Systematische Übersichtsarbeit

Beckenbodenproblemen interdisziplinär begegnen

  • Die Aufgabenbereiche zum Themenkomplex der Beckenbodenprotektion überschneiden sich zwischen verschiedenen Berufsgruppen – der interprofessionelle Blick bietet Chancen für Prävention und Protektion.

  • Die Funktion des weiblichen Beckenbodens kann durch Schwangerschaft und Geburt beeinträchtigt werden: Probleme wie Harninkontinenz, Stuhlinkontinenz und Senkungsbeschwerden können auftreten. 

    Ungefähr ein Viertel aller Frauen sind im Laufe ihres Lebens mit einem oder mehreren dieser Symptome konfrontiert. Einflussfaktoren auf das Auftreten von Funktionsstörungen des weiblichen Beckenbodens sind Alter, Gewicht, Geburtsmodus und die Anzahl der Schwangerschaften.

    Hierbei wurde häufig auf eine mögliche protektive Wirkung durch eine elektive Kaiserschnittentbindung verwiesen. Publikationen der vergangenen Jahre zeigen jedoch, neben dem Entbindungsmodus, eine Vielzahl anderer interprofessioneller und interdisziplinärer Möglichkeiten auf, die eine protektive Wirkung auf den weiblichen Beckenboden haben. Durchgeführt wurde eine systematische Übersichtsarbeit zu prä-, intra- und postpartalen Einflussfaktoren auf die Funktion und mögliche protektive Wirkung des weiblichen Beckenbodens.

     

    Präpartale Möglichkeiten

     

    Funktionelles Beckenbodentraining geht mit einer Verkürzung der Geburtsphase sowie einem geringeren Risiko einher, nach der Geburt eine Urin- oder Analinkontinenz zu entwickeln.

    Der Effekt einer Dammmassage mit dem Beginn in der 34. bis 36. Schwangerschaftswoche trägt zu einem reduzierten Schmerzempfinden im Dammbereich bei. Phytotherapeutische Präventionsmöglichkeiten, wie beispielsweise das Trinken von Himbeerblättertee, zeigen keinen nachgewiesenen protektiven Effekt auf den weiblichen Beckenboden, könnten jedoch Frauen in ihrer mentalen Geburtsvorbereitung unterstützen.

     

    Intrapartale Möglichkeiten

     

    Die Datenlage zu verschiedenen Dammschutztechniken des klassischen Dammschutzes mit Protektion des Dammgewebes (»hands on«), dem bewussten Verzicht auf einen Dammschutz (»hands-off«) sowie einer Verringerung der Durchtrittsgeschwindigkeit des kindlichen Köpfchens durch eine Hand bei gleichzeitigem Verzicht auf die Protektion des Dammgewebes (»hands-poised«) wird uneinheitlich beschrieben.

    Es scheinen Hinweise vorzuliegen, dass »Hands-off« mit einer geringeren Episiotomierate einhergeht, jedoch vermehrt Risse des Sphinkters auftreten können. Warme Dammkompressen zur Kopfgeburt bewirken weniger Geburtsverletzungen und gehen mit einer geringeren Episiotomierate einher, wobei unklar bleibt, welche Temperatur empfohlen wird und ob Zusätze wie Kaffee weitere Vorteile bewirken.

    Eine aufrechte Gebärhaltung geht mit einem geringeren Risiko für Episiotomien und einem leicht erhöhten Risiko für Geburtsverletzungen einher. Diese Rate verringert sich jedoch, wenn die Frau spontan mitschieben kann und nicht zum Pressen angeleitet wird. Das spontane Mitschieben sollte gefördert werden. Die Geburtsdauer selbst wird in verschiedenen Studien unterschiedlich bewertet und sollte weiter erforscht werden, um zu einer guten Balance zwischen Abwarten und Eingreifen zu finden.

    Bei vaginal-operativen Geburten wird das Anlegen einer mediolateralen Episiotomie protektiv in Bezug auf das Auftreten schwerer Geburtsverletzungen bewertet.

     

    Postpartale Möglichkeiten

     

    Die frühe Beckenbodensensibilisierung wird empfohlen, um darauf die weitere Arbeit am Beckenboden aufzubauen. Die funktionelle Beckenbodengymnastik hat einen signifikanten regenerativen Effekt bei Vorliegen einer Urininkontinenz. Besonderer Wert kommt einem bewussten beckenbodenschonenden Verhaltens im Alltag zu.

    Die ideale Prävention möglicher Funktionsstörungen des weiblichen Beckenbodens nach der Geburt wird durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Hebammen, Physiotherapeut:innen, Gynäkolog:innen und Urogynäkolog:innen erreicht.

    Die Autor:innen schlussfolgern aus ihren Ergebnissen, dass sich die Aufgabenbereiche zum Themenkomplex der Beckenbodenprotektion zwischen verschiedene Berufsgruppen überschneiden. Sie sehen ihre Ergebnisse als Diskussionsgrundlage, um eine nachhaltige Reduktion der Inzidenz und Prävalenz von Beckenbodenerkrankungen bei Frauen zu erreichen. Die Autor:innen empfehlen, die Möglichkeiten einer interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Hebammen, Physiotherapeut:innen, Gynäkolog:innen und Urogynäkolog:innen im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung des weiblichen Beckenbodens in der Praxis umzusetzen.

    Hübner, M., Rothe, C., Plappert, C., & Baeßler, K. (2022). Aspects of Pelvic Floor Protection in Spontaneous Delivery - a Review. Geburtshilfe und Frauenheilkunde, 82(4), 400–409. https://doi.org/10.1055/a-1515-2622 ∙ Beate Ramsayer/DHZ

    Rubrik: Medizin & Wissenschaft

    Erscheinungsdatum: 24.11.2022