Calprotectin

In friedlicher Mission

Das Immunsystem des Neugeborenen muss reifen. Dabei spielen nach der Geburt extrem hohe Konzentrationen des Calprotectins eine große Rolle – auch als Alarmine bezeichnet. Sie verhindern überschießende Entzündungsreaktionen gegen sich ansiedelnde Keime und fördern so die Ausbildung einer gesunden Darmflora. Birgit Heimbach
  • Für Bakterien, die in einem jungen Verdauungstrakt sesshaft werden möchten, mögen die fingerförmigen Darmzotten wie schöne Meeresanemonen in Korallenriffen wirken. Damit Abwehrtruppen nicht unüberwindbare Barrieren errichten und die jungen Bakterienkulturen in Scharmützel verwickeln, werden sie durch einen Alarmstoff in der Muttermilch vor einem Kampf auf den Barrikaden bewahrt: Er besteht aus den Molekülen S100A8 und S100A9, die sich meist zu einem Komplex aneinanderschmiegen, der Calprotectin genannt wird.

Wenn wenige Tage alte Neugeborene an einem Infekt erkranken, können sie mit heftigen Entzündungen reagieren, die unter Umständen lebensbedrohlich werden. Bereits in den 1990er Jahren, als junge Kinderärztin in der Neonatologie, wunderte sich Prof. Dr. Dorothee Viemann darüber, wie überschäumend das Abwehrsystem mancher Kinder arbeitete. Dabei herrschte die Lehrmeinung, dass das Immunsystem eines Neugeborenen unausgereift sei und sich gegen eindringende Keime nicht gut wehren könne.

 

Unterschiedliche Entzündungsreaktionen

 

Die Sepsis bei Neugeborenen stellt weltweit noch immer eine der häufigsten Todesursachen im Kindesalter dar, insbesondere bei Frühgeborenen. Sie ist durch einen schnellen Verlauf mit einer überschießenden Entzündungsreaktion gekennzeichnet. Viemann erkannte, dass es eher ein Zuviel an Abwehrreaktion ist, was den Kindern Probleme macht. Dem wollte sie auf den Grund gehen und begann, das Immunsystem Neugeborener und die Entstehung schwerer Entzündungsreaktionen zu erforschen.

Viemann habilitierte 2008 im Fach Kinderheilkunde mit dem Thema »Role of endothelial signaling Networks in Inflammation«. In ihren Untersuchungen bei reifen gesunden Neugeborenen stieß sie auf einen Stoff namens S100A8/A9, auch Calprotectin genannt, der bei Erwachsenen in hohen Konzentrationen – als Marker – eine aktive Entzündung zum Beispiel im Rahmen von rheumatischen oder chronisch entzündlichen Erkrankungen anzeigt. Interessanterweise fanden sich bei den gesunden Neugeborenen noch höhere Konzentrationen des Calprotectins im Blut – ohne jegliche Anzeichen einer Entzündung. Es zeigte sich, dass Calprotectin in der Lage ist, in Abwehrzellen einen Toleranzzustand auszulösen, der eine Entzündungsreaktion beim nachfolgenden Kontakt mit einem Bakterium verhindert.

Viemann entwickelte die Idee, dieser Mechanismus könnte für die Immunadaptation und die mit der Geburt einsetzende bakterielle Besiedlung des Neugeborenen wichtig sein. Diese Idee begleitete sie 2011 bei ihrem Wechsel an die Medizinische Hochschule Hannover (MHH). Sie konzentrierte sich dort weiter auf die Frage, warum besonders Frühgeborene und Kinder nach geplanter Sectio, also in der Regel Kinder mit einer weniger großen Bakterienvielfalt im Darm, häufiger überschießende Entzündungsreaktionen ihres Abwehrsystems zeigen. Auch später entwickeln sie überproportional häufig immunvermittelte Erkrankungen wie Asthma, Allergien oder chronisch-entzündliche Krankheiten. Viemann kam schließlich zu der Hypothese, dass das Abwehrsystem darüber mitbestimmt, welche Bakterien sich im Darm eines Neugeborenen ansiedeln. Denn sie stellte fest: Gerade bei Sectiokindern und Frühgeborenen ist das Calprotectin ungünstig reduziert.

 

Resolving Infection Susceptibility – RESIST

 

An der MHH leitet Viemann eine Arbeitsgruppe, die Teil des Exzellenzclusters RESIST ist. Die Abkürzung RESIST steht für Resolving Infection Susceptibility und bedeutet so viel wie das Auflösen einer Infektanfälligkeit. Das Exzellenzcluster geht in verschiedenen Arbeitsgruppen der Frage nach, warum manche Menschen nur leicht, andere dagegen schwer erkranken, wenn Viren oder Bakterien in ihren Organismus gelangen. Erforscht wird hier, wie der Mensch als Wirt und Mikrobiota als Wirtsuchende aufeinander reagieren und ob Krankheitsverläufe vorhergesagt werden können, um in der Zukunft individuelle Therapien zu entwickeln.

Viemann selbst konzentrierte sich weiterhin auf die Neugeborenen und wollte herausfinden, wie sich nach der Geburt die individuelle bakterielle Besiedlung im Zusammenspiel mit dem Immunsystem des Kindes entwickelt und im Verlauf eine Immunhomöostase entsteht, die im Idealfall ein ganzes Leben bestehen bleibt. Neben Abwehrzellen des angeborenen Immunsystems untersuchte sie auch das neonatale, mukosale Immunsystem. Ziel ihres Vorhabens ist es, später Therapien abzuleiten, um diesen Prozess bei Kindern zu unterstützen, bei denen diese Entwicklung nicht optimal ablaufen kann.

Da die Ernährung mit Muttermilch sowohl vor Infektionen schützt als auch die Entwicklung einer gesunden Darmflora fördert, wurde in der Arbeitsgruppe um Viemann auch Muttermilch untersucht. In den rund 1.000 getesteten Proben konnte die zum Team gehörende Kinderärztin und Oberärztin der Neugeborenenintensivstation Dr. Sabine Pirr Calprotectin in einer derart hohen Konzentration nachweisen, wie sie zuvor natürlicherweise noch in keiner Körperflüssigkeit gefunden wurde. Die höchsten Mengen fanden sich nach der Spontangeburt eines reifen Kindes. Ähnlich verhielt es sich mit den Calprotectin-Spiegeln im Blut und Stuhl der Neugeborenen. Es wurde klar: Wehen führen dazu, dass Calprotectin massiv in Blut und Stuhl des Kindes und in die Muttermilch ausgeschüttet wird. Nach der Geburt eines Frühgeborenen und nach einer Kaiserschnittentbindung waren die Spiegel in allen untersuchten Materialien deutlich niedriger.

 

Antimikrobielle Aktivität

 

Calprotectin ist in Zellen, Gewebe und Flüssigkeiten des gesamten Körpers vorzufinden. 1980 wurde es zum ersten Mal beschrieben (Fagerhol 1980). Damals schon wurde seine antimikrobielle Aktivität gegen Bakterien und Pilze erkannt. Der Name Calprotectin entstammt seiner Eigenschaft, Calcium zu binden und dadurch Schutz (Protektion) vor Infektionen zu bieten. Calprotectin nimmt den Bakterien das für ihr Wachstum nötige Calcium weg – so wie Lactoferrin den Bakterien das Eisen entwendet. Calprotectin besteht aus den S100-Alarminen S100A8 und S100A9, die vor allem in Granulozyten, aber auch Monozyten und Makrophagen gebildet und bei Zellstress oder -schaden freigesetzt werden. Natürlicherweise lagern sich diese zu einem Heterodimer – einem Makromolekül aus zwei leicht unterschiedlichen Bausteinen – zusammen und werden dann Calprotectin genannt.

Die physiologischen Calprotectin-Konzentrationen sind je nach Alter unterschiedlich. Bei gesunden reifen Neugeborenen liegen die Werte um 400 Mikrogramm pro Gramm (µg/g) im Stuhl und 3.000 Nanogramm pro Milliliter (ng/ml) im Blut. Die Spiegel im Stuhl fallen im Verlauf des ersten Lebensjahres auf unter 50 µg/g, so wie sie auch im Stuhl gesunder Erwachsener zu finden sind. Im Blut finden sich bereits nach 14 Tagen Konzentrationen um 240 ng/ml, was dem Normwert Erwachsener entspricht. In Muttermilch lassen sich nach der Spontangeburt eines reifen Neugeborenen Calprotectinspiegel bis zu 20.000 ng/ml messen. Die Konzentration fällt innerhalb der ersten vier Wochen auf Werte ab, die den Serumnormwerten gesunder Erwachsener entsprechen.

Bei Erwachsenen wird Calprotectin im Stuhl oder Serum als Biomarker für chronisch entzündliche Erkrankungen wie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn oder Rheuma genutzt. Hohe Spiegel zeigen hier eine hohe entzündliche Aktivität an. Die Serumspiegel können im Rahmen einer Entzündung um das 5- bis 40-Fache steigen. Bei Neugeborenen übernimmt Calprotectin jedoch eine andere Funktion.

 

Immunreaktion im »Spar-Modus«

 

In aufwendigen genanalytischen (transkriptomischen), epigenetischen und immunologischen Untersuchungen konnte Viemann zeigen, dass das Immunsystem Neugeborener keineswegs unreif ist. Vielmehr unterliegt es einer von Erwachsenen abweichenden Programmierung und wird in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt reprogrammiert. Die nach der Geburt extrem hohen Konzentrationen des Calprotectins spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Sie sorgen für eine Toleranzinduktion des Immunsystems Neugeborener. Dieser spezielle Mechanismus verhindert überschießende Entzündungsreaktionen gegen sich ansiedelnde Keime und fördert so die Ausbildung einer gesunden diversen Darmflora des Neugeborenen. Zudem stellte sich heraus, dass Calprotectin in hohen Konzentrationen antibakteriell gegenüber häufigen Erregern der Neugeborenensepsis wirkt, wie Staphylococcus aureus und Streptokokken der Gruppe B, indem es ihnen Ionen wie Mangan und Calcium entzieht.

Wichtiger aber ist die immunregulatorische Wirkung des Calprotectins, die sich sowohl im Immunsystem des Blutes als auch des Darms nachweisen lässt. Im Verdauungstrakt reguliert das Calprotectin die Einwanderung und Funktion von in der Darmwand ansässigen Abwehrzellen. Systemisch verhindert Calprotectin die übermäßige Ausbreitung einer proinflammatorischen Monozytenpopulation. Gleichzeitig wird eine biochemische Kaskade ausgelöst, die die gesamte Abwehr auf Sparflamme setzt. Das Abwehrsystem fährt quasi mit angezogener Handbremse, erkannte Viemann anhand der Analyse der Programmierung von Immunzellen in Blutproben gesunder Neugeborener. Normalerweise lösen Bestandteile der Hülle von Bakterien Entzündungen aus, indem sie ein bestimmtes genetisches Programm aktivieren.

Bei Neugeborenen wird dieses Genprogramm durch das Calprotectin über die gleichen Signalwege voraktiviert, so dass im Fall eines Bakterienkontakts keine erneute Aktivierung stattfinden kann. Es löst sozusagen einen Sicherheitsmechanismus aus, ohne die Bakterienabwehr zu beeinträchtigen. »Das ›Spar-Programm‹ verhindert vermutlich, dass die körpereigenen Abwehrtruppen in unzählige Scharmützel verwickelt werden«, so Dr. Sabine Pirr von der MHH. Dies ermöglicht, dass nicht nur einige wenige, sondern viele verschiedene Arten von Mikroben im Darm überleben können und eine bunte Vielfalt bilden, die dem Menschen guttut. Das Immunsystem kann dabei die Bakterien erkennen und sich einprägen, ohne sie zu zerstören – ein sogenanntes Priming der Immunität. Die Handbremse wird sukzessive gelöst, bis die körpereigenen Abwehrmechanismen des jungen Kindes nach ungefähr einem Jahr seine volle Schlagkraft erlangen.

Fehlt dieser Mechanismus infolge zu niedriger Calprotectinspiegel nach der Geburt, zum Beispiel nach einer primären Sectio oder einer Frühgeburt, oder infolge ausbleibender Calprotectinzufuhr durch fehlende Muttermilchernährung, kommt es zu einer veränderten bakteriellen Besiedelung, einer sogenannten Dysbiose. Diese geht mit dem erhöhten Risiko für verschiedene kurz- und langfristige Erkrankungen einher. Dazu zählen Sepsis, Allergien, Asthma und chronisch entzündliche Erkrankungen, aber auch Fettleibigkeit und Diabetes. Im Mausmodell konnte Viemann zeigen, dass sich die Veränderungen der bakteriellen Besiedlung durch Fütterung von Calprotectin an neugeborene Mäuse über die Muttermilch oder als Zusatz zur Nahrung verhindern lassen.

Andere MedizinerInnen von ihrer neuen Sicht auf das kindliche Immunsystem zu überzeugen, war lange schwierig. Publikationen in den renommierten Fachjournalen Nature Immunology im Mai 2017 und Gastroenterology im August 2020 erreichten jedoch eine breite Fachöffentlichkeit und brachten die Anerkennung vieler KollegInnen.

 

Fazit

 

Langfristiges Ziel ist es nun, Therapien zu entwickeln, um die Anpassungsprozesse des Immunsystems nach der Geburt gezielt zu fördern, und anhand des Immunprofils bei der Geburt zu charakterisieren, welche Babys von dieser iatrogenen Immunmodulation profitieren würden. Wenn Neugeborene zu wenig Calprotectin produzieren beziehungsweise über die Muttermilch bekommen, könnte eine Nahrungsergänzung mit diesen Proteinen ihre Entwicklung unterstützen.

Dies scheint sehr erfolgversprechend zu sein: »Die einmalige Gabe von S100-Alarminen konnte im Mausmodell vor schlechter Darmbesiedlung und den damit assoziierten Erkrankungen schützen«, so Viemann. Die RESIST-ForscherInnen wollen nun auf ihre Ergebnisse aufbauen und weitere präklinische und später klinische Arbeiten durchführen.

Rubrik: 1. Lebensjahr | DHZ 05/2021

Literatur

Arndt T: Calprotectin. MTA-Dialog 3 2006. 200

Austermann J, Friesenhagen J, Fassl SK, Ortkras T, Burgmann J, Barczyk-Kahlert K et al.: Alarmins MRP8 and MRP14 induce stress tolerance in phagocytes under sterile inflammatory conditions. Cell Reports 2014. 9:1–12. doi: 10.1016/j.celrep.2014.11.020

Bokulich NA, Chung J, Battaglia T, Henderson N, Jay M, Li H et al.: Antibiotics, birth mode, and diet shape microbiome maturation during early life. Sci Transl Med 2016. Jun 15; 8(343):343ra82. doi: 10.1126/scitranslmed.aad7121
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