Delphi-Studie aus Australien

»Critical thinking in midwifery practice« als Definition

  • Welche inneren Einstellungen und Kernkompetenzen zeichnen kritisches Denken in der Hebammenpraxis aus? Dies wurde erstmals in eine Studie systematisch erfasst.

  • Kritisches Hinterfragen, Denken und Reflektieren zählt zu den Eckpfeilern einer evidenzbasierten Betreuung. Es fehlte jedoch bislang eine klare Definition des kritischen Denkens für den Bereich der Hebammenarbeit (»critical thinking in midwifery practice«). Diese wurde nun im Rahmen einer Delphi-Studie erarbeitet und in der Fachzeitschrift Women and Birth veröffentlicht. Bei der Delphi-Methode werden ausgesuchte Expert:innen in einem mehrstufigen Verfahren zu einem komplexen Phänomen befragt.

    Die in Australien durchgeführte Studie zeigte auf, dass verfügbare Definitionen des kritischen Denkens anderer Berufsgruppen nicht auf die Hebammenpraxis übertragen werden könnten, da Hebammenarbeit mit sehr komplexen berufsspezifischen Anforderungen einhergehe. Das Ziel der Studie bestand darin, eine international akzeptierte Konsensus-Definition zu erarbeiten, die zum Ausdruck bringt, welche Aspekte kritisches Denken in der Hebammenpraxis auszeichnet.

    Durchgeführt wurde eine Delphi-Studie mit zwei Runden. An der ersten Runde nahmen 32 Hebammenexpert:innen aus 11 Ländern, an der zweiten Runde 21 Hebammenexpert:innen aus 9 Ländern teil. Das Expert:innenengremium identifizierte und definierte 14 innere Einstellungen und 12 Kernkompetenzen des kritischen Denkens der Hebammenpraxis.

    Die innere Einstellung umfasst:

    1. Intellektuelle Neugier
    2. Bereitschaft zur Selbstreflexion
    3. Entwicklung einer ganzheitlichen Sicht
    4. Intellektuelle Integrität
    5. Flexibilität
    6. Durchdachtes und herausforderndes Hinterfragen nicht evidenzbasierter Praktiken
    7. Partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der betreuten Frau
    8. Aufgeschlossenheit
    9. Verständnisvolles und empathisches Zuhören
    10. Aufzeigen einer kulturellen Demut
    11. Frauenzentriertheit
    12. Tapferkeit
    13. Vertrauen
    14. Kreativität.

    Die Kernkompetenzen umfassen:

    1. Fähigkeit zur Analyse
    2. Konstruktive Anwendung der bestmöglichen Evidenz
    3. Problemlösungskompetenz in komplexen Situationen
    4. Differenzierungs- und Priorisierungsfähigkeit
    5. Visionäre Fähigkeit
    6. Evaluation möglicher Zusammenhänge zwischen Theorie und Praxis
    7. Erhebung und Interpretation klinischer Daten
    8. Fähigkeit zur Kollaboration im multidisziplinären Team und mit der betreuten Frau
    9. Reflexivität in Form von Selbstbewusstsein und kritischer Selbstreflexion aus verschiedenen Perspektiven
    10. Entscheidungsfindungskompetenz
    11. Kommunikationsfähigkeit
    12. Umsetzen innovativer Ideen in der Praxis.

    Die Autor:innen schlussfolgern, dass anhand der durchgeführten Delphi-Studie erstmalig Merkmale kritischen Denkens in der Hebammenarbeit definiert wurden. Durch die Entwicklung einer Konsensdefinition wurde ein gemeinsames Verständnis der inneren Einstellungen und Kernkompetenzen entwickelt, die kritisches Denken in der Hebammenpraxis auszeichnen. Diese Konsensus-Definition kann nun in Bildung und Forschung angewendet werden. Sie bietet Hebammen eine Möglichkeit, eigenständig kritisches Denken und Handeln in der Hebammenarbeit weiterzuentwickeln.

    Quelle: Carter, A. G., Sidebotham, M. & Creedy, D. K. (2022). International consensus definition of critical thinking in midwifery practice: A Delphi study. Women Birth, https://doi.org/10.1016/j.wombi.2022.02.006 ∙ DHZ

    Rubrik: Beruf und Praxis

    Erscheinungsdatum: 21.06.2022