Das stille Lauschen

Eine Mutter, die ihrem Ungeborenen in Liebe zugetan ist, schafft damit gute Voraussetzungen für die Herausforderung der Geburt.
Die frühe Eltern-Kind-Bindung nimmt einen bedeutsamen Einfluss auf die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung. Sie legt die Grundlage für eine sichere oder unsichere Basis von Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein. Nach dem Gründer der Bindungstheorie, dem britischen Kinderarzt und Psychoanalytiker John Bowlby, ist Bindung ein naturgegebener Prozess zwischen Eltern und Kind, der das Überleben des Kindes sichert: Es aktiviert durch sein Bindungsverhalten das Fürsorgeverhalten der Eltern. Seine Bindungssignale wie Weinen, Schreien oder Zu-den-Eltern-Laufen führen zu fürsorgenden Antworten wie Füttern, Trösten oder Auf-den-Arm-Nehmen. Fühlt sich das Kind in seiner Bindung sicher und weiß, dass seine Bindungssignale beantwortet werden, so kann es wachsen, gedeihen und die Welt erkunden (Cassidy & Shaver 2008).
Vorgeburtlich ist eine vergleichbare Betrachtung der Vorgänge möglich: Der kindliche Organismus ist maßgeblich an der Initiierung der Einnistung, der Bildung der Plazenta und der Geburt beteiligt. Der mütterliche Organismus antwortet auf seine Signale. Gelingen diese Kommunikationsprozesse, so kann der kindliche Organismus wachsen und gedeihen. Während der Bildung seines Körpers in der Gebärmutter befindet er sich in einem äußerst empfindlichen und empfänglichen Entwicklungszustand und gleichzeitig in tiefer Verbindung zur Mutter. Daher ist diese Zeit eine der sensibelsten Phasen für Bindungsprozesse und eine große Chance, eine sichere und liebevolle innere Basis im Leben zu bilden.
Verbundenheit von Anfang an
Biologisch betrachtet haben Mütter und Kinder von Anfang an eine Verbindung. Die Körperzellen der Mutter und des kindlichen Organismus haben ihre gegenseitigen Signale empfangen und „ja gesagt“.
Aus der Sicht des „Embodiment“ oder der „Verkörperung“ entwickeln sich Körper und Psyche gemeinsam, wobei der vorgeburtlichen Entwicklung eine ganz besondere Bedeutung zukommt (Hüther 2010; Hüther & Krenz 2009). Im Mutterleib werden drei grundlegende Erfahrungen gemacht: das Verbunden-Sein mit einem anderen Menschen, der Mutter; das stetige Über-sich-hinaus-Wachsen und das erfahrbare Durchdrungen-Sein von den ursprünglichen bildenden Lebenskräften.
Diese Erfahrungen legen die Grundlage für die Gefühle und Bedürfnisse von Zugehörigkeit, „Selbstentwicklungsfähigkeit“ (Selbstwirksamkeit) und des „sense of self“, dem Gefühl des „Ich-Selbst-Seins“ (Urvertrauen). Daher ist es so bedeutsam, was das Kind psychisch in dieser physiologischen Situation erlebt. Die emotionale Verfassung der Mutter und ihre Einstellung zum Kind beeinflussen demnach, wie sich diese Grundgefühle entwickeln.
Psychologisch wird die pränatale Bindung als ein Verbindungsgefühl zwischen der Mutter beziehungsweise dem Vater und dem Ungeborenem aufgefasst. Aktuelle Forschungen gehen davon aus, dass die vorgeburtliche Bindung der Vorläufer für die Bindung nach der Geburt ist. Sie steht in direktem Zusammenhang mit den Bindungsgefühlen der Mutter, ihrer Feinfühligkeit und Kompetenz, der Qualität der Mutter-Kind-Interaktionen und dem späteren kindlichen Bindungsstil (Alhusen 2008; Brandon et al. 2009).
Vielen Menschen erscheint die Idee möglicherweise zunächst unglaubwürdig, dass sich Erinnerungen an Erlebnisse im Mutterleib auf die kindliche und erwachsene Gefühlswelt auswirken können. Der Psychologe und Mediziner Ludwig Janus erklärt dies so, dass wir unsere frühesten Erfahrungen nie vergessen und uns nur schwer tun, „sie als Erinnerungen an uterines Erleben zu identifizieren, weil sie vor der Sprache liegen“. Er spricht von einer früheren Erinnerungsart, die der für Tiere angenommenen nahe kommt: „Die Wut eines Hundes über den Fußtritt eines Postboten vor fünf Jahren wird beim Anblick dieses Postboten wieder Gegenwart, färbt die Wahrnehmung unmittelbar ein und löst einen Angriff aus.“ (Janus 2000, S. 124). Heute häufen sich die Hinweise in diese Richtung aus verschiedenen natur- und geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldern und eröffnen ein neues, noch ungewohntes Bild. Noch in den 1950er und 1960er Jahren wurden Neugeborene ohne Narkose operiert in der Annahme, dass sie noch nichts empfinden könnten. Dies hat sich glücklicherweise gewandelt.
Von Empfängnis bis Einnistung
Zum Zeitpunkt der Konzeption haben Spermien und Eizelle schon ihre eigenen Wege zum Ort ihrer Begegnung hinter sich. Dabei kommunizieren sie durch Signalaustauschprozesse mit dem mütterlichen Organismus. Solche Prozesse koordinieren einerseits das Verhalten der Zellen und sind andererseits epigenetisch wirksam (Fazeli & Holt 2016, Fazeli & Pewsey 2008). Sie können eine Langzeitwirkung auf die Struktur der DNA haben, indem bestimmte Gene zugänglich oder unzugänglich werden. Dieses epigenetische Profil liefert ein Substrat dafür, wie Umgebungsbedingungen, wie zum Beispiel der Hormonspiegel, auf zellulärer Ebene Spuren hinterlassen können. So hat jede Zelle eine eigene „Lebensgeschichte“, die in ihren sich beständig wandelnden epigenetischen Strukturen bewahrt ist. Der US-amerikanische Therapeut Karlton Terry geht davon aus, dass auf den Reisen von Samen- und Eizelle zu ihrer Begegnungsstätte schon Erfahrungen stattfinden, die mit der mütterlichen und väterlichen Gefühlswelt verbunden sind, aus der die Zellen kommen (Terry 2005).
Die Konzeption selbst ist ein Prozess von mehreren Stunden. Auch während dieser Zeit finden kommunikative Signalaustauschprozesse zwischen Spermien und Eizelle statt, die als Dialog aufgefasst werden (Gomez-Torres et al. 2015). Vor dem Hintergrund der Epigenetik ist vorstellbar, dass auch hier die Spermien-Eizellen-Kontakte in beiden Zellen Veränderungen auslösen können. Diese Kommunikation läuft so lange, bis schließlich die Eizelle und ein Spermium verschmelzen. Dabei ist eine bisher noch ungeklärte Bewegung der Eizelle zu beobachten. Sie dreht sich um sich selbst herum, und die Spermien sind von dieser Bewegung gleichsam auf wundersame Weise wie in einem gemeinsamen Tanz mit erfasst (van der Wal & Glöckler 2003).
Die pränatale Psychologie fasst die Konzeption als bedeutendes Begegnungserlebnis auf. Der Psychologe Rien Verdult geht davon aus, dass die elterlichen Gefühle dabei eine große Rolle spielen und „eine liebevolle Konzeption oder eine Vergewaltigung sehr verschiedene emotionale Rahmenbedingungen darstellen“. (Verdult 2014)
Die entstandene Zygote wandert nun in die Gebärmutter. Dabei findet zwischen den Zellen des kindlichen und des mütterlichen Organismus ebenfalls ein kontinuierlicher Signalaustausch statt (Fazeli & Holt 2016; Fazeli & Pewsey 2008). Es gibt Vermutungen, dass die fehlende Kommunikation bei künstlicher Konzeption zu den beobachteten epigenetischen Unterschieden im Vergleich zu natürlich entstandenen Embryonen beiträgt (Ventura-Junka et al. 2015).
In der folgenden Einnistung des kindlichen Organismus in die Gebärmutterschleimhaut geschieht etwas biologisch Einmaliges: Der mütterliche Organismus nimmt einen „fremden“ Organismus auf und versorgt ihn. Die Immunzellen, die sonst darauf ausgelegt sind, sämtliche Fremdorganismen zu eliminieren, werden dahingehend beeinflusst, dass der kindliche Organismus sich einnisten kann und Nahrung erhält. Dieses biologische Wunder ist aus den Erfahrungen der pränatalen Psychologie das erste grundlegende Bindungserlebnis zwischen Mutter und Kind (Verdult 2014).
In der Schwangerschaft
Meistens ist das erste bewusste Bindungserlebnis für die Mutter die Entdeckung ihrer Schwangerschaft. Ob lang ersehnt oder überraschend, löst sie eine Gefühlsreaktion bei ihr aus. Auch wenn der kindliche Organismus sich erst als „kleine Zellgemeinschaft“ zeigt, deuten Erkenntnisse aus verschiedenen Forschungsfeldern darauf hin, dass Gefühlserlebnisse der Mutter über die physiologische Verbindung vom Kind wahrgenommen werden und ihre Spuren hinterlassen können. Die Gefühlsreaktion schafft eine emotionale Umgebung aus Hormonen und anderen biochemischen Botenstoffen, durch die sich das Kind erwünscht oder unerwünscht fühlen kann (Verdult 2014). Laut psychotherapeutischer Erfahrungsberichte können diese Erlebnisse lebenslange Auswirkungen haben (Janus 2000).
Körperempfindungen und Gefühle der Mutter erreichen das Kind auf vielen Wegen. Innerlich erfolgt die Übertragung über die Blutzusammensetzung wie Hormone und Transmitter, die über Plazenta und Nabelschnur in das Baby gelangen. Gleichzeitig gehen emotionale Regungen mit Veränderungen von Muskelspannungen, Herzschlag, Atemrhythmus, Darmtätigkeit und Blutdruck einher, die das Kind wahrnehmen kann. Alle diese äußerlichen und innerlichen Botschaften vermitteln dem Kind, wie es der Mutter geht. Darüber hinaus können sie im Kind Gefühle auslösen. Gleichzeitig bilden sie die Umgebung, in der das Kind lebt.
Ist eine Mutter während der Schwangerschaft eher glücklich und entspannt, wächst das Kind in einer glücklichen und entspannten Welt mit entsprechend positiven Gefühlssignalen der Mutter heran. Ist das Leben der Mutter dagegen eher von Stress und Angst geprägt, lebt auch das Kind in einer stress- und angstvollen intrauterinen Welt. Dies wirkt sich auf die Funktionsweise des sich bildenden Nervensystems aus und damit darauf, wie das Baby sich selbst und die Welt nach der Geburt erlebt. Die Art der vorgeburtlichen Umgebung kann sozusagen die Ausrichtung der Empfangsantennen des Babys beeinflussen.
Eine Vielzahl von Studien belegt die Auswirkungen von Stress und Angst während der Schwangerschaft auf die physische und psychische kindliche Entwicklung (van den Bergh et al. 2005; Glover 2015). Diese Vereinfachung bedeutet keinesfalls, dass nur glückliche Schwangere glückliche Kinder bekommen können. Die Verfassung der Mutter während der Schwangerschaft ist eine Einflussgröße von vielen. Gleichzeitig ist es eine derjenigen, die direkt beeinflussbar und heilsam sein kann, wenn sich eine Mutter bewusst ihrer Gefühlswelt zuwendet.
Zuwendung zu den eigenen Gefühlen
Die psychologische Funktion von Bindung liegt im Wesentlichen in der Regulation von Emotionen. Babys und Kleinkinder bedürfen für die Regulierung ihrer Erregungszustände der Unterstützung durch eine Bindungsperson. Die pränatale Psychologie geht davon aus, dass dies auch für Ungeborene gilt. Liebe und Zuwendung bereiten den tragenden Raum für die kindliche Entfaltung und es ist für ungeborene Kinder wohltuend, wenn Eltern ihre Gefühle von Liebe und Freude nähren und zu ihnen fließen lassen. Auch für die Eltern fühlt sich diese Liebe gut an, sie entspannt sie und das wirkt zusätzlich entspannend auf das Baby. Der Psychologe und Pionier der prä- und perinatalen Psychologie William Emerson sieht im Geliebt-werden auch einen Schutz: „Liebe wirkt wie ein psychologischer Puffer oder ein ,Kissen‘ gegenüber tragischen Erfahrungen.“ (Emerson 2014, S. 523).
Eine weitere Chance kann darin bestehen, dass Eltern sich bewusst ihren eigenen Gefühlen zuwenden. Ist eine Mutter in einer Situation, in der sie Angst oder Wut empfindet, kann sie dabei versuchen, einmal tief durchzuatmen und sich einen Moment Zeit zu geben, um in liebevollem Kontakt zu ihrem Baby zu bleiben. Sie kann ihm ihre Liebe schicken oder eine Botschaft wie: „Ich habe gerade so viel Angst. Ich kümmere mich darum. Und ich freue mich so über dich und liebe dich sehr.“ Dann „erlebt“ das Kind, dass Wut und Angst regulierbar sind und zur Palette der menschlichen Gefühle gehören. Alle ehrlich benannten Gefühle der Beziehung zwischen Mutter und Kind können Sicherheit geben. Sie machen sozusagen den Weg frei für eine wahre Verbindung.
Dazu gibt es interessante Beobachtungen aus der Bindungsanalyse. Ein Beispiel betrifft Kinder, die sich kurz vor dem Geburtstermin noch in Beckenendlage befinden. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Eine Idee aus der vorgeburtlichen Bindungsförderung ist, dass die Kinder dem Herzen der Mutter nahe sein möchten und ihnen bei ihren Gefühlen von beispielsweise Trauer über einen Verlust helfen und sie nicht verlassen wollen (Hidas & Raffai 2010). Es gibt Beobachtungen, dass sich Kinder nach bestimmten Mitteilungen an sie innerhalb weniger Tage gedreht haben. So kann die Mutter ihrem Baby versichern, dass die Liebesverbindung zwischen ihren beiden Herzen auch bestehen bleibt, wenn es sich dreht und auf seinen Weg begibt. Möglicherweise können solche Mitteilungen dem Kind einen liebevollen Impuls geben und die Mutter entspannen. Diese Entspannung spürt das Kind und es hat mehr Platz für die Drehung.
Prozesse der Bindungsanalyse
Die Bindungsanalyse nach Raffai und Hidas betont unter anderem folgende psychologische Prozesse:
- Die Entwicklung und Vertiefung der gefühlten Verbindung zwischen Eltern und Kind. Sie erleben die gemeinsame Kommunikation auf emotionaler und mentaler Ebene. Daraus entsteht ein Verbindungsgefühl, das über die körperliche Verbindung hinausgeht und während und nach der Geburt zur Verfügung steht.
- Die Herausbildung der Wahrnehmung des Herzens und der Körpergrenzen des Kindes. Dadurch erfährt das Kind seine eigene Lebensquelle in sich selbst und empfindet die Vollständigkeit und Ganzheit seines eigenen Körpers. Dies soll eine Differenzierung der beiden Körper unterstützen, so dass das Baby auch psychisch vollständig geboren werden kann.
- Die Entwicklung von Mütterlichkeit und Väterlichkeit bei den Eltern. Durch die Unterstützung ihrer Potenziale von Lebendigkeit und Liebe wird der Reifungsprozess vom Kind ihrer Eltern zu den Eltern ihres Kindes gefördert.
- Die Verabschiedung des Kindes von der intrauterinen Welt. Mutter und Kind bereiten sich gemeinsam auf die Geburt vor. Die Mutter teilt dem Kind mit, wie sich die äußere Welt anfühlt. Dadurch wenden sich beide ihren Gefühlen zu, die mit der Geburt zusammenhängen. Freude, Trauer, Angst, Liebe oder Wut bekommen Raum und können integriert werden.
Diese Prozesse finden mehr oder weniger in jeder Schwangerschaft von selbst durch die intuitive Verbindung zwischen Mutter, Vater und Kind statt. Sie können durch die bewusste Zuwendung der Eltern zu ihrem Kind intensiviert werden. Eine bindungsanalytische Begleitung kann sie insbesondere in herausfordernden Situationen oder bei traumatischen Vorerfahrungen unterstützen (Hidas & Raffai 2010).
Gedanken und Sprache
Oft ist die Kommunikation zwischen Mutter und Ungeborenem mit Gedanken und Worten schwer vorstellbar. Gleichzeitig spüren sie viele Mütter intuitiv, ohne eine Erklärung dafür zu brauchen. Manchen mögen Konzepte aus der Linguistik, Systemtheorie oder Verkörperten Kognition überzeugen, wonach gedachte und ausgesprochene Gedanken stets mit Körperempfindungen, Gefühls- und Stimmungsfärbungen assoziiert sind (Lakoff 1987; Ciompi 1997; van Gelder 1998; Storch et al. 2008). Diese können dann vom ungeborenen Kind wahrgenommen werden.
Überzeugend sind für mich meine Erfahrungen bei der Begleitung von Schwangeren und Ungeborenen, sowie Berichte aus der Bindungsanalyse (Hidas & Raffai 2010; Blazy 2012). Für die Begründer der vorgeburtlichen Bindungsförderung, György Hidas und Jenö Raffai, ist auf der Basis von über 2.000 Begleitungen „die Kommunikation zwischen Mutter und ungeborenem Kind einer der Verbindungskanäle zwischen den beiden Unbewussten“. Sie stellen sich die Vermittlung dieser Kommunikation so ähnlich vor, wie Trauminhalte erlebt werden. Sie sprechen von einem „Traumschirm“, auf dem sich Gedanken, Gefühle und Bilder abspielen und ineinander umformen können: „Das Baby ist dazu fähig, die von der Mutter in Form von Bildern, Gedanken und Fantasien geschickte Nachricht zu decodieren und darauf zu antworten. […] Auf dem Traumbildschirm der Mutter – der psychologischen Fläche, auf die unsere Träume projiziert werden – erscheinen die Gefühle und Gedanken des Kindes, das sie unter ihrem Herzen trägt. […] Diese Empfindungen können sich in der Mutter in Bilder und Gedanken umformen und können verschiedene Fantasien und Gefühle mobilisieren.“ (Hidas & Raffai 2010, S. 84/104).
Eine werdende Mutter fasste es in folgende Worte: „Es ist, als würden sich in dir nicht deine eigenen Gedanken formulieren. Bei mir erscheint die Nachricht zuerst als Empfindung, dann begreife ich diese allmählich und wandle sie um in verständliche Gedanken.“ (Hidas & Raffai 2010, S.109).
Vor diesem Hintergrund ist die vorgeburtliche Eltern-Kind-Kommunikation eine große Chance, weil Erfahrungen und Gefühle der Eltern, die das Kind „mitfühlt“, „erklärt“ werden können: beispielsweise im Fall einer Mutter, die nach Entdeckung der Schwangerschaft besorgt war oder einen Abbruch in Erwägung gezogen hat. Sie kann dem Kind in Gedanken oder hörbar mitteilen, dass es ihre äußeren Umstände waren, die zu diesen Überlegungen geführt haben, und dass es keine Gründe gegen das Baby „persönlich“ waren. So kann sie beim Kind mögliche Gefühle des Unerwünscht-Seins auffangen und sich selbst von unangenehmen Gefühlen befreien und entspannen.
Wege der Verbindung
Es gibt viele verschiedene Wege, das vorgeburtliche Verbindungsgefühl zwischen Mutter und Kind zu vertiefen. Sie leben während der Schwangerschaft in einem gemeinsamen Körper und Gefühlsraum. Daher ist jede Minute, die sich die Mutter ihrem Körper und ihren Gefühlen zuwendet und sich Zeit für Ruhe und Entspannung gibt, gleichzeitig ein Raum für die Entfaltung von Zuneigung und Liebe zwischen Mutter und Kind. Die ungarischen Psychotherapeuten Jenö Raffai und György Hidas empfehlen hierfür das Schaukeln für zehn Minuten in einem Schaukelstuhl oder einer Hängematte als ein kleines tägliches Ritual (Raffai & Hidas 2010).
Der zweite Schritt ist die bewusste Zuwendung der Mutter zum Baby. Dies kann ganz einfach ein liebevolles Streicheln des Bauches sein. Es kann auch ein Gefühl von Liebe sein, das die Mutter von ihrem Herzen zu ihrem Baby strömen lässt. Bildliche Vorstellungen sind eine weitere Möglichkeit, beispielsweise das eigene Herz so groß werden zu lassen, dass sich das Kind darin geborgen fühlt. Oder die Vorstellung, das Kind im Arm zu wiegen oder mit ihm auf einer Blumenwiese zu spielen. Die Zuwendung kann auch durch Gedanken oder hörbar ausgesprochene Worte geschehen.
Manchen Frauen erscheint es ungewohnt, „mit dem eigenen Bauch“ zu sprechen, weil das Kind sie vermeintlich nicht verstehen kann. Hier kann der Gedanke helfen, dass es sich ja auch ganz natürlich anfühlt, nach der Geburt mit dem Baby zu sprechen, lange bevor es mit Worten antworten kann. Die Stimme versetzt den gesamten Körper der Frau und damit die Umgebung des Kindes und das Kind selbst in Schwingungen. Babys erkennen direkt nach der Geburt die Stimme ihrer Mutter aus ihrer vorgeburtlichen Erfahrung (DeCaspar & Fifer 2004). Da jede lebendige Zelle Schwingungen wahrnimmt, „hört“ der Embryo auch schon lange, bevor sich das Ohr gebildet hat (Tsong 1989). Daher ist es für das ungeborene Kind oft besonders schön, wenn die Mutter oder der Vater ihm etwas vorsingen.
Zurückspiegeln
Berichte aus der Bindungsanalyse (Hidas & Raffai 2010; Blazy 2012; Volz-Boers 2016) und eigene Erfahrungen zeigen, dass Empfindungen, Gefühle, Bilder oder Botschaften in beide Richtungen fließen können. Mutter und Vater können still lauschen, was vom Baby zu ihnen strömt. Dadurch entsteht ein Raum, in dem sich die Gefühle von Eltern und Kindern begegnen können. Diese Momente können sehr beglückend sein. Oft sind sie so tief berührend und voller Liebe, dass sie sich wie Seelenberührungen anfühlen und kostbare Perlen in der Entfaltung der Eltern-Kind-Bindung sind. Sie können zu Tränen der Liebe und Freude rühren. Manchmal können sie auch alte Verletzungen heilsam berühren. Manchmal gelingt das stille Lauschen auf die Botschaften vom Baby nicht gleich oder Mütter sind sich nicht sicher, ob die Bilder wirklich vom Kind kommen und nicht ihrer Fantasie entspringen. Das spielt im Grunde keine Rolle, da sich Mutter und Kind in einem gemeinsamen Beziehungsraum befinden. Wesentlich ist für das Kind die Erfahrung, dass ihm zugehört wird. Es ist bedeutsam, was es empfindet und mitteilt und Mutter oder Vater möchten es hören. Es ist das Wohl-bringende Gefühl, wirklich gehört und verstanden zu werden. So ein Gefühl entsteht, wenn die Mutter dem Baby dankt und ihm mitteilt, was sie „verstanden“ hat oder glaubt verstanden zu haben.
Dieser Prozess wird auch Zurückspiegeln genannt, da das Kind seine Gefühle oder Botschaften gespiegelt bekommt. Daraus kann sich das „Selbst-Gefühl“ des Kindes entwickeln. Dafür ist es hilfreich, wenn die Mutter sich für die Botschaften vom Baby bedankt, sie zurückspiegelt und nachspürt, wie das Kind darauf reagiert. Dadurch kann für das Kind eine Erfahrung seines Gehört-, Angenommen- und Geliebt-Seins geschehen. Die Psychoanalytikerin Ursula Volz Boers sagt: „Indem die Befindlichkeit des Kindes erspürt, mit ihm darüber gesprochen und auf seine Antwort gelauscht wird, kann es sich als eigenes, von der Mutter und dem Vater unterschiedenes Wesen wahrnehmen. Das Kind braucht für die Entwicklung seines eigenen Körperselbst die Abgrenzung vom Körperselbst der Mutter.“ (Volz-Boers 2016, S. 106/107).
Prozesse der Bindungsentwicklung
Während der vorgeburtlichen Entwicklung geschehen zwei wesentliche Bindungsprozesse zwischen Mutter und Kind: Einerseits entwickelt und vertieft sich die Empfindung der Verbundenheit – das bedingungslose Sich-Einlassen auf die Bindung. Andererseits entwickelt sich die Empfindung der eigenständigen Lebensfähigkeit und Ganzheit als eigene vollständige Individuen. Die Bindungsanalyse spricht hier von Abgrenzung: „Eine erste Abgrenzung zwischen Mutter und Kind geschieht, wenn die Mutter dem Kind dessen Herzschlag spiegelt und dabei vermittelt, dass sein schnellerer Herzschlag ein anderer ist als ihr langsamerer Herzschlag.“ (Volz-Boers 2016, S. 107)
Diese beiden Vorgänge während der vorgeburtlichen Bindung ermöglichen die Lösung (Ent-bindung) und den Übergang in die neue Form der Bindung nach der Geburt. „Eine gute Lösung wird durch die vorausgegangene gute Bindung ermöglicht und ist selbst wieder Voraussetzung dafür, dass neue gute Bindungen entstehen können.“ (Mergeay 2016, S.70). Es ist das tiefe Vertrauen in die bleibende Verbundenheit während des Einlassens auf die Trennung. Diese Prozesse geschehen bei Mutter und Kind gleichermaßen.
Literatur
Alhusen JL: A literature update on maternal‐fetal attachment. Journal of Obstetric, Gynecologic & Neonatal Nursing 2008. 37(3) 315–328
Blazy H: Gespräche im Innenraum. Mattes. Heidelberg 2012
Brandon AR, Pitts S, Denton, W. H, Stringer CA, Evans HM: A history of the theory of prenatal attachment. Journal of prenatal & perinatal psychology & health. APPPAH 2009. 23(4) 201
Cassidy J, Shaver P: Handbook of attachment; theory, research and clinical applications. Guilford Press. New York 2008
Ciompi L: Die emotionalen Grundlagen des Denkens: Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Vandenhoeck & Ruprecht 1997
DeCasper A, Fifer W: Of human bonding: Newborns prefer their mothers’ voices. Readings on the Development of Children. Worth Publishers 2004. 56
Emerson WR: Prä- und perinataler Schock – ein universelles Leiden. In: Lehrbuch der Pränatalen Psychologie. Mattes. Heidelberg 2014
Fazeli A, Holt WV: Cross talk during the periconception period....
»