsalltag sein. Daraus ergibt sich eine Reihe von Fragen in Konflikten zwischen Pflicht, Nutzen und Werten: Wie soll ich reagieren, um meine eigenen Werte mit denen der Frau zu vereinbaren? Wie kann ich klügere und am Ende bessere Entscheidungen treffen? Wie kann ich in einem komplexen Gesundheitsversorgungssystem mit verschiedenen Lösungen und Dilemmata leben?

 

Entscheidungen treffen

 

Die ethischen Kernfragen lauten: Was muss ich tun? Was kann ich tun? Was sollte ich tun? (Birkler 2009)

Im Grunde genommen bedeutet »ethisches Handeln« sich für das »Gute« angesichts des möglichen »anderen« zu entscheiden. Ethisches Handeln bedeutet zunächst herauszufinden, worum es in der jeweiligen Situation geht. Gleichzeitig müssen wir uns darüber bewusst sein, dass sowohl rechtliche als auch praktische Aspekte in die Entscheidungsfindung einfließen (Henriksen & Vetlesen 2006).

»Indem du Hebammenkunst ausübst, wirst du eine Hebamme. Durch ethische Praxis wirst du eine ethisch reflektierte Hebamme.« (Foster & Lasser 2011)

Die grundlegenden Prinzipien der Bioethik wurden nach dem zweiten Weltkrieg durch die UN mit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und später durch die Deklaration von Helsinki durch den Weltärztebund (WMA) definiert (Mortensen 2018). Diese Prinzipien wurden auf verschiedene Weise und in vielen Kontexten innerhalb der Biomedizin, in ethischen Kodizes und in der täglichen Praxis verankert. Die Grundsätze können eine Richtlinie für ethisches Handeln darstellen (Beauchamp & Childress 2013; Foster & Lasser 2011; Rentdorff & Kemp 2000). Sie lauten

  • Autonomie
  • Nichtschaden
  • Wohltun
  • Gerechtigkeit.

Autonomie ist ein hochwertiges ethisches Prinzip und stellt ein wichtiges PatientInnenrecht im Gesundheitsrecht dar. Deshalb ist sie beides: ein legales Recht und ein ethisches Prinzip. Prinzipiell ist das Recht der Frau auf Selbstbestimmung zu respektieren und zu unterstützen und ihre Integrität unabhängig von der Einstellung anderer zu wahren.

Nichtschaden ist die Verpflichtung, den PatientInnen durch die jeweilige Behandlung nicht zu schaden. Allerdings sind wir uns in der Art und Weise, wie evidenzbasierte Medizin, Screenings und vieles andere praktiziert werden, oft nicht darüber bewusst, welcher mögliche Schaden gesunden Menschen dadurch entstehen kann.

Wohltun ist ein Handeln, welches das Wohlergehen fördert. Dies schließt die Heilung von Krankheiten und die Linderung von Leiden und Schmerzen der PatientInnen ein.

Gerechtigkeit ist beispielsweise im dänischen Gesundheitssystem verankert. Dieses Prinzip bedeutet, dass jede Person das Recht auf einen gleichwertigen, kostenlosen und niedrigschwelligen Zugang zu einer notwendigen Behandlung hat. Eine Hebamme hat die Pflicht, jede Person fair und respektvoll zu behandeln. Sie darf niemanden beispielsweise aufgrund der sozialen Stellung, Sexualität oder ihrer politischen Einstellung diskriminieren.

 

Internationaler Ethikkodex für Hebammen

 

Im Internationalen Ethikkodex für Hebammen (ICM 2008, DHV) finden sich die oben genannten Grundsätze: »Der Ethikkodex erkennt Frauen als Person mit Menschenrechten an. Er strebt Gerechtigkeit für alle Menschen an und Gleichheit bezüglich des Zugangs zur Gesundheitsversorgung. Er basiert auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen und der Anerkennung der Würde aller Mitglieder der Gesellschaft.«

Ein ethisches Dilemma zu betrachten, bedeutet nicht einfach, ein Problem zu lösen. Ein Problem ist normalerweise lösbar, aber bei einem ethischen Dilemma muss sich für oder gegen etwas entscheiden (Mortensen 2018). Ethische Werte im Gesundheitsversorgungssystem und ethische Kodizes der Professionen beeinflussen die Art und Weise, wie wir uns im Arbeitsalltag verhalten und für die uns Anvertrauten sorgen. Es ist paradox: Je häufiger wir als Hebamme unser Handeln strukturiert moralisch hinterfragen, desto selbstsicherer werden wir in unserer Arbeit. Wir stellen uns dann den besonders schwierigen Fragen und erkennen sie als Dilemmata an. Tatsächlich werden ethische Dilemmata dadurch nicht einfacher, gemeinsam mit den Frauen zu entscheiden. Weniger zu bevormunden, wird dadurch allerdings leichter.

 

Ein Modell für ethische Reflexion

 

Für mehr Achtsamkeit im Umgang mit ethischen Dilemmata wurden in Dänemark an verschiedenen Krankenhäusern Ethik-Komitees etabliert. Hier werden Einzelfälle reflektiert, um ethischem Handeln einen größeren Raum im Klinikalltag zu geben. Es werden aber keine Entscheidungen getroffen. Dabei wird mit verschiedenen Reflexionsmodellen gearbeitet, die alle das gleiche Ziel verfolgen: eine strukturierte und systematische Vorgehensweise zur Verfügung zu stellen, die es ermöglicht, einen Fall unter ethischen Gesichtspunkten zu klären und die ethische Entscheidungsfindung zu unterstützen.

Das norwegische Zentrum für Medizinethik (SME) hat ein Modell für ethische Reflexion entwickelt. Dieses wird in verschiedenen Versionen in dänischen Ethik-Komitees angewendet, der jeweiligen Fragestellung angepasst. Es werden auch noch andere Modelle verwendet, so beispielsweise das „4C-Modell“, das sich auf Kontext, Konsequenzen, Bedenken und Konflikte konzentriert (Knox 2014).

Inspiriert vom lokalen Ethik-Ausschuss, in dem ich selbst Mitglied bin, nutze ich selbst das »SME-Modell« als Werkzeug für die strukturierte ethische Reflexion. Sowohl in der theoretischen und praktischen Ausbildung der Hebammenstudierenden als auch in der Arbeit mit ausgebildeten Hebammen an der Kopenhagener Hochschule.

Die Ethikausbildung findet zwei Mal im Verlauf des Hebammenstudiums statt. Dabei werden die Grundsätze der moralischen Philosophie vermittelt. So erhalten die Studierenden eine Einführung in Tugend-, Pflichten- und Nutzenethik. Unser Hauptanliegen ist es, den Studierenden Werkzeuge an die Hand zu geben, durch die sie verstehen, dass es verschiedene Handlungsmöglichkeiten gibt, je nachdem, welchen ethischen Standpunkt sie vertreten. Graduierte Hebammen haben die Möglichkeit, drei Mal im Halbjahr an den Meetings teilzunehmen, um ihre eigenen Fälle ethisch zu reflektieren. Wir haben festgestellt, dass von Hebammenseite ein zunehmendes Interesse besteht, ethische Dilemmata mit einem strukturierten Modell zu bearbeiten. Das unterstreicht die Bedeutung von Ethik, als eine Möglichkeit, Dilemmata zu verstehen und damit umzugehen.

In der Abbildung wurde das ethische Reflexionsmodell (SME) für den Einsatz im Hebammenkontext angepasst. Relativ früh in der Ausbildung wird aus bekannten schwierigen Situationen im Hebammenalltag ein Fall konstruiert. Später basieren die Fälle auf selbst er­lebten Situationen. Zuerst versuchen wir herauszufinden, ob der Fall ein ethisches Problem darstellt. Das Modell besteht aus sechs Schritten. Es ist wichtig, die einzelnen Schritte konsequent durch­zuführen, auch wenn es verlockend ist, schneller zum Ergebnis zu kommen.

 

 

Das ethische Reflexionsmodell – sechs Schritte

 

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 03/2020

Literatur

Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics (7th ed.) New York. Oxford University Press 2013

Birkler J: Etisk håndværk – håndtering af etiske dilemmaer i klinisk sygepleje. [Ethical craftsmanship - dealing with ethical dilemmas in clinical nursing] København Munksgaard. Kap. 1. 2009

Foster IR, Lasser J: Professional Ethics in Midwifery Practice. Jones and Bartlett’s Publishers 2011. Chapter 1 12
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