Physiologische Geburtshilfe

Auf neuen alten Wegen

Es ist ein „kleines Wunder“, was die Hebammen am Helios Klinikum Pforzheim erreicht haben: Ihre Level-1-Klinik hat die Geburtshilfe auf ein physiologisches und salutogenetisches Konzept umgestellt, und zwar nicht allein für Schwangere ohne Risiko. Wie kam es zu dem Wandel und was bedeutet er? Corina Scheurer, Romy Hartmann
  • Neue Maßstäbe für eine physiologische Geburt – es gibt sie, die Mutmachbeispiele.

Es war ein schleichender Prozess, in dem sich die Geburtshilfe an unserer Klinik, dem Helios Klinikum Pforzheim, wandelte. Die geburtshilfliche Philosophie unseres Perinatalzentrums Level 1, die sich wahrscheinlich nicht wesentlich von der anderer Häuser unserer Größe unterschied, erzeugte zunehmende Unzufriedenheit bei uns Hebammen, so dass wir uns im Jahr 2012 im Rahmen eines Teamtages entschieden, etwas an unserer Situation zu ändern. Wir formulierten das Ziel, den Fokus unserer Hebammenarbeit auf eine frauenzentrierte Geburtshilfe zu richten, die Interventionen zu senken und unseren Frauen und Paaren die Zeit für die Geburtsarbeit zu geben, die sie benötigen. Es war rückblickend gesehen ein großer Schritt und oft damit verbunden, den eigenen Zweifeln und Wissenslücken über die tatsächliche Geburtsphysiologie die Stirn zu bieten.

Die Hebamme Corina Scheurer aus unserem Team begann 2011 das Masterstudium „Salutophysiologie für Hebammen" in Salzburg und gab die initiale Zündung für den Wandel. Das Konzept der Salutophysiologie, entwickelt von der Hebamme Verena Schmid, sieht nicht nur die Betreuung nah an den Bedürfnissen der Frau und des Kindes vor, sondern schließt eine Betrachtung auf allen Ebenen (physiologisch, emotional und psychosozial) mit ein und ist hauptsächlich ressourcenorientiert. Schmid bezeichnet diesen Ansatz als eine zirkuläre Betrachtungsweise. Dabei geht es nicht darum, die Schwangerschaft, die Frau oder das Kind in vorgegebenen normierten Maßtabellen und Diagrammen wiederzufinden, sondern die individuelle Situation mit all ihren inneren und äußeren Einflüssen zu beleuchten.

Jeder Mensch ist im Besitz natürlicher und in seiner Person individuell ausgeprägter Ressourcen, die es ihm ermöglichen, mit fordernden Situationen umzugehen, sie handhabbar und überwindbar zu gestalten. Die Schwangerschaft und die bevorstehende Geburt sind ein Lebensabschnitt, der nicht nur gravierende Veränderungen im soziokulturellen Bereich der Frau mit sich bringt, sondern die Frau zudem auf emotionaler und körperlicher Ebene extrem fordert. In der täglichen Praxis sehen wir, dass Frauen im Laufe ihrer Schwangerschaft zwar regelmäßigen Kontakt zu ÄrztInnen pflegen, dass es den MedizinerInnen jedoch häufig nicht gelingt, durch den eher pragmatischen, körperorientierten Blick und das Checklisten- und Rasterdenken die Bedürfnisse und Sorgen der Frauen zu erkennen.

 

Abnabeln nach der Plazentageburt

 

Die Erzählungen unserer Kollegin über die Inhalte des Studiums haben uns 20 Hebammen am Helios Klinikum Pforzheim sofort in den Bann gezogen. Den Einstieg in das Konzept und die damit verbundene Veränderung nahmen wir zunächst in einer Phase der Geburt vor, die wir selbst ohne Zustimmung höherer Entscheidungsebenen festlegen konnten – in der Plazentaphase. Wir begannen mit einem kleinen Kreis freiwilliger Hebammen, die Abnabelung des Kindes nach Plazentageburt vorzunehmen. Wir beobachteten Reaktionen bei der Mutter und vor allem beim Kind und notierten unsere Ergebnisse in Bezug auf die Adaptationsvorgänge.

Erstaunlich war die Erkenntnis, dass es im zeitlichen Lösungsvorgang der Plazenta große Spannbreiten gab und der Auslöser wohl vom Kind ausgeht. Kinder nach einer stressigen Geburt oder frühe Kinder benötigten mehr Zeit für die Umstellung an der Nabelschnur, der nicht selten in diesen Fällen 30 bis 45 Minuten dauerte. Wir konnten zusehen, wie ruhig und scheinbar zufrieden die Kinder ihren Lebensstart außerhalb des Mutterleibes begannen und wie schnell sie sich auch im gestressten Zustand an der pulsierenden Nabelschnur erholten. Die größte Ressource für das Kind nach der Geburt ist demnach seine Plazenta. Im Nebeneffekt konnten wir feststellen, dass mit der Umstellung des Managements in der Plazentaphase zeitgleich die Raten der manuellen Lösungen und der instrumentellen Nachtastungen nahezu halbiert wurden. Oxytocin zur Plazentalösung geben wir nicht routinemäßig, sondern indikationsbezogen. Das hat uns neugierig gemacht und wir begannen das Konzept auszuweiten. Wir organisierten Fortbildungen für unsere Hebammen und ÄrztInnen zu den Themen „Bonding in Schwangerschaft und Geburt – ein salutophysiologischer Beitrag zu Beginn der Exogestation" und „Das salutogenetische Potenzial des Geburtsschmerzes". Wir schulten Grundlagen der Physiologie und Salutogenese, der Hormone und insbesondere der Rhythmen, die sich unter der Geburt zeigen. Spätestens in dieser Phase der Konzeptentwicklung war der intensive Austausch mit der ärztlichen Berufsgruppe unumgänglich.

Heute halten wir Hebammen das Thema in Teamtagen aktuell. Die Kombination aus theoretischem Input, Analysieren von Fallbeispielen, Spüren der praktischen Anwendungen am eigenen Körper und nicht zuletzt auch das kritische Diskutieren bestehender und künftiger Maßnahmen sorgen für eine ständige Weiterentwicklung. Es gilt, ein neues Verständnis für die endogenen Prozesse des Körpers zu gewinnen und die Gewissheit zu fördern, dass die Geburt kein linearer schematischer Prozess ist und sich erst recht nicht in eine zeitliche Begrenzung drücken lässt.

 

Körperarbeit nach Maß

 

Ein wesentlicher Bestandteil der salutophysiologischen Begleitung ist die Körperarbeit. Auch in diesem Punkt benötigten wir Wissen. Wir lernten Anwendungen wie verschiedene Formen der Bauchmassage, die zur Entlastung oder Wehenanregung dienen. Die craniosacrale Polmassage und die Metamorphose eignen sich zur Stimulation des Parasympathikus und damit zur Anregung der Expansion. Die Polarity ist bei Stresszuständen oder Beckenendlage des Kindes möglich. Die Beckenlösung und die tiefe Beckenbodenmassage wenden wir bei protrahierten Verläufen und Spannungszuständen im Bereich des Beckens an. Das Gutschwager-Manöver, eine von der Hebamme Annett Gutschwager entwickelte Maßnahme zur Regulierung kindlicher Fehleinstellungen, ist inzwischen ein fester Bestandteil unserer Hebammenkniffe geworden (siehe DHZ 1/2017, Seite 50ff.).

Alle Maßnahmen werden individuell und in Absprache mit der Frau ausgeführt. Wir können nicht sagen, dass die eine oder andere Maßnahme immer in dieser oder jener Situation angewendet werden sollte. Die Entscheidung, welche Anwendung die geeignete ist, ist abhängig davon, in welcher Richtung die Frau und das Kind Unterstützung benötigen, welche Kompetenzen beide mitbringen und welche Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Homöostase zu erreichen.

 

Hebammen reden mit

 

Was ist heute außerdem anders? Die Antwort lautet: „Wir reden mit!" Das ist ein wesentlicher Bestandteil unserer heutigen Geburtsphilosophie und nimmt inzwischen einen sehr großen Zeitanteil in Anspruch. Bereits zum Elterninformationsabend übernimmt die Hebamme die überwiegende Redezeit. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der physiologischen Geburt und unserer Hebammenbegleitung sowie auf den Grundsätzen der Salutogenese und der körperlichen Anpassungssysteme. Wir stellen unsere bedürfnis- und ressourcenorientierte Betreuung vor, gehen auf die Kompetenzen von Mutter und Kind ein und sprechen über die entscheidende letzte Schwangerschaftsphase – die Reifungsphase. Die Sinnhaftigkeit des Geburtsschmerzes ist ebenfalls ein Thema.

Unser Chefarzt hält seinen Vortrag im Anschluss und fasst sich kurz. Er weist lediglich auf die Rahmenbedingungen des Perinatalzentrums Level 1 hin. In diesem Punkt sind wir uns einig: Es nützt den Paaren nichts, den Fokus auf Interventionen zu legen, die vergleichsweise selten auftreten. Das würde den Eindruck vermitteln, dass die Geburt in allen Fällen ein hochgefährliches Ereignis wäre.

Im Rahmen unserer Hebammensprechstunde führen wir nicht nur die Geburtsanmeldung durch, sondern können bereits erste bedürfnisgestütze Gespräche führen. Alle Wünsche oder Anliegen der Frauen werden notiert und sichtbar gemacht. Von unserer Seite werden explizit Informationen zum Geburtsbeginn und zur Bedeutung der Latenzphase vermittelt. Es ist wichtig, die Frauen im Vorfeld darüber aufzuklären, wie sich die Geburt möglicherweise ankündigt oder dynamisch entwickeln kann und welche Maßnahmen sie selbst durchführen können. Unser Eindruck ist, dass mit diesem Wissen die Frauen ihre letzte Schwangerschaftsphase entspannter erleben und dem Ereignis Geburt positiver begegnen.

 

Angriff statt Flucht

 

Verena Schmid schreibt: „Wenn eine Frau versteht, was eine Geburt ist, ,vorhersehen‘ kann, was geschieht, das Gefühl hat, über Werkzeuge zu verfügen, um damit umgehen zu können, dem Geburtsprozess und dem Schmerz einen Sinn geben kann, dann kann sie das Ereignis mit einem Angriffsverhalten angehen, das heißt ,auf weiblich‘, sie kann sich der Geburt öffnen und wird nach eigenen Wegen suchen. Im anderen Fall, wenn sie nicht versteht, was vorgeht, wenn sie dem Ereignis ohnmächtig, ohne kulturelle und körperliche Werkzeuge gegenübersteht, wenn für sie Schmerz und Gebären Angst erzeugend sind, keinen Sinn haben, wird sie ein Fluchtverhalten entwickeln, passiv werden, delegieren, sich der Geburt verschließen." (Schmid 2011: 26)

Es war daher nur logisch, dass wir als Erweiterung unserer Hebammensprechstunde die problemzentrierten Gespräche aufnahmen (Problemsolving). Das Angebot richtet sich an alle Frauen, unabhängig von der Schwangerschaftswoche, die einen Kontakt zur Hebamme suchen. Verschiedene Gründe können dafür eine Rolle spielen, meistens liegen sie im Bereich mütterlicher Besorgniszustände. Der überwiegende Anteil dieser Frauen allerdings hatte bereits Erfahrungen aus vorangegangenen Geburten gesammelt, die nicht selten hochtraumatisch und prägend waren.

Diese Gesprächstermine nehmen sehr viel Zeit in Anspruch, denn oft ist das der Moment, an dem die Frauen sich das erste Mal Fachpersonal anvertrauen. Es gilt, die Geschehnisse der letzten Geburt oder des Ereignisses zu rekapitulieren und transparent zu machen. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf den Wahrnehmungen der Frau: Wie hat sie sich damals gefühlt? Was hat ihr gefehlt? Was hätte sie sich gewünscht? Und ja – sicher geht es auch um den medizinischen Ablauf der Geburt und die fachliche Begleitung durch Hebammen und ÄrztInnen. Die meisten Frauen haben ihre traumatischen Geburten ohne weiterführende Gespräche tief im Unterbewusstsein vergraben, die sich im Laufe der nächsten Schwangerschaft wieder hervorarbeiten. Nicht selten benötigen wir Zeit für lange Phasen des Weinens und oft ist das Gefühl von damals, versagt zu haben oder nicht fähig zu sein, präsenter denn je.

Gerade bei diesen Frauen ist eine stärkende Begleitung durch die Hebamme sinnvoll, da sie häufiger ein größeres Ambivalenz-Verhalten in Bezug auf das Vertrauen in ihren Körper und ihre Ressourcen haben. Diesen Frauen bieten wir eine Begleitung bis zur Geburt an. Ganz individuell werden nach einer ausführlichen salutophysiologischen Anamneseerhebung, die hauptsächlich Erkenntnisse über das Kohärenz- und Copingverhalten der Frau liefern soll, Gesundheits- und Aufmerksamkeitszeichen zusammengetragen. Sie bieten uns die Grundlage, Ressourcenkapazitäten herauszuarbeiten. Im weiteren Schritt wird ein Betreuungsplan erstellt. Dieser enthält Gesprächszeit, Körperarbeit sowie Visualisierungsübungen (Entspannung) bis zur Geburt und orientiert sich an den Ergebnissen der Anamneseerhebung. Dabei geht es schwerpunktmäßig um die Kompetenzentwicklung und -stärkung von Mutter und Kind, die Entwicklung einer positiven Grundeinstellung, das Wiedererlangen des Vertrauens in den eigenen Körper und den intensiven Kontakt zum Kind.

 

Wundersame Wendung

 

Eine weitere Veränderung trat mit der Beachtung der Latenzphase und der Geburtsrhythmen ein. Abwartendes Verhalten, keine frühen stationären Aufnahmen, die Anerkennung der Plateaus (Ruhephasen in der Geburt) und nicht zuletzt auch der sehr kritisch hinterfragte Einsatz fördernder Maßnahmen führten zwangsläufig zu einem Umdenken. Mit all den Maßnahmen in der vorgeburtlichen und geburtlichen Phase konnten wir bereits 2014 eine wundersame Wendung unserer Interventionsraten unter der Geburt feststellen.

Eine weitere Kollegin unseres Teams, Anika Dietrich, erforschte diese Interventionsraten im Rahmen ihrer Masterarbeit 2015 zum Thema „Grundsätze und Möglichkeiten salutophysiologischer Geburtshilfe in der Maximalversorgung […]". Sie setzte die Daten von 2014 denen von 2011 gegenüber. Es wurde deutlich, dass die salutogenetische Arbeit nicht nur unsere Sectio- und PDA-Raten drastisch senkte, sondern auch die Verwendung subpartaler Wehentröpfe auf sechs Prozent minimierte. Sie fand heraus, dass sich allein die Indikation zur sekundären Sectio wegen Geburtsstillstand von vormals 38,4 Prozent aller Sectiofälle auf 15,9 Prozent gesenkt hatte. Weitere Erkenntnisse waren, dass die stationären Aufnahmen zur Geburt später stattfanden: Fast die Hälfte aller Frauen werden nun erst ab einer Muttermundsweite von drei Zentimetern aufgenommen. Zudem konnte die Einleitungsrate auf 17,4 Prozent gesenkt werden (Dietrich 2015: 64ff.).

 

Gegenpol zur Geburtsmedizin

 

Das alles ist nur durch das unermüdliche Engagement der Hebammen und die fortwährende fachliche Auseinandersetzung mit unseren ÄrztInnen möglich. Es gilt auf allen Ebenen einen ehrlichen, sachlichen und wertschätzenden Umgang zu pflegen, kritikfähig und gesprächsbereit zu sein. Es benötigt eine Begegnung aller beteiligten Personen auf Augenhöhe und schließt die Frau und ihren Partner als Hauptakteure mit ein.

Wir Hebammen vom Helios Klinikum Pforzheim haben in der salutophysiologischen Geburtsbetreuung das für uns passende Konzept gefunden. Es richtet sich nicht nur an Frauen mit niedrigem Risiko, sondern an alle Frauen und insbesondere an diejenigen, die durch Risikodenken und Schwangerschaftsverläufe außerhalb der medizinischen Norm höchst verunsichert sind. Wir verstehen unsere Arbeit als einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsförderung.

Salutophysiologisch gesehen entsteht Gleichgewicht immer dann, wenn sich Bewegungen innerhalb zweier sich gegenüberstehender Pole abspielen. Wir Hebammen sind der dringend notwendige Gegenpol zur technisierten Geburtsmedizin, um ein gesundes Gebären auch im klinischen Setting möglich zu machen. Die normale nicht-intervenierte Geburt ist und bleibt die größtmögliche Ressource für Mutter und Kind lebenslang.

Wir sind außerdem davon überzeugt, dass dieses Modell oder ähnliche Konzepte wieder dafür sorgen könnten, dass die klinische Tätigkeit für Hebammen interessanter wird, obgleich auch uns klar ist, dass die strukturellen Rahmenbedingungen nicht außer Acht gelassen werden dürfen.

Wir danken unseren Hebammen für ihren täglichen Einsatz, die Unterstützung, den Zusammenhalt, die Stärke, Überzeugung und den Wissensdurst. Ohne sie wäre dieses kleine Wunder nicht möglich gewesen.

Rubrik: , Beruf & Praxis | DHZ 05/2017

Literatur

Dietrich A: Masterarbeit. Grundsätze und Möglichkeiten salutophysiologischer Geburtshilfe in der Maximalversorgung – Beispiel Helios Klinikum Pforzheim 2015

Schmid V: Salutogenese oder die Wurzeln der Gesundheit. Hebammenzeitung 2011. Österreich. 23–29

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