Qualitative Studie zu »Spenderkindern«

Familiäre Dynamiken zwischen Wissen und Nichtwissen

  • Wie erleben Erwachsene, die durch eine Samenspende gezeugt wurden, Wissen und Nichtwissen vor und nach ihrer Aufklärung? Welche innerfamiliären Dynamiken zeigen sich?

  • Eine aktuelle Untersuchung im Themenkomplex der Samenspende nimmt die entstandenen Menschen selbst in den Blick: Welche innerfamiliären Konflikte und Herausforderungen erleben Erwachsene, die durch eine Samenspende gezeugt wurden, vor und nach ihrer Aufklärung? Hierzu wurde kürzlich eine qualitative Studie mit 59 Teilnehmer:innen in Deutschland durchgeführt. Die Teilnehmer:innen erfuhren im Alter zwischen 5 und 46 Jahren, dass sie durch eine Samenspende gezeugt wurden. Sie wurden über den Verein »Spenderkinder« zur Teilnahme an der Studie rekrutiert. Die Daten wurden anhand einer Onlinebefragung gesammelt und mittels thematischer qualitativer Textanalyse ausgewertet.

     

    Vier große Themen

     

    Es zeigten sich vier Themenkomplexe: Kein absolutes Nichtwissen vor der Aufklärung, neue Nichtwissensbereiche nach der Aufklärung, Umgangsweisen mit dem neu erworbenen Wissen und konkurrierende Besitzansprüche auf Wissen und Nichtwissen.

     

    Kein absolutes Nichtwissen vor der Aufklärung

     

    Manche Teilnehmer: innen berichteten, dass sie bereits vor ihrer Aufklärung Ahnungen oder auch konkrete Vermutungen zu ihrer anderen Herkunft hatten. Auch innerhalb der weiteren Familie gab es oft Angehörige, die bereits vor der Aufklärung des Kindes von dessen Entstehungsweise wussten: » ... Ich habe vor einigen Tagen festgestellt, dass das Familiengeheimnis zwischen meiner Mutter und meinem Vater gar kein echtes Familiengeheimnis war. Eine der Schwestern meines Vaters und sogar die kürzlich verstorbene Mutter meines Vaters wussten davon, dass meine Schwester und ich durch eine Samenspende gezeugt wurden ... .«

    Einige Teilnehmer:innen erlebten die Aufklärung und bewusste Konfrontation mit der Tatsache, durch eine Samenspende gezeugt worden zu sein, als Erleichterung und wichtigen Schritt, sich selbst besser verstehen und annehmen zu können.

     

    Neue Nichtwissensbereiche nach der Aufklärung

     

    Nach der Aufklärung erlebten viele Teilnehmer:innen neue Bereiche des Nichtwissens, beispielsweise darüber, wer der genetische Vater ist, wie viele Halbgeschwister es gibt und wer sonst von den Familienmitgliedern von der Samenspende weiß: »Verwandte von der Seite des rechtlichen Vaters ... dieses Nicht-Wissen[!] Wissen sie es...[?] Es ist [ein] sehr seltsames [Gefühl].«

     

    Umgangsweisen mit dem neu erworbenen Wissen

     

    Die Teilnehmer:innen berichteten über sehr verschiedene Umgangsformen mit dem neu erworbenen Wissen, anhand einer Samenspende gezeugt worden zu sein. Manche wollten es teilen, anderen war wichtig, dass zumindest bestimmte Personen nicht davon erfahren. Eine Teilnehmerin, die in ihren 20ern davon erfuhr, traf zu diesem Zeitpunkt ihren zukünftigen Ehemann. Er verdeutlichte ihr, dass sie das Familiengeheimnis weitertragen würde, wenn sie selbst nicht offen damit umgehe. Sie entschied daraufhin, mit Freunden darüber zu sprechen.

    Teilweise vermieden wissende Familienmitglieder das Thema untereinander. So berichtete eine Teilnehmerin, die bereits im Grundschulalter aufgeklärt wurde, dass sie erst mit über 30 Jahren mit ihrer Großmutter mütterlicherseits über ihre Herkunft sprach. Dabei wusste ihre Großmutter von Anfang an über die Samenspende Bescheid und stand der Teilnehmerin sehr nahe.

     

    Konkurrierende Besitzansprüche auf Wissen und Nichtwissen

     

    Die Teilnehmer:innen erlebten innerfamiliär konkurrierende Besitzansprüche auf Wissen und Nicht-Wissen: Teilweise erkannten Eltern das Recht ihrer Kinder auf Wissen nicht an oder Eltern und Spenderkinder waren sich uneinig darüber, welche weiteren Personen informiert werden sollten. Es gab auch Konstellationen wie die, dass ein Kind bereits um seine Entstehungsweise und die seiner Geschwister wusste, seine Geschwister jedoch noch nicht über ihrer Entstehungsweise aufgeklärt waren. Ein Teilnehmer beschrieb diese Situation so: »Zuerst sagten sie es mir, dann, fast ein Jahr später, meinem [mit Samenspende gezeugtem] Bruder. Meine Eltern sagten es ihm schließlich, nachdem ich ›gedroht‹ hatte, es ihm zu sagen. Es lastete schwer auf mir, mehr über ihn zu wissen und darüber, wie er gezeugt worden war, als er selbst. Aber meine Eltern wollten nicht, dass er es erfährt.«
     

     

    Komplexe Familiendynamik

     

    Die Autor:innen zeigen auf: Wissen und Nichtwissen greifen bei Erwachsenen, die mit Samenspende gezeugt wurden, facettenreich ineinander: Die entstandenen Menschen müssen das neue Wissen in ihre eigene Identität integrieren. Zusätzlich sind sie damit konfrontiert, wie ihre Familienmitglieder mit diesem (Nicht-)Wissen umgehen.

    Diese Studie ist die bislang größte empirische Studie an Spenderkindern aus Deutschland. Sie zeigt, dass erwachsene Spenderkinder sich mit einer Vielzahl von Herausforderungen und innerfamiliären Konflikten konfrontiert erleben. Durch die Aufklärung verändert sich Nichtwissen zu Wissen, das neues Nichtwissen mit sich bringt. Es handelt sich um einen fortlaufenden, komplexen und vielschichtigen Prozess.

    Daher sind weitere Studien zum breiten Spektrum des Erlebens von Menschen, die mit Samenspende gezeugt wurden, wünschenswert. 

    Quelle: Bauer, T., A. Meier-Credner, A. (2024). Intra-familial dynamics of knowledge and ignorance experienced by donor-conceived adults in Germany. SN Social Sciences 4(9).  https://doi.org/10.1007/s43545-024-00967-w ∙ Beate Ramsayer/DHZ

     

    Rubrik: Politik & Gesellschaft

    Erscheinungsdatum: 23.10.2024