Verständigung per Handzeichen?
Seit es Menschen auf der Erde gibt, verwenden sie Gebärden – ob bewusst oder unbewusst: Mit Mimik, Gesten und Handzeichen verständigen sie sich ohne Worte. Schon nach wenigen Tagen benutzt etwa das Neugeborene seine Gesichtsmuskulatur, um die Mimik anderer Menschen nachzuahmen (Meltzoff & Moore 1977). Und sobald der Säugling seine Gliedmaßen einigermaßen unter motorischer Kontrolle hat, setzt er sie auch ein, um seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen: Er strampelt wie wild und rudert mit den Armen, wenn er sich auf etwas freut oder erregt ist. Sobald die Feinmotorik der Hände so weit ausgereift ist, wird auch die Hand zum Kommunikationsinstrument – etwa um auf Gegenstände zu deuten.
In den 1980er Jahren begeisterten sich in den USA immer mehr Eltern für die Idee, mithilfe von eingeübten Handzeichen die nonverbale Kommunikation zwischen Erwachsenen und Babys zu erweitern und möglicherweise zu verbessern. Als eine weitere Methode der kognitiven Förderung wurde die Gebärdensprache auch von kommerziellen Anbietern vermarktet. »Baby sign language« oder kurz »baby signing« wird seither weltweit in vielen Variationen praktiziert und in unterschiedlichsten Kursen gelehrt und eingeübt.
Auch hierzulande interessieren sich viele Eltern für »Babyzeichen«, »Handzeichen«, »Zwergensprache« oder »Babysignale« und nutzen die entsprechende Infoliteratur in Büchern, dem Internet oder besuchen mit ihren Babys die Kurse einschlägiger Anbieter.
Dabei wird keine »Sprache« im eigentlichen Sinn erlernt – also eine Kommunikationsform mit komplexen Regeln und Grammatik, was etwa die Gebärdensprache für Gehörlose auszeichnet –, sondern einfach bestimmte Tätigkeiten, Dinge oder Gefühle mit Handzeichen verbunden. Die Handzeichen werden dabei entweder im alltäglichen Miteinander frei erfunden, oder sie werden definierten »Zeichen-Wörterbüchern« entnommen. Die darin beschriebenen Handzeichen sind zumeist von den Gebärden abgeleitet, die in der »American Sign Language« verwendet werden.
Mögliche Vorteile der Zeichensprache
- Dem Einüben von Gebärden auch bei nicht hörgeschädigten Kindern werden mehrere positive, förderliche oder zumindest für den Alltag hilfreiche Effekte zugesprochen (Valloton 2011): Die Kinder würden durch das Erlernen von Gebärden kommunikationsfreudiger. Auch erweitere die Gebärdensprache die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Eltern und Kind, da das Kind nun zum Beispiel auf Dinge hinweisen könne, die es gerne hätte, die aber nicht in seinem Blickfeld sind.
- Babys und vor allem Kleinkinder könnten sich durch die Verwendung von Handzeichen besser ausdrücken, sie seien durch die effektivere Kommunikation emotional ausgeglichener, selbstsicherer und weniger frustriert. Dadurch werde zum Beispiel die Trotzphase gelindert.
- Wenn Eltern mit ihren Babys universelle Zeichen einüben, könnten auch Menschen, die die Babys weniger gut kennen, mit ihnen effektiv kommunizieren.
- Die Zeichenübungen könnten das Kind beim Spracherwerb unterstützen, da dieses schon früh lerne, sich auf symbolische Kommunikation einzustellen.
- Die Hoffnungen richten sich aber auch auf die Förderung der Eltern-Kind-Beziehung und auf ein besseres Verständnis des Kindes und seines Denkens und Empfindens. (»Nutze Baby-Handzeichen, und dein Baby zeigt dir, was es denkt«, so der Werbespruch eines Anbieters; www.baby-handzeichen.de)
Was ist dran an den Hoffnungen?
Fragt man Eltern, so reichen die Antworten von »bin begeistert« bis »hat sich für uns nicht gelohnt«. Was wäre auch anders zu erwarten? Schließlich vollzieht sich alles, was Menschen miteinander tun, in einem Tauchbad von Gefühlen und Wahrnehmungen – und die sind nun einmal subjektiv.
Was sagt die Wissenschaft? Auch die Forschung kann in diesem Tauchbad nicht die Spreu vom Weizen trennen. Bis heute liegen keine methodisch hochwertigen Studien zu möglichen Vor- oder Nachteilen des Einübens spezieller Gebärden mit gesunden, normal entwickelten Säuglingen oder Kleinkindern vor.
Das liegt vor allem an methodischen Schwierigkeiten, die immer dann auftreten, wenn sich Eltern aus freier Entscheidung für eine bestimmte »Methode« entscheiden, die zudem schwer zu standardisieren ist. Wie sollen da sinnvolle Vergleichsgruppen gebildet werden? Und wie sollen die Effekte gemessen werden? Wie soll herausgefunden werden, ob sich eventuelle Änderungen als Folge der Verwendung von Zeichen eingestellt haben – oder einfach dadurch, dass man »miteinander etwas macht«?
Solche Studien sind nicht von dieser Welt, und deshalb sind alle wissenschaftlichen »Nachweise« angeblicher Wirkungen einer durch Gebärden angereicherten Kommunikation mit Vorsicht zu genießen. Das gilt insbesondere, wenn sie sich auf mögliche Effekte auf die kindliche Entwicklung beziehen. Daher verwundert es auch nicht, dass sich die verfügbaren Studien selbst in Kernaussagen widersprechen. So glaubt etwa Susan Goodwyn, einen positiven Effekt des »signings« auf die Sprachentwicklung nachweisen zu können (Goodwyn et al. 2000). Elizabeth Kirk dagegen kann keine Auswirkungen auf die Sprachentwicklung feststellen (Kirk et al. 2013). Und Daniel Puccini nimmt aufgrund seiner Studie sogar eine Verzögerung der Sprachentwicklung bei den Kindern an, die mit Handzeichen aufwachsen (Puccini & Liszkowski 2012).
Auch die verfügbaren systematischen Übersichtsarbeiten können bis heute keine einzige Studie identifizieren, die eine wissenschaftlich verlässliche Aussage zum Nutzen oder Schaden des »baby signings« erlauben würde. (Johnston & Durieux-Smith 2005; Fitzpatrick et al. 2014 )
Alle angeblich »wissenschaftlich bewiesenen« Aussagen über positive oder negative Effekte der Gebärdensprache sind deshalb nichts anderes als in Wissenschaftssprech verpackte Behauptungen.
Wie kommen wir weiter?
Eine Einschätzung muss sich also auf indirekte Hinweise aus anderen Forschungsgebieten stützen und deren Befunde dann bewerten, in Bezug auf die im Raum stehenden Behauptungen. Da dies immer ein deduktiver und damit teilweise subjektiver Prozess ist, ist das Folgende als eigene, informierte Schlussfolgerung und Diskussionsgrundlage zu verstehen. Ich erhebe damit keinen Anspruch auf eine abschließende oder gar evidenzbasierte Bewertung (wie gesagt, die gibt es nicht).
Kann die begleitende Verwendung von Gebärden die Sprachentwicklung beeinflussen?
Legt man die Grundannahmen der Entwicklungspsychologie zugrunde, so ist das durchaus anzunehmen. Schließlich verändern sich durch die Einführung begleitender Zeichen die Rahmenbedingungen der alltäglichen Kommunikation, und die haben immer Rückwirkungen auf die Art des Spracherwerbs. Dass sich daraus allerdings eine verbesserte Sprachentwicklung oder eine erweiterte Sprachkompetenz ergibt, ist nicht plausibel. Der Spracherwerb ist ein hoch abgesicherter, vielgleisiger und extrem robuster Beziehungsprozess. Das zeigt sich auch darin, dass Eltern rund um die Erde die Kommunikation mit ihren Babys sehr unterschiedlich ausgestalten, und die Kinder trotzdem zu kompetenten Sprechern werden – solange die arttypischen Erwartungen nach einem sozial reichhaltigen und bedeutsamen Beziehungssystem erfüllt sind (Keller 2003). Selbst von Geburt an blinde Kinder erwerben in einem solchen Rahmen dasselbe Sprach- und Sprechvermögen wie sehende Kinder, solange ihnen sonst nichts fehlt – und das, obwohl sie zumindest von der visuellen Wahrnehmung von Gebärden ausgeschlossen sind (Pérez-Pereira 2006). Auch aus evolutionärer Sicht ist für einen so überlebensvorteiligen und deshalb tief kanalisierten Prozess wie die Sprachentwicklung nicht anzunehmen, dass sein Gelingen von kulturellen Sonderbedingungen abhinge.
Verbessert sich durch die Verwendung von Gebärdensprache die Eltern-Kind-Kommunikation und kann dies frustrationslösend wirken?
Auch das ist aus entwicklungspsychologischer Sicht möglich, schließlich besteht Kommunikation gerade zwischen Babys und Erwachsenen oft aus der Klärung von Missverständnissen. Die prompte Äußerung von Bedürfnissen kann solchen Missverständnissen (und der damit verbundenen Frustration) möglicherweise vorbeugen. Allerdings ist auch hier die Frage, welche Rolle der Verwendung von Gebärden dabei zukommt. Die Entwicklungspsychologie beschreibt, dass die Eltern-Kind-Kommunikation ein nur teilweise bewusstseinsfähiges, filigranes Geschehen ist. Dabei spielen Feinfühligkeit, gelungene Stressregulation und Einfühlungsvermögen entscheidende Rollen (Papoušek 2011; Meins & Fernyhough 2002). Dies legt nahe, dass der Flaschenhals des Kommunikationsgeschehens zwischen Eltern und Kind eher in der emotionalen Verfügbarkeit der Eltern liegt als in der Verfügbarkeit eines gemeinsamen Zeichen-Wortschatzes. Auch nutzen Menschenbabys in der Interaktion mit ihren Versorgern so vielfältige Kanäle und Kommunikationswege, dass ich eher eine andere Frage in den Vordergrund stellen würde: Was muss in diesem Beziehungsgeschehen alles schief laufen, wenn ein Baby sich darauf verlassen muss, dass es in seinen physiologischen Bedürfnisse wie »will schlafen« oder »bin hungrig« nur verstanden wird, wenn es die richtigen Handzeichen kennt?
Sind Babys durch die Verwendung von Gebärdensprache emotional ausgeglichener, weniger frustriert und weniger »zornig«?
Es gibt aus evolutionsbiologischer Sicht viele Gründe, warum kleine Kinder »zornig« sind. Eine nicht gelingende Kommunikation gehört dazu. Nun kann man natürlich behaupten, Frustration sei allein schon dadurch vorprogrammiert, dass Kindern im vorsprachlichen Alter ein effektiver Kommunikationskanal fehle. Und dieser fehlende Kanal ließe sich vielleicht durch die Einübung einer Zeichensprache installieren. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist die Annahme eines entwicklungsbedingten Kommunikations- und Frustrationsproblems allerdings nicht plausibel. Gesunde Kinder sollten aus evolutionärer Sicht in jedem Entwicklungsabschnitt alle Möglichkeiten haben, um so effektiv zu kommunizieren, dass sie unter arttypischen Bedingungen damit zumindest ihre überlebenswichtigen Bedürfnisse gestillt bekommen – und zwar, ohne dass dabei entwicklungshemmende Nebenwirkungen wie Frust, Depression und Selbstzweifel anfallen.
Aber in dem Gesagten liegt gleichzeitig auch der Grund, warum das Erlernen von Gebärden für manche Familien eben doch hilfreich sein kann.
Denn was ist der Motor des Beziehungsverhaltens in den Familien? Dass sich die Beteiligten wohl fühlen. Dass sie sich kennen lernen. Dass sie gelungene Interaktionen feiern und teilen können. Dass sie sich aneinander freuen – wer ein Strahlen in den Augen hat, wird sein Baby auf seinem Weg begleiten können, egal wohin der führt (und egal, ob man mit diesem Weg prahlen kann oder nicht). Und warum sollten nicht auch Gebärden-Kurse diesen Motor stärken können? Sie können es, so wie alle möglichen Kurse dies tun können, solange sie bei den Eltern ein Kribbeln auslösen oder ein Staunen über das Kind. Insofern würde ich bei der Bewertung des »baby signing« tatsächlich die geteilte Freude in den Mittelpunkt rücken, nicht den möglichen Gewinn. Alles, was Kinder und Eltern in eine gemeinsame Kribbelzone transportiert und was ihre Augen zum Leuchten bringt, ist entwicklungsförderlich, für beide Seiten.
Wie geht noch mal das Handzeichen für Entspannung?
Gebärdensprache – bringt sie die Babys voran? Das war die Ausgangsfrage. Als Fazit würde ich sagen: noch so ein Ding, bei dem es weniger auf die Noten als auf die Musik ankommt. Noch so ein Ding, das Freude bereiten, aber auch Stress machen kann. Noch so ein Ding, bei dem die Frage, ob es denn etwas »bringt«, gleich alles kaputt macht. Noch so ein Ding, bei dem wir uns selbst einmal kritisch unter die Lupe nehmen sollten. Denn vielleicht ist das alles ja umgekehrt: Weil wir Erwachsenen nicht in der Lage sind, die Zeichen der Babys zu verstehen, bringen wir ihnen nun unsere Erwachsenen-Zeichen bei. Und die Babys machen einfach mit – wie die Babys eigentlich alles mitmachen, was ihre Erwachsenen gut finden (welche Wahl haben sie denn?). Sie würden gewiss auch mitmachen und unsere Freude teilen, wenn einem von uns die Idee käme, dass wir unsere Kommunikation mit den Babys ja vielleicht auch mit einem System von Grunz- und Schnüffellauten anreichern könnten. Auch da, da bin ich mir sicher, könnten wir uns auf die Mitwirkung der Babys verlassen (so wie wir uns auch darauf verlassen können, dass sich rasch Erwachsene finden würden, die darauf den Stempel »pädagogisch wertvoll« drücken würden).
Gut also, wenn wir ein bisschen Bescheidenheit mitbringen: Ein paar Handzeichen sind im Vergleich zu den Myriaden an Signalen und Kommunikationszeichen, die wir mit unseren Babys tagtäglich austauschen, wirklich kein großes Ding – und das sollten sie auch nicht werden.
Glücklicherweise sehen viele der kommerziellen Anbieter von Babyzeichen-Kursen zumindest in Deutschland das genauso. Ja, manche überschlagen sich nach wie vor mit Heils- und Beschleunigungsversprechen, aber die meisten stellen nicht das Ziel, sondern das Geschehen in den Mittelpunkt. Und solange man dabei nicht verkrampft – was kann schon passieren?
Zu Risiken und Nebenwirkungen
- Ob und in welchem Ausmaß ein Baby Handgebärden anwendet, kann bei manchen Eltern auch zum Gradmesser der eigenen Erziehungskompetenz werden: »Mein Baby kann übrigens auch Gebärdensprache, und zwar schon ziemlich gut!« Eltern landen dann mit ihrem gut gemeinten Engagement leicht in der Selbstbestätigungs-Falle: Man bewertet seine eigene Leistung als Eltern über den fiktiven »Fortschritt« des Kindes. Der ist damit im Grunde nichts als ein Krückstock des elterlichen Selbstwertgefühls - man übt zusammen statt dass man miteinander lebt.
- Die Eltern-Kind-Kommunikation benutzt viele Kanäle: Da spielen die Signale eine Rolle, die wir geben (ob als Worte, Zeichen oder Gesten), aber auch, wie gut diese auf den jeweiligen Kontext und die Befindlichkeit des Kindes abgestimmt sind. Dieser feinfühlige, authentische Austausch kann durch eine bewusste, gewollte und damit »künstliche« Ausgestaltung der Kommunikation durchaus auch behindert werden: Man sieht nicht mehr das (ganze) Kind, sondern die Zeichen, die es gibt.
- Natürlich wollen Eltern einen »Draht« zu ihrem Baby finden. Allerdings sollten sich Eltern immer wieder fragen, ob ein »Draht« wirklich durch das Erlernen von Babyzeichen entsteht. Babyzeichen sind keine echte »Sprache«, und eine Herzenssprache erst recht nicht. Sie sind im besten Falle ein zusätzliches Kommunikationsmittel, mehr nicht. Ob Eltern ihr Baby wirklich verstehen, hängt gewiss nicht davon ab, dass man ein paar gemeinsame Gebärden benutzt.
- Die Hauptgefahr aber besteht darin: dass die Eltern auch bei dieser Methode wieder dieses »Damit« auspacken: »Ich mache mit dir Gebärdensprache, damit du einmal ...« Die Eltern hängen schon genug Gewichte an ihr alltägliches Leben mit den Kindern, da muss man nicht auch noch die Kommunikation unter den Gedanken der Besserung stellen. Denn damit sind wir raus aus der Kribbelzone, um die es eigentlich geht. Aber drin in dieser ewigen Angst-Kiste: der Angst, wir könnten das alles vielleicht nicht richtig machen, nicht genug davon machen oder überhaupt: »Ist mein Baby denn so gut wie die anderen?«
Links
Literatur
Meltzoff, A.N. and Moore, M.K. (1977). »Imitation of Facial and Manual Gestures by Human Neonates«, Science, 198, 75-78.
www.eltern.de/baby/9-12-monate/babys-zeichensprache.htm
Vallotton C.: Babies open our minds to their minds: How »listening« to infant signs complements and extends our knowledge of infants and their development. Infant Ment Health J. 2011 Jan;32(1):115-133).
Goodwyn SW, Acredolo LP, and Brown C. 2000. Impact of symbolic gesturing on early language development. Journal of Nonverbal Behavior. 24: 81-103.
Kirk E, Howlett N, Pine KJ, Fletcher BC. 2013. To Sign or Not to Sign? The Impact of Encouraging Infants to Gesture on Infant Language and Maternal Mind-Mindedness. Child Dev. 84(2):574-90.
Puccini D and Liszkowski U. 2012. 15-Month-Old Infants Fast Map Words but Not Representational Gestures of Multimodal Labels. Front Psychol. 2012;3:101. Epub 2012 Apr 3.
J.C. Johnston, A. Durieux-Smith: Teaching...
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