Studie über extrem Frühgeborene aus den USA

Die Eltern entscheiden: Lebenserhaltende oder palliative Behandlung?

  • Die steigenden Überlebensraten bei immer extremer frühgeborenen Kindern haben ihren Preis: Viele leiden unter schweren Komplikationen.

  • In den USA erhalten Kinder, die in der 22. Schwangerschaftswoche geboren werden, zunehmend lebenserhaltende Maßnahmen. Ihre Überlebenschancen steigen, aber viele kämpfen mit schweren Komplikationen, wie eine aktuelle Studie im Fachblatt Pediatrics zeigt.

    »Es handelt sich hier um die biologische Grenze der Lebensfähigkeit im Sinne einer strukturellen (Lungen-)Unreife, das heißt, vor der 22.-24. Schwangerschaftswoche ist kein Gasaustausch und damit kein Überleben möglich, weil die Lunge anatomisch noch nicht ausreichend entwickelt ist«, sagte Dominique Singer, Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

     

    Im Graubereich

     

    Über die Behandlung solcher Extremfrühgeborenen gehen die Meinungen auseinander: Sollte in diesem »Graubereich« eine Behandlung in lebenserhaltender Absicht erfolgen oder sollte nicht besser von Anfang an ein palliativer Weg eingeschlagen werden?

    Die Forschenden der US-Studie um Erika M. Edwards analysierten die Daten von 22.953 Kindern, die von 2020 bis 2022 zwischen der 22. und 25. Schwangerschaftswoche zur Welt kamen und in Level-3- und Level-4-Neugeborenenintensivstationen (NICU) in den USA behandelt wurden. Nur jedes vierte Kind, das in der 22. Woche auf die Welt kam, überlebte, während es von den Kindern, die in der 25. Woche geboren wurden, 82 % waren.

    Bei 68 % der in der 22. Woche geborenen Kinder wurden postnatal lebensunterstützende Maßnahmen eingeleitet – von diesen Kindern überlebten 35,4 %. Sie wurden mechanisch beatmet und ihr Kreislauf wurde durch Infusionen stabilisiert. Der Anteil dieser Kinder stieg von 61,6 % im Jahr 2020 auf 73,7 % im Jahr 2022. Aber nur 6,3 % davon blieben von schweren Komplikationen wie Blutungen, Lungenerkrankungen oder Infektionen verschont. Zusätzlich stellten die Forschenden bei den Extremfrühgeborenen eine erhebliche Abhängigkeit von medizinischen Geräten bei der Entlassung fest. Viele Kinder benötigten Sauerstoff, Ernährungssonden oder Überwachungsmonitore.

     

    Ethische Fragen

     

    Ähnlich wie in den USA sind die Überlebenschancen in spezialisierten Perinatalzentren auch in Deutschland gestiegen. Doch mit der Verbesserung der Überlebensraten treten auch hier ethische Fragen in den Vordergrund.

    Prinzipiell habe jedes Kind das Recht auf eine medizinische Behandlung, die an der Grenze der Überlebensfähigkeit mit einem kurativen oder auch palliativen Ziel erfolgen könne, erklärt Mario Rüdiger, Leiter des Fachbereiches Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin am Dresdener Universitätsklinikum Carl Gustav Carus und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin.

    Dem Wunsch der Eltern als Interessenvertretern des Kindes komme hier große Bedeutung zu. »Wünschen sie eine kurative Behandlung und hat das Kind keine zusätzlichen Faktoren, die ein Überleben unwahrscheinlich erscheinen lassen – etwa einen bei diesem niedrigen Gewicht inoperablen angeborenen Herzfehler oder eine schwere Infektion, die mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht überlebt werden kann – so ist der Beginn einer optimalen und vollumfänglichen postnatalen Lebensunterstützung auch nach einer Schwangerschaftsdauer von 22 Wochen absolut angebracht«, so Rüdiger.

    Eine wichtige Voraussetzung sei ein ausführliches Gespräch mit den Eltern, in dem sowohl das kurative als auch das palliative Vorgehen sowie die sich daraus ergebenden Risiken thematisiert werden. Hilfestellung könne die S2k-Leitlinie »Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit« geben.

     

    Überleben um jeden Preis?

     

    Die steigenden Überlebensraten bei immer extremer frühgeborenen Kindern haben ihren Preis: »Dieser Erfolg wird mit einer hohen Rate an Morbidität bezahlt, die sich an der biologischen Grenze der Lebensfähigkeit sozusagen exponentiell zuspitzt«, sagt der Hamburger Neonatologe Singer. »Der vorzeitige Übergang von der intrauterinen in die extrauterine Umwelt hat Auswirkungen, die sich auch durch die beste und sanfteste neonatologische Therapie nicht vermeiden lassen.«

    Ob ein Vorgehen in lebenserhaltender Absicht als Überbehandlung oder als gerechtfertigt anzusehen sei, bleibe umstritten, sagt Bührer. Es könne nur von Fall zu Fall von den Eltern und Ärzt:innen gemeinsam entschieden werden. »Für diese Entscheidungsfindung sind Ergebnisse, wie sie in dieser Studie zusammengestellt wurden, von großer Wichtigkeit«, ergänzt er. »Ausschlaggebend sind aber letztlich die Wertvorstellungen der Eltern und das, was sie für ihr Kind möchten«

    Quelle: Edwards, E. M., Ehret, D. E. Y., Soll, R. F., & Horbar, J. D. (2024). Survival of Infants Born at 22 to 25 Weeks' Gestation Receiving Care in the NICU: 2020-2022. Pediatrics154(4), e2024065963. https://doi.org/10.1542/peds.2024-065963 ∙ aerzteblatt.de, 1.10.2024/DHZ

    Rubrik: Geburt

    Erscheinungsdatum: 08.10.2024