Angst oder Lust – Vertrauen macht den Unterschied

  • Dr. Angelica Ensel, Hebamme, Ethnologin und Redakteurin der DHZ: »Vertrauen heißt auch: sich entscheiden, nicht alles wissen zu wollen.«

Angst und Lust scheinen völlig gegensätzliche Emotionen zu sein. Und doch gibt es Schnittstellen und Überlagerungen, etwa im Zusammenhang mit Sexualität. Angst ist überlebenswichtig. Sie warnt vor Gefahren und ermahnt, diese genau anzuschauen und Vorkehrungen zu treffen. Lust wiederum ist gespeist von der Sehnsucht, dem Drang, etwas Glücksverheißendes zu erfahren. Nicht selten erleben wir beide Gefühle gleichzeitig. Was fremd und nicht vertraut ist, kann ängstigen, aber auch neugierig machen oder Vorfreude auf unbekannte Erfahrungen. »Das ›Glückshormon‹ Dopamin aktiviert das Belohnungssystem des Menschen – es löst aber auch Angst und Furcht aus. Seine Wirkung entscheidet sich auf kleinstem Raum«, schreibt der Physiker und Wissenschaftsjournalist Mathias Gräbner. Es kommt auf die Dosis an.

Gebären als existenzielles Ereignis, als lebendiges, nicht kontrollierbares, nicht planbares Geschehen kann große Ängste auslösen, aber auch Lust auf eine Grenzen überschreitende Erfahrung und die Sehnsucht, das Kind endlich in die Arme zu schließen. Es kommt auf das Vertrauen an. Vertrauen heißt auch: sich entscheiden, nicht alles wissen zu wollen, bewusst Aspekte auszugrenzen, weil die Auseinandersetzung mit allen Risiken und Eventualitäten belastend und lähmend sein kann. Den Blick auf die Ressourcen zu richten, auf das Stärkende, um die eigenen Kräfte bestmöglich einzusetzen. Während die Angst uns erstarren lässt, ist das Vertrauen mit dem Lebendigen verbunden – beim Gebären mit jedem Atemzug. Vertrauen öffnet, macht verletzlich. Es braucht eine sichere Basis, im Außen und im eigenen Inneren.

Um maximale Absicherung bemüht, sammeln Eltern oft unendlich viele Informationen vor der Geburt. Nicht selten machen Frauen letztlich keine gute oder sogar eine traumatisierende Erfahrung – weil so viel innere Unsicherheit da ist und sie nicht den Rahmen bekommen haben, um sich vertrauensvoll einzulassen auf das, was nicht kontrollierbar ist. – Aus glücklich bestandener Angst kann Sicherheit wachsen, eine neue Stufe in der Entwicklung der Persönlichkeit – eine Transformation. Hebammen wissen um das unglaubliche Potenzial einer guten Geburtserfahrung und ihre Nachhaltigkeit für die Frauen- und Familiengesundheit. Wir als Begleitende sind es, die den Unterschied machen können, wie auch immer eine Geburt verläuft. Wir erhalten einen Vertrauensvorschuss, wenn die Gebärenden sich uns anvertrauen. Es ist das Wesen der Hebammenarbeit und eine zutiefst gesellschaftspolitische Aufgabe, einen Raum des Vertrauens zu öffnen und zu halten, damit Frauen und Eltern erleben dürfen, was das Wesen der Geburt ist – die Freude über das Wunder, wenn ein neuer Mensch in unsere Welt kommt.

Rubrik: DHZ 12/2020

Ich bin Abo-Plus-Leserin und lese das ePaper kostenfrei.

Ich bin Abonnentin der DHZ und erhalte die ePaper-Ausgabe zu einem vergünstigten Preis.

Upgrade Abo+

Jetzt das Print-Abo in ein Abo+ umwandeln und alle Vorteile der ePaper-Ausgabe und des Online-Archivs nutzen.