Auf den Wellen der Lust
Angelica Ensel: Amira, du arbeitest als Doula und Geburtscoach und zurzeit auch an einem Buchprojekt über »Orgasmische Geburt«. Wie ist die Idee entstanden?
Amira Gorski: Durch meine Arbeit als Doula bin immer mehr zu dieser lustvollen, orgasmischen Dimension der Geburt und auch der Vorbereitung dafür gekommen und ich habe gemerkt, dass es hier einen starken Wunsch bei den Frauen gibt. Ich selbst hatte eine solche Geburt und habe dann eine Facebook-Gruppe »Orgasmische Geburt« gegründet. Innerhalb von einer Woche waren 200 Frauen dabei. Es gibt ein großes Bedürfnis nach Austausch.
Angelica Ensel: Was haben die Frauen in dieser Gruppe über ihre Erfahrungen berichtet?
Amira Gorski: Drei Viertel der Frauen hatten nichts in dieser Richtung erlebt, aber sie wollten gerne etwas darüber wissen – teilweise auch, weil sie schwanger waren oder schwanger werden wollten. Etwa ein Viertel der Frauen hatte eine Erfahrung dieser Art und wollte andere ermutigen.
Angelica Ensel: Wie ging es dann weiter?
Amira Gorski: Im Kontakt mit den Frauen habe ich gemerkt, dass da ein starker Wunsch war, etwas von den anderen erzählt zu bekommen – also nicht nur in Andeutungen, wie zum Beispiel bei Ina May Gaskin. In der Literatur gibt es nichts wirklich Griffiges, bis auf den Film und das Buch »Orgasmic Birth« von Debra Pascalli-Bonaro, was ich beides sehr amerikanisch finde. Ich denke, für Frauen aus unserem Breitengarden ist es schwieriger, sich darin wiederzufinden.
Auch bei dem Buch »Die selbstbestimmte Geburt« von Ina May Gaskin sind es spezielle Geschichten, die dort auf den Farmen und in den Geburtshäusern entstanden sind. Da denken die Frauen hier: Ist ja schön, aber ich habe nicht die Chance, auf so einer tollen Geburtsfarm zu sein. So ist in der Gruppe der Wunsch entstanden, ein Buch zu schreiben, und ich habe ihn aufgegriffen: ein Buch, in dem wir Geschichten über orgasmisches Gebären sammeln und den Frauen zur Verfügung stellen wollen.
Angelica Ensel: Welche Inhalte sind geplant?
Amira Gorski: Zum einen sind es die Geburtsgeschichten der Frauen. Zum anderen ist mir wichtig, dass auch Wissenschaft und ExpertInnenwissen darin vertreten sind. Wobei ich den Begriff ExpertIn sehr weit fasse. Dazu gehören auch Tantra-LehrerInnen, SexualtherapeutInnen oder zum Beispiel Hanna Strack als christliche Theologin. Ich wünsche mir, dass es viele Frauen inspiriert und den Blick öffnet für das, was möglich sein kann – nicht als Stress oder Druck, sondern als Gefühl: »Wow, das gibt es auch« und: »Ja, ich habe Lust, mich in dieser Richtung vorzubereiten, mich überhaupt ganzheitlicher vorzubereiten auf die Geburt«.
Angelica Ensel: Was verstehst du unter einer orgasmischen Geburt? Der Begriff Orgasmus wird üblicherweise mit Sexualität verbunden. Von außen gesehen, erscheint es für viele fremd oder exotisch, ihn im Kontext der Geburt zu sehen.
Amira Gorski: Der Titel ist absichtlich so gewählt, damit man hinschaut. Man könnte es auch lustvolles oder ekstatisches Gebären nennen, aber das hat nicht den gleichen Effekt. Ich glaube, dass es dieses Aufwachen braucht. Wir sind im Kontext von Geburt so sehr auf Schmerz geprägt, dass es ein klares Gegengewicht geben muss. Aber es ist sehr unterschiedlich, wie die Frauen es erleben und wie sie den Begriff für sich definieren.
Im Englischen gibt es mittlerweile einen neuen Begriff: »Birthgasm«, der sich konkret auf diese Art Geburtserleben bezieht. Bei manchen Frauen ähnelt es sehr stark einem Orgasmus, wie wir es aus dem Sex kennen. Bei anderen geht es zwar in diese Richtung, ist aber doch auch wieder etwas ganz anderes. Man muss sich ein wenig von dieser Begriffsdefinition freimachen und sie erweitern. Dennoch ist die Geburt in vielerlei Hinsicht dem Sex sehr ähnlich. Allein wenn wir uns anschauen, welche Organe und Hormone aktiv sind, dann ist es eigentlich von der Intensität her wie ein Super-Orgasmus.
Angelica Ensel: Kannst du das näher erklären?
Amira Gorski: Es sind die gleichen Körperteile beteiligt, die gedehnt werden, es kommt etwas durch unsere Vagina, wir brauchen ganz viel Oxytocin und Geborgenheit. All das brauchen wir auch beim Sex, um zum Orgasmus zu kommen. Dieser Bezug zum Sex ist sehr wichtig, denn er lehrt uns ganz viel über Geburt. In ursprünglicheren Kulturen ist dieser Bezug auch viel besser erkennbar.
In unserer Gesellschaft, in der die Geburt ins Krankenhaus verlegt wurde, wo keine oder nur sehr wenig Intimität möglich ist, ist uns dieser Aspekt völlig verloren gegangen: dass es eigentlich etwas ist, was zu unserer Sexualität dazu gehört. Genauso wie das Kinder machen. Den beliebten Spruch von Hebammen: »So wie das Kind reinkommt, kommt es auch wieder raus«, habe ich als Doula sehr oft gehört. Da steckt eine tiefe Wahrheit drin.
Angelica Ensel: Nur, dass die klinische Geburtsatmosphäre dies meist nicht fördert.
Amira Gorski: Niemand würde sich im Traum vorstellen, dass man den Sex, um ein Kind zu zeugen, ins Krankenhaus verlegt und es unter Überwachung geschieht. Aber eine Geburt ist genauso intim. Da sind Körperflüssigkeiten, die Frau ist nackt, in ihrer tiefsten Körpermitte geöffnet, in ihrer Seele ganz offen und durchlässig – wenn die Gebärende da wirklich in die Tiefe gehen kann und sich nicht durch Medikamente stumpf macht. Die Frauen, die den natürlichen Weg gehen, machen Grenzerfahrungen, sie weinen und sind mit ihren tiefsten Ängsten konfrontiert. Das ist in jeglicher Hinsicht intim – körperlich und seelisch, das hast du sonst nur beim Sex. Deshalb ist dieser Vergleich so wichtig und so logisch.
Angelica Ensel: Diese Perspektive verändert den Blick, auch auf viele andere Aspekte.
Amira Gorski: Es betrifft Fragen nach der Geburtsatmosphäre, nach den GeburtshelferInnen, GeburtspartnerInnen und ihrer Rolle. Es gilt neu zu überdenken, wie sehr du die Frau anleitest, an die Hand nimmst oder störst. Beim Sex würde dir auch keiner sagen: »Komm, ich sag dir jetzt, wie du stöhnen und dein Becken bewegen sollst.« Gebären ist auch etwas Triebhaftes. Als gute Geburtshelferinnen wollen wir, dass die Gebärenden nicht so viel ihren Neokortex benutzen, sondern ihr Stammhirn, ihren Basic Instinct. All das wollen wir auch beim Sex, wir wollen nicht im Kopf sein und nicht gestört werden. Wir wollen eintauchen in diese »Sex-Blase” und genau das brauchen wir beim Geburtsorgasmus oder bei einer lustvollen Geburt. Wenn man das vergleicht, ist es nicht wichtig, ob es schlussendlich zu einem Geburtsorgasmus kommt oder nicht – so wie es beim guten Sex gar nicht wichtig ist, ob ich einen oder multiple Orgasmen habe, sondern es ist wichtig, dass es ein wundervolles, lustvolles Erlebnis ist, bei dem ich die ganze Zeit in meiner Liebe und nicht in meiner Angst bin. Auch umgekehrt ist es das gleiche, wenn ich Geburt und Sex vergleiche. Es gibt Sex, der ist das Schönste, was es gibt auf der Welt. Und genauso kann Sex das Allerschlimmste sein, wenn ich vergewaltigt werde. Beides ist der physisch gleiche Vorgang.
Angelica Ensel: Ja, es sind diese beiden Pole.
Amira Gorski: Einmal ist es ein unglaublich schönes Erlebnis und ein anderes Mal muss ich es jahrelang aufarbeiten. Genau das Gleiche passiert den Frauen bei den Geburten, und das wird so oft übersehen. Wie oft sagen die Frauen zu mir als Doula über eine ihrer früheren Geburtserfahrungen: »Ja ich hatte eine traumatische Geburt, ich möchte es jetzt anders und wenn ich darüber nachdenke, war meine Geburt im Krankenhaus vom Gefühl her wie eine Vergewaltigung.«
Angelica Ensel: Auch Hebammen hören das oft.
Amira Gorski: Es sind die gleichen Grenzüberschreitungen, die in dieser ohnmächtigen Position passieren, wenn ich so geöffnet bin. Beim Sex ist es die Liebe, die den Unterschied macht, und dass ich mich geborgen fühle. Dass ich nicht kontrolliert und überwacht bin, sondern frei entscheiden kann, Sex zu haben, wie, mit wem und in welcher Geschwindigkeit – all das macht guten Sex aus und unterscheidet ihn von übergriffigem Sex, der in Richtung Missbrauch geht. Und genau das passiert uns in den Krankenhäusern. Wie traurig ist es, wenn Frauen sagen: »Ich möchte nur eine selbstbestimmte Geburt, mehr brauche ich gar nicht. Es ist toll, was du machst mit der lustvollen Geburt, aber Hauptsache, es wird nicht so schlimm wie beim letzten Mal.« Stell dir das mal in Bezug auf Sex vor, dass jemand sagt: »Ich muss gar keine Lust oder Liebe empfinden, mir reicht schon, wenn ich entscheiden darf, wann der Mann reingeht.«
Je mehr ich mich damit beschäftige, denke ich, dass das lustvolle Gebären die eigentliche Art ist, wie wir Kinder kriegen sollen, wie es von der Natur vorgesehen war. Aber wir sind kulturell so tief und konsequent in Richtung Schmerz geprägt worden, dass wir es vergessen haben. Das zeigt ja schon unsere deutsche Sprache, wo es »Wehe” heißt. Jetzt fangen wir an, das zu hinterfragen, und es gibt immer mehr Frauen und GeburtshelferInnen, die stattdessen das Wort »Welle« verwenden.
Angelica Ensel: Glaubst du, dass es ein Tabu ist, von der lustvollen Geburt zu sprechen?
Amira Gorski: Ja, auf jeden Fall. In meinen Videos auf Youtube in der Reihe »Orgasmic Birth Talk« spreche ich immer wieder über verschiedene Aspekte zum lustvollen Gebären. Und hier erhalte ich teilweise Kommentare, meistens von Männern, wie etwa: »Wie pädophil ist das, ein ungeborenes Kind mit Sex in Verbindung zu bringen? Es ist das Heiligste, was es gibt, das darfst du nicht mit Sex in Verbindung bringen.« Geburt gilt als heilig und Sex als etwas Schmutziges. Das zusammenzubringen, ist ein Tabu. Wenn wir wüssten, es ist wie Sex, müssten sich mehr männlichen Ärzte fragen, ob es richtig ist, bei einer Geburt dabei zu sein. Auch die werdenden Mütter und Väter würden das für sich neu beantworten. Beim Sex würde ein männlicher Arzt sich nie trauen, ins Zimmer reinzukommen und mit der Frau irgendwas zu tun, vor allem nicht ungefragt.
Daher ist es absolut logisch, dass den Frauen diese Erkenntnisse und Zusammenhänge von Geburt und Sex bewusst vorenthalten werden, denn sonst würde das ganze System unserer aktuellen Geburtshilfe in den Krankenhäusern nicht mehr funktionieren. Logisch also, dass es tabuisiert wird und kaum eine Frau sich traut, darüber offen zu sprechen. Ich glaube, es ist auch eine Art Selbstschutz der Ärzte und Geburtshelfer. Wenn wir es uns geschichtlich ansehen, als die ersten Ärzte und Gynäkologen vor knapp 200 Jahren mit den Frauen ihre Experimente gemacht haben, da mussten die Ärzte es vom Sexuellen entkoppeln, sonst hätten sie es gar nicht machen können, vor allem nicht in der damaligen Zeit, wo ein fremder Mann niemals den Intimbereich einer Frau hätte berühren dürfen. Dadurch, dass die Geburt aber zu etwas Gefährlichem und Medizinischem deklariert wurde, ergab sich die Legitimation, sogar männlichen Ärzte an die weiblichen Genitalien ranzulassen. Und so darf die Geburt noch heute nichts Sexuelles an sich haben, da sonst jeder andere Mensch im Raum – besonders, wenn er nicht in einem sehr vertrauensvollen Verhältnis zur Gebärenden steht – unangenehm berührt davon wäre, Zeuge eines sexuellen Aktes zu sein.
Angelica Ensel: Die Enteignung der Geburt durch die Medizin hat hier sicher eine zentrale Bedeutung. Welche weiteren kulturellen Prägungen sind aus deiner Sicht noch entscheidend für diese Lustfeindlichkeit?
Amira Gorski: Die Kirche hat ihren Teil dazu getan: Am besten sollten die Frauen noch keusch empfangen und auch in der Weihnachtsgeschichte wird über die Geburt selbst nicht gesprochen. In allen Kinderbüchern geht Mama ins Krankenhaus und kommt mit einem Baby zurück. Es geht früh los mit dieser Prägung und der Tabuisierung. Wie viel tausend Mal haben wir etwas Negatives über Geburt gehört. In dem »Conni«-Hörbuch meiner Tochter kriegt Conni ein Brüderchen und Mama geht ins Krankenhaus und Conni fragt die Oma: »Was passiert mit ihr jetzt?« und: »Wird es Mama weh tun?« Und die Oma sagt: »Eine Geburt tut immer weh, aber die Freude danach ist weitaus größer.« Den Satz kann meine Tochter auswendig nach zweimaligem Hören.
Wenn ich also heute als Erwachsene schwanger bin und vielleicht noch acht Monate Zeit habe, bis mein Kind kommt, dann muss ich diese acht Monate sehr effektiv nutzen, um all das Gelernte der vielen Jahre Prägung umzuprogrammieren. Das heißt, ich muss sehr stark sein in meinem Wollen, es anders zu fühlen und zu interpretieren.
Angelica Ensel: Die inneren Bilder sind sehr wirksam.
Amira Gorski: Wir wissen heute, wie sehr wir unseren Körper beeinflussen können durch das, was wir denken und fühlen. Wenn ich mit Angst in die Geburt gehe, werde ich bei der ersten kleinen Wehe denken: »Oh mein Gott, jetzt fängt es an, jetzt wird’s schlimm.« Und schon verkrampfe ich mich und dann wird es auch schlimm. Wenn ich aber trainiert habe, in die andere Richtung zu denken und es lustvoll zu interpretieren, gibt es bei jeder Welle die Entscheidungsmöglichkeit: Wie nehme ich sie, in welche Richtung gehe ich? Es bedeutet, Ja dazu sagen, sich dafür zu öffnen, und nicht nur das, sondern sich für die Lust in der Welle zu öffnen – wie beim ersten Mal Sex. Da ist es seltsam, dass ein Penis oder ein Finger in die Vagina reinkommt. Es fühlt sich seltsam an, weil wir es nicht kennen, unser Gehirn kann es mit nichts vergleichen. Und dann haben wir die Entscheidungsmöglichkeit.
Meistens haben wir leider gelernt, es in Richtung Angst zu interpretieren, wenn wir etwas nicht kennen. Bei der Geburt ist es das Gleiche, besonders für Erstgebärende, es ist wie »das erste Mal”. Wenn wir also gut vorbereitet sind und schon eine lustvolle Schwangerschaft hatten, ist es leichter, sich und seinen Körper auf einer lustvollen Ebene zu halten, um da leichter eintauchen zu können.
Angelica Ensel: Es braucht also eine intensive Vorbereitung?
Amira Gorski: Ja, es braucht Zeit, um das umzuprogrammieren, damit ein komplett neues Gefühl entsteht, wenn dann die Wellen kommen. Ein Gefühl, das eine Erstgebärende noch nie erlebt hat in dieser Intensität. Dann hat sie die Wahl: Gehe ich in die Lust oder gehe ich in die Angst? Und es ist möglich, in die Lust zu gehen, und es ist so schön. Ich habe da so viel erlebt, sowohl aus eigener Erfahrung als auch bei den Frauen, die ich begleitet habe. Es ist beeindruckend, wie das möglich ist und wie die Frauen, die eine natürliche Geburt erlebt haben, auf den Wellen und ihrer Lust gesurft sind.
Angelica Ensel: Viele kennen Hypnobirthing und auch das Umbenennen, wovon du sprichst, und wir kennen den Angst-Spannungs-Schmerzzirkel. Ich kann verstehen, dass es Frauen gibt, die keinen Schmerz empfinden, aber von Lust zu sprechen. Macht das nicht vielleicht auch Stress?
Amira Gorski: Es ist genau andersherum. Nicht: Ich muss erst den Schmerz wegmachen und dann bin ich bereit, Lust zu empfinden, sondern: Wegen der Lust empfinde ich den Schmerz nicht oder empfinde ihn nicht als Schmerz. Wenn wir wieder vom Sex ausgehen, dann kennen vielleicht einige, dass es Positionen gibt, die manchmal an der Schmerzgrenze sind. Dann haben wir die Möglichkeit, damit umzugehen. Und weil wir bereits auf der Lustkurve sind, weil wir so viel Oxytocin und Endorphine im Blut haben, nehmen wir es nicht als Schmerz wahr, sondern fühlen: Oh, es ist einfach noch intensiver und braucht noch mehr Öffnung und Hingabe, damit ich es weiterhin als lustvoll erleben kann. Ich kann nicht gleichzeitig Lust und Angst empfinden. Das heißt, wenn ich gleich bei den ersten Wellen, wo es noch leichter geht, bewusst auf den Lustweg abbiege, dann hilft mir die Lust. Die Lust ist die beste PDA, das beste Schmerzmittel, so wie eine warme Badewanne, wie die Super-Doula, die dich die ganze Zeit streichelt, oder der Partner, der dir Lust verschafft. Wir denken immer, Lust wäre etwas, das uns so anfliegt, aber das stimmt nicht. Du kannst es lernen, indem du schaust, was macht mich denn lustvoll und wie kann ich mich selbst in diesen Zustand bringen?
Angelica Ensel: Wie funktioniert das während der Wehen?
Amira Gorski: Ich selbst kann mir die Lust geben, mich dahin bringen durch das Atmen und Stöhnen. Ich kann zum Beispiel erst dann anfangen zu atmen und zu stöhnen, wenn ich gar nicht mehr anders kann, oder ich fange davor an, bei der ersten kleinen Welle. Ich kann schauen, wie fühlt sich das an? Kann ich das in meine Yoni runter atmen, ah, okay, mmh. Wenn ich mich so bewege, dann gibt es aus der Welle einen kleinen Impuls und wenn ich das verstärke, fühlt sich das erotisch, erregend an. Das heißt, ich kann mir selbst die Lust verschaffen, sie verstärken, sie sozusagen übertreiben, um dann sofort ein höheres Oxytocin-Level zu erreichen. Und schon empfinde ich die nächste Welle nicht als schmerzhaft, sondern ich kann sie als noch intensiver wahrnehmen und mit ihr noch mehr in die Lust einsteigen. Das heißt, es ist das perfekte Schmerzmittel, wie zum Beispiel auch Masturbation unter der Geburt.
Angelica Ensel: Kennst du dazu Erfahrungen von Frauen?
Amira Gorski: Viele Frauen berühren sich intuitiv. Oft wird das von überfleißigen Geburtshelfern im Krankenhaus bewusst unterbunden oder zumindest thematisiert und dann ist es der Frau plötzlich peinlich. Die Scham lässt die Frau meist sofort eng werden. Dabei wissen alle Frauen, die es bei Migräne oder Regelschmerzen mal ausprobiert haben, dass ein kleiner Orgasmus oder nur die Erregung ganz oft diesen Krampfschmerz wegnimmt. Es ist logisch, es zieht sich einmal alles komplett zusammen und dann geht’s in die totale Entspannung, ähnlich wie der Progressiven Muskelentspanntung, ein noch besseres körpereigenes Schmerzmittel wüsste ich nicht. Und das der Frau nicht zu sagen, halte ich für fahrlässig, weil es so ein effektives und gesundes Schmerzmittel ist, ohne jegliche Nebenwirkungen, und natürlich auch für den Partner eine ganz neue Dimension eröffnet. Plötzlich wollen die Partner bei der Geburtsvorbereitung auch aktiv dabei sein, wenn sie sagen: »Wie? meine Frau könnte einen Orgasmus haben bei der Geburt? Da will ich beteiligt sein.«
Angelica Ensel: Eine ganz andere Perspektive.
Amira Gorski: Die Männer wollen aktiv dabei sein in der Geburtsvorbereitung, weil sie einen ganz anderen Part haben. Sie sind nämlich die, die der Frau eventuell Lust verschaffen und ihr somit genial bei den Schmerzen helfen können. Nicht jede Frau mag das, manche wollen ganz in ihrer eigenen Blase sein. Aber wenn die Partnerschaft stimmig ist und der Mann das tragen möchte – er war ja auch beteiligt, als das Baby da reingekommen ist – dann ist es klar, dass er die Frau auf Händen tragen darf und sie massieren und ölen. Und dass es sein Job ist, dafür zu sorgen, dass die Frau nicht in ihre Angst geht, sondern auf ihrer Lustkurve bleibt. Keiner kann es besser, denn er kennt seine Frau und ihr Lustverhalten am besten.
Angelica Ensel: Gebären ist ja auch etwas sehr Beziehungsreiches.
Amira Gorski: Es ist wundervoll, wenn das funktioniert. Und trotzdem ist es eine ganz andere Art von Sexualität als die, die wir kennen. Wenn die GeburtshelferInnen das wissen, geben sie dem Paar den Raum, wenn er gebraucht wird. Ansonsten sind sie im Hintergrund da und die Frau darf sich trotzdem fühlen und der Mann darf trotzdem ihre Brüste kneten oder was auch immer, und es ist für keinen komisch, weil wir alle wissen, was in den Körpern biologisch vorgeht. Es hat ist nichts Schmutziges mehr. sondern es ist das heilige Geburtsgeschehen, das bei jeder Frau individuell und anders ist. Es ist etwas, was uns abhandengekommen ist und wofür ich gerne die Revolution einläuten möchte, damit es wieder in die Köpfe kommt und in die Körper.
Die Interviewte
Amira Gorski begleitet als Doula weltweit Schwangere und Paare in Gruppen- und Einzel-Coachings. Zudem startet im Januar 2021 ihre zehnmonatige Online-Weiterbildung zum »LustGeburtsCoach«. Diese richtet sich mit ihren frei wählbaren Modulen insbesondere an Hebammen, Doulas oder lustgeburts-erfahrene Mütter.
Hinweis
Im zweiten Teil des Interviews beschreibt Amira Gorski die Methoden und Ziele ihres Orgasmic Birth Coachings.