Brasilianische Studie

Wer versteht was unter geburtshilflicher Gewalt?

  • Eine brasilianische Studie zeigte, dass ein signifikant unterschiedliches Verständnis zwischen der Gruppe der Fachärzt:innen und Assistenzärzt:innen darüber existiert, was als geburtshilfliche Gewalt einzustufen ist.

  • Geburtshilfliche Gewalt verletzt in Form von Respektlosigkeit und Fehlbehandlung grundlegende Menschenrechte gebärender Frauen. In Brasilien wird der Begriff der geburtshilflichen Gewalt kontrovers diskutiert. Mit dem Ziel, die verschiedenen Definitionen des Begriffs sowie die zugrundeliegenden Einstellungen geburtshilflich tätiger Ärzt:innen besser verstehen zu können, wurde zu diesem Themenkomplex eine Studie durchgeführt.

    Eingeschlossen wurden 60 geburtshilflich tätige Ärzt:innen eines brasilianischen Universitätskrankenhauses (Sao Paulo), wovon 45 % (n=33) als Fachärzt:innen und 55 % (n=27) als Assistenzärzt:innen während ihrer Ausbildung tätig waren. Die Einstellungen dieser beiden Gruppen wurden erhoben und miteinander verglichen.

    Es zeigte sich, dass ein signifikant unterschiedliches Verständnis zwischen der Gruppe der Fachärzt:innen und Assistenzärzt:innen darüber existiert, was als geburtshilfliche Gewalt einzustufen ist. So wurde ein Dammschnitt ohne Einwilligung von 78 % der Assistenzärzt:innen als geburtshilfliche Gewalt empfunden, wohingegen diese Einschätzung nur 15 % der Fachärzt:innen teilten. Einen Dammschnitt ohne Indikation stuften alle Assistenzärzt:innen als geburtshilfliche Gewalt ein, jedoch nur 64 % der Fachärzt:innen. Bei einem Dammschnitt ohne Anästhesie betrug die Einschätzung 96 % versus 76 %. 89 % der Fachärzt:innen sprachen sich dafür aus, keine Begleitperson während der Geburt zuzulassen. Dies stand einer Einschätzung von 64 % der Assistenzärzt:innen gegenüber.

    Alle Fachärzt:innen vertraten die Auffassung, dass Gebärende während der Geburt schweigen sollten, diese Einschätzung teilten knapp drei Viertel aller befragten Assistenzärzt:innen (100 % versus 73 %). Mehr Fachärzt:innen als Assistenzärzt:innen waren der Ansicht, dass vaginale Untersuchungen auch ohne Einwilligung der Gebärenden möglich sind (85 % versus 58 %). Ein Großteil aller Fachärzt:innen sprach sich im Vergleich zur Gruppe der Assistenzärzt:innen gegen eine freie Wahl der Geburtsposition aus (82 % versus 58 %) sowie gegen ein Stillen innerhalb der ersten Lebensstunde (82 % versus 58 %).

    Die Autor:innen zeigen weiter auf, dass die Begriffe geburtshilfliche Gewalt, Missbrauch sowie Respektlosigkeit von den befragten Teilnehmer:innen der Studie unterschiedlich definiert und verstanden werden. Die Autor:innen diskutieren ihre Ergebnisse zum Themenkomplex der geburtshilflichen Gewalt kritisch, weil offenbar wird, dass Fehlverhalten im geburtshilflichen Kontext vorliegt: Die Anwendung geburtshilflicher Gewalt scheint an der Tagesordnung zu sein, dies scheint jedoch von den Akteur:innen gar nicht so empfunden zu werden.

    Die Autor:innen sprechen sich dafür aus, dass gerade Fachärzt:innen, die ihre Ausbildung schon länger abgeschlossen haben, Schulungen zum besseren Verständnis geburtshilflicher Gewalt absolvieren sollten.  Sie empfehlen weitere Forschung in diesem Themenbereich.

    Loreto, T. M., Kuhn Dos Santos, J. F. & Nomura, R. M. Y. (2022). Understanding the opinion of doctors on obstetric violence in Brazil to improve women's care. Midwifery, 109, 103294. https://doi.org/10.1016/j.midw.2022.103294 ∙ DHZ

    Rubrik: Politik & Gesellschaft

    Erscheinungsdatum: 27.06.2022