Literaturrecherche

Was bedeutet Frühgeburtlichkeit für das Erwachsenenalter?

  • Erwachsene mit einer Frühgeburtsanamnese verfügen über ein besonderes Risikoprofil aus somatischen und psychosozialen Faktoren.

  • Weltweit werden ungefähr 10 % aller Kinder vor der 37. SSW geboren. Davon wiederum werden ungefähr 10 % mit einem Geburtsgewicht unter 1.500g geboren. Liegt das Geburtsgewicht unter 1.500g und findet die Geburt vor der 30. SSW statt, spricht man von sehr kleinen Frühgeborenen (very low infant babies). Die Einführung der Surfactanttherapie in den 1980er Jahren hat dazu geführt, dass gerade sehr kleine Frühgeborene eine höhere Überlebenschance bekamen.

    Erreichen diese Kinder das Erwachsenenalter, stellen sich verschiedene Fragen: Wie ist das langfristige Outcome ehemals sehr kleiner frühgeborener Kinder im späteren Leben? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Frühgeburtlichkeit für die Langzeitbetreuung?

    Zu diesem Themenkomplex wurden durch den deutschen Pädiater Dominique Singer und Kolleg:innen eine selektive Literaturrecherche durchgeführt. Gezielt wurden Studien und Meta-Analysen analysiert um die Evidenzlage zum Langzeit Outcome (>20 Jahre) und die Konsequenzen auf die Langzeitbetreuung ehemals sehr kleiner Frühgeborener darzustellen.

    Die Literatur zeigt auf, dass die Mehrzahl aller Frühgeborenen kurz- und mittelfristig ein weitgehend oder sogar vollständig unbeeinträchtigtes Leben führen können. Früh diagnostiziert werden häufig organische Behinderungen. Funktionelle Defizite können als Verhaltensstörungen oder Teilleistungsschwächen auch erst im späteren Lebensalter auftreten, wenn entsprechende Fertigkeiten verlangt werden. Diese Defizite können in einem Zusammenhang zur Ursache der Frühgeburt stehen. Perinatale Infektionen können das Risiko für neurologische Folgeschäden erhöhen, intrauterine Wachstumsretardierungen ein metabolisches Syndrom begünstigen.

    Pulmonale, metabolische, kardiovaskuläre, renale, neurokognitive, sensorisch-visuelle, soziale, emotionale, psychische, reproduktive und muskuloskeletale Langzeitrisiken treten bei Frühgeborenen häufiger auf als bei Personen, die termingerecht geboren wurden. Ein erhöhtes Risiko besteht, Asthma oder eine arterielle Hypertonie zu entwickeln. Defizite im Bereich des Erlebens romantischer Partnerschaften, eine erniedrigte Fortpflanzungsquote sowie bei Frauen ein eigenes erhöhtes Risiko eine Frühgeburt zur Welt zu bringen, treten häufiger auf.

    Die Autor:innen geben zu bedenken, dass die vorliegenden Daten Erwachsene berücksichtigen, die zumeist nach Einführung der Surfactanttherapie geboren wurden und somit ein mittleres Lebensalter noch nicht überschritten haben. In dieser Lebensphase treten gesundheitliche Probleme insgesamt seltener als bei älteren Personen auf. Es bleibt daher bislang unklar, ob sich ein Risikoprofil in höherem Lebensalter noch verschlechtert oder nivelliert. Die Patient:innen, die vor Einführung der Surfactanttherapie geboren wurden erlebten eine andere Form der Versorgung der Frühgeburtlichkeit als später geborene Kinder. Werden Daten dieser Personengruppe ausgewertet, könnte die Art und Weise der Erstversorgungeinen Einfluss auf die Langzeitfolgen der Frühgeburtlichkeit haben.

    Die Autor:innen schlussfolgern, dass Erwachsene mit einer Frühgeburtsanamnese über ein besonderes Risikoprofil aus somatischen und psychosozialen Faktoren verfügen. Sie können von einer »Voralterung« als späten Preis für ihre Frühgeburtlichkeit konfrontiert sein. Daher erscheinen ein ganzheitliches Betreuungskonzept und ein individuelles Präventionsangebot im Erwachsenenalter sinnvoll.

    Quelle: Singer D, Thiede LP, Perez A: Adults Born Preterm. Dtsch Arztebl 2021., 118, 521–527. doi: 10.3238/arztebl.m2021.0164 ∙ DHZ

    Rubrik: Medizin & Wissenschaft

    Erscheinungsdatum: 28.10.2021