Hexadaktylie

Kein Grund zur Sorge

Wenn ein Baby mit zu vielen Fingern oder Zehen geboren wird, ist das vielleicht ein kleiner Schreck, jedoch in der Regel harmlos. Schon vor Jahrhunderten gab es Dokumentationen über Kinder mit Polydaktylie. Was genau versteht man darunter und was bedeutet es für die betroffenen Familien? BSc, Bakk. rer. nat. Kathrin Mattes
  • Hexadaktylie am linken Fuß

  • Hexadaktylie am rechtenFuß

  • Hinweise auf die Existenz von Menschen mit Polydaktylie – also einer höheren Zahl an Fingern und/oder Zehen als üblich – sind auf historischen Darstellungen in vielen Teilen der Welt zu finden. Felsbilder indigener Völker, die zwischen 600 und 1.280 n. Chr. im Nordwesten Amerikas entstanden, zeigen eine Vielzahl gemalter Fußabdrücke mit sechs Zehen und einige Handabdrücke mit sechs Fingern (Hirthler & Hutchison, 2012). Auch in Südamerika, an der Küste der chilenischen Atacama-Wüste, wurden Felsbilder von Händen und Füßen mit sechs Fingern oder Zehen gefunden, die vor 550 bis 3.000 Jahren entstanden, sowie Überreste zweier Menschen mit Polydaktylie, die vor 3.000 bis 9.000 Jahren lebten (Standen et al., 2018). Bei Ausgrabungen im afrikanischen Sambia wurden menschliche Überreste einer Person mit Polydaktylie gefunden und auf 1100 bis 1500 n. Chr. datiert (Murphy, 1999). In Gemälden der Renaissance kommen des öfteren überzählige Zehen vor (Coralli & Perciaccante, 2015; Lazzeri et al., 2015). Und in der gotischen Wallfahrtskirche der niederösterreichischen Gemeinde Maria Laach existiert ein Gnadenbild der heiligen Maria aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, auf dem ihre rechte Hand sechs Finger aufweist. Dabei kommt der Hexadaktylie eine besondere Bedeutung zu (siehe Kasten). Selbst in der Bibel wird sie erwähnt – in einer Passage im Alten Testament heißt es: »Da trat ein Mann von riesenhafter Größe auf; er hatte an jeder Hand sechs Finger und an jedem Fuß sechs Zehen, zusammen vierundzwanzig.« (González & Pérez, 1993).

     

    Die vollkommene Zahl 6

     

     

     

    Bischof Albin heilt einen blinden Mönch (Vita Sancti Albini, um 1100)

    Foto: © Urner-Astholz, H. Sechs Finger und sechs Zehen in der mittelalterlichen Symbolik. Zeitschrift fü¨r schweizerische Archä¨ologie und Kunstgeschichte. 1997 (54)4

    In der Zahl 6 lag in der antiken und mittelalterlichen Philosophie die kreatürliche Vollendung beschlossen. Platon und Aristoteles galt sie als «vollkommene» Zahl in der Arithmetik. Euklid begründete ihre Vollkommenheit damit, dass sie die «Summe ihrer Teile» sei – nämlich eins und zwei und drei. Diese Einschätzung hielt sich bis ins hohe Mittelalter. Zu dieser rechnerisch-philosophischen Betrachtung trat zu Beginn des 12. Jahrhunderts besonders in den der Mystik nahestehenden Kreisen die Suche nach einer theologischen Erkenntnis aus der Heiligen Schrift. Theologen wie der Abt Ruprecht von Deutz und der gelehrte Chorherr Garnerus von St. Viktor formulierten immer wieder den Vollkommenheitscharakter der «heiligen» Zahl 6. Dabei enthüllte sich ihnen ihr Zusammenhang mit dem Sechstagewerk im Schöpfungsbericht der Genesis.

    Schon im 6. Jahrhundert wurde der Hexadaktylie eine lebensspendende Komponente zugeschrieben. Nach der in verschiedenen Schriften überlieferten Vita des Heiligen Albinus lebte dieser im 6. Jahrhundert. Er soll aus einer vornehmen englischen Familie gestammt haben, die sich in der Bretagne niedergelassen hatte. Um sich abseits der Welt einem heiligmäßigen Leben widmen zu können, trat er in ein Kloster nahe bei Angers ein. Nach vielen Jahren als Abt, wurde er zum Bischof von Angers geweiht. Zu den Wundertaten, die ihm zugeschrieben wurden, gehörten auch Blindenheilungen, dargestellt in Buchmalereien des ausgehenden 11. Jahrhunderts, bei denen der Heilige Albinus in bischöfliche Gewänder gekleidet ist. Mit seiner im Segensgruß erhobenen rechten Hand gibt er einem blinden Mönch das Augenlicht zurück. Diese Hand ist symbolhaft mit sechs Fingern ausgestattet.

    Von Peggy Seehafer

     

     

    Prävalenz und Ursachen

     

    Heute handelt es sich bei der Polydaktylie um eine der häufigsten angeborenen Fehlbildungen der Gliedmaßen (Shubha et al., 2010; Chong, 2010). Sie kann an einer oder mehreren Extremitäten vorkommen (Minguella-Solá & Cabrera-González, 1999). Die Häufigkeit variiert stark in verschiedenen Populationen (Galois et al., 2002). Sie liegt laut der European Platform on Rare Disease Registration in Europa bei rund 1 pro 1.000 Lebendgeburten. In Israel sind es 0,5 (Yeshayahu et al., 2014), in Chile 1,3 (Cifuentes et al., 1996), in Spanien und Lateinamerika 1,6 (Castilla et al., 1996), in Mexiko 1,73 (Pérez-Molina et al., 1993) und in einer Population Schwarzer Menschen in Südafrika 10,4 pro 1.000 Lebendgeburten (Kromberg & Jenkins, 1982). Generell kommt Polydaktylie bei Schwarzen um ein Vielfaches häufiger vor als bei weißen Menschen (Altemus et al., 1965; Meltzer, 1987, Woolf & Myrianthopolous, 1973, Erickson, 1976, Holmes et al., 2018). Außerdem sind männliche Säuglinge häufiger betroffen als weibliche (Meltzer, 1987, Cifuentes et al. 1996; Minguella-Solá & Cabrera-González, 1999; Holmes et al., 2018).

     

     

    Abbildung 1: Bei der Ultraschalluntersuchung in der 12. Schwangerschaftswoche fiel auf, dass das Kind an beiden Füßen jeweils sechs Zehen besaß.

    Die Anzahl der Zehen oder Finger kann unterschiedlich sein. Die mit Abstand häufigste Form ist jedoch die Hexadaktylie mit sechs Fingern oder Zehen an einer oder mehreren Gliedmaßen (Castilla et al., 1996). Polydaktylie kann isoliert auftreten, als Folge spontaner Mutationen in verschiedenen Genen, die auch vererbt werden können, oder aber im Rahmen einiger genetischer Syndrome (Biesecker, 2011; Deng et al., 2015). Deshalb werden betroffene Neugeborene oft sehr genau untersucht. Bei den Eltern kann dies große Sorgen auslösen – vor allem, wenn nicht kommuniziert wird, dass 85 % aller Kinder mit Polydaktylie völlig gesund sind (Castilla et al., 1998). Auch im Fall des Kindes in Abbildung 1 wurde dies versäumt: So waren die Eltern von der Entdeckung der Polydaktylie im Ultraschall in der 12. Schwangerschaftswoche bis zur Geburt und anschließenden Untersuchung ihres gesunden Kindes sehr besorgt.

    Dabei ist gerade die bei diesem Kind vorliegende postaxiale Hexadaktylie (was bedeutet, dass die fünfte Zehe beziehungsweise der fünfte Finger verdoppelt ist) am seltensten mit Syndromen assoziiert, nämlich nur in 11,8 % der Fälle. Dagegen sind es bei präaxialer Polydaktylie (Daumen oder große Zehe verdoppelt) 20 % und bei selteneren Polydaktylien 54,9 %. Die Mehrheit der syndrombedingten Fälle geht auf Trisomie 13, Trisomie 21 und das Meckel Syndrom zurück (Castilla et al. 1998).

     

    Viele Ausprägungen

     

    Zusätzliche Zehen oder Finger können unterschiedlich weit entwickelt sein: Von kleinen Hautanhängseln ohne Knochen und

     

    Abbildung 2: Während der rechte Fuß lediglich einen sechsten Zeh aufweist, ist links zusätzlich der fünfte Mittelfußknochen gabelförmig ausgebildet.

    Muskulatur bis hin zu vollwertigen und aktiv beweglichen Fingern oder Zehen sind alle Ausprägungen möglich (Meltzer 1987, Galois et al. 2002). Bei dem in Abbildung 2 vorgestellten Kind enthält die zusätzliche Zehe auf beiden Seiten Knochen. Wie die Röntgenbilder zeigen, ist am linken Fuß außerdem der fünfte Mittelfußknochen gegabelt.

     

    Operation möglich, aber nicht immer notwendig

     

    Die meisten Menschen mit Polydaktylie werden bereits im Säuglingsalter operiert (Galois et al., 2002), auch wenn dazu in der Regel keine dringende Notwendigkeit besteht. Ästhetische Gründe und Angst vor Mobbing spielen bei der Entscheidung der Eltern ebenso eine Rolle wie praktische und funktionelle Gründe – es kann beispielsweise schwierig bis unmöglich sein, passende Schuhe für Kinder mit sechs oder mehr Zehen pro Fuß zu finden. Bei Anhängseln ohne aktive Beweglichkeit und teils auch ohne Sensibilität besteht zudem Verletzungsgefahr durch Hängenbleiben.

    An der Hand werden zusätzliche Finger, die nicht aktiv beweglich sind und nur an einem dünnen Stück Haut hängen, häufig kurz nach der Geburt abgebunden, statt sie operativ zu entfernen. Grundsätzlich gelten beide Methoden als sicher und effektiv, die Literatur zeigt aber eine leichte Überlegenheit der operativen Korrektur, da hier seltener Komplikationen wie Neurome auftreten und im Gegensatz zur Ligatur meist kein Restgewebe des entfernten Fingers verbleibt (Chopan et al., 2020, San Chow et al., 2021).

    Zur Entfernung überzähliger Zehen gibt es weniger Literatur. Das Ziel der Operation ist grundsätzlich ein stabiler, beweglicher und schmerzfreier Fuß mit fünf unauffällig aussehenden Zehen, die das Tragen gewöhnlicher Schuhe und schmerzfreies Gehen ermöglichen (Kelly et al., 2021). Während bei doppelter Ausbildung der kleinen Zehe oft pauschal empfohlen wird, die sechste zu entfernen, sind manche Autor:innen auch der Meinung, man solle individuell anhand der Bildgebung entscheiden, um das beste kosmetische und funktionelle Ergebnis zu erzielen, auch wenn das eventuell eine komplexere Operation erfordert (Morley & Smith, 2001; Galois et al., 2002).

     

    Fallbeispiel: Zeh entfernt

     

     

     

    Abbildung 3: Der Chirurg markierte auf dem Röntgenbild links, wie der fünfte Mittelfußknochen geteilt werden sollte. Auf dem rechten, postoperativen Bild ist der neu zusammengesetzte Knochen zu sehen.

    Genau das ist auch im gezeigten Fall geschehen: Rechts war die Operation unkompliziert, der sechste Zeh wurde entfernt. Links war der Eingriff durch den gegabelten Mittelfußknochen schwieriger. In Absprache mit dem Operateur beobachteten die Eltern vorab monatelang, ob das Kind die sechste Zehe am linken Fuß aktiv verwendete – man kann beispielsweise beobachten, welche Zehen sich beim Spielen mehr bewegen und welche nur »dranhängen«, welche beim Robben aktiver sind und welche aktiv sind, wenn sich das Kind in den Stand hochzieht. Da sich zeigte, dass diese Zehe sogar viel aktiver war als die fünfte, fiel die Wahl auf die kompliziertere Variante: Nicht der sechste, sondern der fünfte Zeh wurde entfernt, der Mittelfußknochen in mehrere Teile zerlegt und so wieder zusammengesetzt, dass Gelenkstellung und Sehnenverlauf möglichst passend waren (siehe Abbildung 3).

    Der Chirurg warnte vorab, dass je nach Verlauf der Operation eine Gipsversorgung nötig sein könnte. Deshalb erfolgte die Operation mit elf Monaten vor Laufbeginn, so dass der potenzielle Gips weniger störend war. Und so war es auch: Da sich der Knochen leider nicht wie geplant verschrauben ließ, wurde er stattdessen mit Draht fixiert, der durch die Haut ragte, um nach vier Wochen unkompliziert entfernt werden zu können. Der Gips hinderte das Kind daran, die Drähte selbst herauszuziehen (siehe Abbildung 4).

    Vor dem Eingriff musste das Kind vier Stunden lang nüchtern sein. Die Mutter machte sich Sorgen, doch durch die

     

    Abbildung 4: Postoperativ wurde das rechte Bein bandagiert und das linke aufgrund der komplexeren OP eingegipst.

    Ablenkung im Krankenhaus funktionierte es problemlos. Ihr Kind in die Obhut des OP-Teams zu übergeben, fiel ihr schwer – noch dazu wartete sie länger als gedacht, weil die Narkose für die Gipsanlage und Trocknungszeit verlängert wurde. Doch dann waren sie wieder vereint, beim Aufwachen wurde zum Trost gleich gestillt. Weil das Kind kaum Schmerzen hatte und die Heimreise nicht weit war, erfolgte die Entlassung schon am zweiten Abend danach.

    Die Mutter empfand die physiotherapeutische Nachbehandlung als essenziell. Sie begann wenige Tage postoperativ, wobei die Ziele anfangs Durchblutungsverbesserung, Schwellungsreduktion und der Erhalt der Beweglichkeit der nicht eingegipsten Gelenke waren. Später wurden die Narben behandelt und weiter an Gelenkbeweglichkeit und Kraft gearbeitet, um die durch den Gips entstandene Schonhaltung zu verringern und eine normale und symmetrische Belastung beider Füße zu erreichen. Mit 16 Monaten konnte das Kind frei laufen. Der linke Vorfuß blieb etwas breiter als der rechte, was bei der Wahl des Schuhwerks berücksichtigt werden muss. Die Mutter entwarf ihr eigenes Schnittmuster für maßangefertigte Lederpuschen, um beiden Füßen eine optimale Passform zu bieten.

    Abbildung 5: Am linken Fuß – hier rechts im Bild – wurde das OP-Ergebnis mit Draht fixiert, der durch die Haut ragte, sichtbar auf der Kleinzehenseite.

     

    Abbildung 6 und 6.1: Die Narbenbehandlung war ein wichtiger Teil der postoperativen Physiotherapie.

     

    Abbildung 7: Die Größe der Füße hat zugenommen, die Anzahl der Zehen abgenommen. Passende Schuhe zu finden ist nun deutlich einfacher geworden.

     

     

     

    Rubrik: Ausgabe 11/2022

    Erscheinungsdatum: 27.10.2022

    Literatur

    Literatur

    Altemus, L.A., Ferquson, A.D. (1965). Comparative incidence of birth defects in Negro and white children. Pediatrics 1965;36:56–61.

    Biesecker, L.G. (2011). Polydactyly: how many disorders and how many genes? 2010 update. Dev Dyn. 240(5):931–42. doi: 10.1002/dvdy.22609

    Castilla, E.E., Lugarinho da Fonseca, R., da Graça Dutra, M., Bermejo, E., Cuevas, L., Martínez-Frías, M.L. (1996). Epidemiological analysis of rare polydactylies. Am J Med Genet. 11;65(4):295–303. doi: 10.1002/(SICI)1096–8628 (19961111)65:4<295:AID-AJMG10>3.0.CO;2-P

    Castilla, E.E., Lugarinho, R., da Graça Dutra, M., Salgado, L.J. (1998). Associated anomalies in individuals with polydactyly. Am J Med Genet. 28;80(5):459–65. doi: 10.1002/(sici)1096–8628(19981228)80:5<459:aid-ajmg5>3.0.co;2-g

    Chong, A.K. (2010). Common congenital hand conditions. Singapore Med J. 51(12):965–971.

    Chopan, M., Sayadi, L., Chim, H., Buchanan, P.J. (2020). To Tie or Not to Tie: A Systematic Review...

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