Die Schuld des Mutterwerdens

Ab der ersten Sekunde, in der Frauen wissen, dass sie schwanger sind, machen sie sich Sorgen. Sorgen, es könnte etwas schief gehen, es könnte etwas nicht perfekt sein. Eines ist klar: Man selbst ist schuld. Wie ist es, diese Gefühle zu durchleben, wann entstehen sie und was hilft, um sie zu verarbeiten? Saskia Alexander
  • An so vielen Dingen in meinem Leben habe ich gezweifelt, mit so einigen ungeplanten Umwegen dahin gefunden, wohin ich gar nicht wusste, hinkommen zu wollen. So oft habe ich vermeintlich falsche Entscheidungen getroffen und deren Konsequenzen getragen. So oft habe ich mich schlecht gefühlt, so oft schon Schuld empfunden. Und am Ende trotzdem immer hoch erhobenen Hauptes dagestanden und gedacht: Es war genau richtig und gut so. Der Zweifel, die Sorge – vollkommen unbegründet. Das Leben ist eben doch gar nicht so kompliziert. Und dann wurde ich Mutter.

    Auch wenn es quasi Berufsrisiko ist, zu wissen, dass eine Schwangerschaft nicht immer so bilderbuchmäßig verläuft, wie es einem Hochglanzmagazine oder Hollywood versprechen, hat man trotzdem dieses ganz bestimmte Bild im Kopf und die rosarote Brille auf der Nase, durch die man zwei kleine blaue Striche auf einem Plastikstück anhimmelt.

    Im nächsten Moment setzen dann bereits die ersten Sorgen ein: Wird es gut gehen? Wird es gesund sein? Habe ich irgendwann zu viel getrunken und geraucht – ja auch noch das. Wenn es nicht klappt, dann ist das garantiert meine Schuld. Auf einmal waren sie da, diese Schuldgefühle, wenn auch vollkommen irrational. Du, noch nicht mal groß wie eine Erbse, trotzdem bin ich es jetzt, die dafür verantwortlich ist, dass es dir gut geht und das für den Rest meines Lebens. Wow, das macht mir Angst!

    Zum Glück war ich dann aber nicht mehr die Einzige, die dachte, dass ich bestimmt vieles falsch mache und dich eventuell damit umbringe oder schwerst schädige. Immerhin arbeite ich zu viel, der Schichtdienst geht gar nicht. Das sich Übergeben ist auch sicher gar nicht gut und dir wird es an Nährstoffen fehlen. Der Zeitpunkt auch vollkommen falsch gewählt, das Haus soll ja gerade erst gebaut werden und finanziell wird das ja auch nicht einfach. Vielen Dank, ich hatte mir selbst schon über viele Dinge Gedanken gemacht, aber jetzt weiß ich zum Glück auch ganz offiziell, dass ich es nicht richtig machen werde. Wie viele Stunden habe ich nachts dagelegen und mich gesorgt, mir Gedanken darüber gemacht. Was ist, wenn sie alle recht haben, wenn ich schuld daran sein werde, dass dir mal etwas passiert, es dir nicht gut geht, du nicht glücklich wirst?

    Wir haben es ihnen in den folgenden Monaten aber erstmal gezeigt: Du hast dich prima entwickelt und hast mich dich stolz in meinem Bauch tragen lassen. Du hast mich immer wissen lassen, dass es dir gut geht, wenn ich in Sorge war. Du hast noch lange mit mir gearbeitet, Tapeten ausgesucht, Schlitze zugespachtelt und tausende Touren in Baumärkte und Einrichtungshäuser mit uns unternommen. Ich hatte es mir ausgemalt, dass ich Wehen in unserer nagelneuen Badewanne haben würde kurz nach unserem Umzug, wenn ich dein Zimmer liebevoll und dickbäuchig eingerichtet hätte.

     

    Zwischen Stolz und Vulnerabilität

     

    Wie schnell Zuversicht jedoch in Angst und Sorge umschlägt, ließ mich dann der letzte große Ultraschall wissen. Du bist ein bisschen zu klein und viel Fruchtwasser ist da auch nicht mehr. Das kontrollieren wir besser beim Spezialisten. Zack, da wird in einem Moment aus einer stolzen Schwangeren eine ängstliche und von Selbstvorwürfen und Sorgen zerfressene Person, die Schuld daran ist, dass es dir in meinem Bauch nicht gut gehen könnte. Du bist noch nicht einmal da und schon versage ich.

    Von da an begleitete mich in erster Linie die Angst und Sorge um dich. Tag für Tag. Es folgten Kontrollen, dann die stationäre Aufnahme, die ewige Einleitung und schließlich die Sectio. Insgesamt waren es zwölf Tage, bis ich dich im Arm gehalten habe. Zwölf Tage, an denen ich mich ständig gefragt habe, was ich bloß falsch gemacht habe, warum ich es nicht geschafft habe, dich bis zum Ende in meinem Bauch mit genügend Fruchtwasser und Nährstoffen zu versorgen. Zwölf Tage, in denen ich jedes CTG von dir ängstlich und kritisch beäugt habe. Tage, an denen ich Sorge hatte, dass du ein Frühgeborenes wirst, getrennt von mir in einem Bett. Grausam für das Bonding, fatal für deine Entwicklung – weiß man ja alles. Sieben Tage davon Geburtseinleitung. Begonnen mit einem OBT, dann zwei Tage Prepidilgel. Ich bin mir nicht sicher, ob ich vorher oder nachher schon mal in so einem schamhaften Zustand war: im Kreißbett in Beinhaltern gelagert, von einer Nahtlampe ausgeleuchtet, per Zervixeinstellung das Gel intrazervikal eingelegt zu bekommen. Das alles von einem mir so geschätzten Oberarzt. Weiter ging es mit Gel, Misodel und am Ende dann Cytotec. Allein mit den ganzen Nebenwirkungen dieser Medikamente hätte ich dich umbringen können. Dann endlich der Blasensprung, Gott sei Dank. Diese ganzen schmerzhaften Wehen bislang hatten ja noch nichts gebracht. Zum Glück ging es dir aber immer gut.

    Am Ende hatte ich es somit doch nahezu geschafft, dich reif auszutragen. Wenn auch nur, weil ich nicht im Stande war vernünftige Wehen zu produzieren, dachte ich zumindest. Immerhin waren wir dann schon in der 38. SSW und du deutlich größer, als von allen geschätzt. Und du warst rosig und zufrieden und einfach nur perfekt. Im Gegensatz zu mir.

     

    Verzerrtes Selbstbild

     

    Ich hatte es zwar doch geschafft, dich nicht völlig verhungern zu lassen in meinem Bauch, aber ich habe es nicht geschafft, dich spontan zu gebären. Du wurdest per sekundärer Sectio geboren. Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment, in dem ich verstanden habe, dass wir nun abbrechen und in den OP fahren. Mir liefen die Tränen, ich war traurig, enttäuscht, müde und mürbe. In erster Linie aber habe ich mich schuldig gefühlt. Ich hatte wieder einmal versagt. Ich hatte es nicht geschafft, mein Körper hatte es nicht geschafft.

    Gibt es doch zahlreiche Studien dazu, dass per Sectio geborene Kinder »kränker und benachteiligter« sind?! Dir fehlen sämtliche Keime, um dein Immunsystem gut aufzubauen, Diabetes bekommst du jetzt sicher und an deine Darmflora darf ich gar nicht erst denken. Wenn es irgendetwas gibt, das dir nicht die optimalen Voraussetzungen zum Start in dein Leben ermöglicht hat, dann war ich das.

    Darüber hinaus, was bin ich denn jetzt für eine Hebamme? Wo war denn meine selbstbestimmte, kraftvolle, schmerzmittel- und interventionsfreie Geburt? So, wie sich das schließlich gehört, wenn man eine von den »Guten« ist. Oder? Ich bin nicht fast vollständig in den Kreißsaal gekommen und habe dann ein paarmal in einer aufrechten Position gedrückt, um dich dann zum Bonding in meine Arme zu schließen. Ich bin nach der Geburt nicht strahlend und topfit an meinen Kolleginnen vorbeigelaufen, um nach Hause zu gehen. Mit dir in meinem Arm, gerade ein paar Stunden alt, hoch erhobenen Hauptes. Strahlend wie Kate Middelton nach ihren Geburten.

    Ich habe mich gequält. Ich hatte solche Schmerzen, ich war so müde und erschöpft von allem, was hinter uns lag. Von all meinen persönlichen Niederlagen, von all meinem immer wieder Scheitern. Ich habe es nicht mal geschafft, dir deine erste Windel zu wechseln. Das hat zum Glück dein Papa mit all seiner Liebe für uns beide erledigt. Der, der so stolz auf mich war. Der, der mich seit dem Tag deiner Geburt nur noch viel mehr liebt. Auch wenn ich ein heulendes, schmerzgeplagtes, blutendes Häuflein »Hormonelend« war. Wie konnte er nur so stolz auf mich sein? Ich hatte es nicht mal geschafft, ihm sein Kind vernünftig zu gebären. Dein Papa hat trotzdem immer nur Liebe für mich mitgebracht. Manchmal wünschte ich, ich hätte mich einmal durch seine Augen gesehen in dieser Zeit.

     

    Als wären Selbstzweifel nicht schon genug

     

    Dann irgendwann, eine Seitenast-Thrombose später, kamen wir nach Hause, und dort begann zusätzlich etwas, auf das man nicht so richtig vorbereitet wird. Die Anteilnahme an der Geburt eines Kindes ist unglaublich. Glückwünsche und Geschenke aus so vielen Ecken. Das haben wir nicht erwartet, uns aber unglaublich gefreut. Was parallel allerdings auch Einzug hält, sind die Ratschläge und die gut gemeinten Tipps. Die »Ist-er-nicht-zu-kalt-oder-zu- warm-angezogen«-Gespräche. Die Unterhaltungen: »Bei mir war das ja ganz anders.«, »Du weißt schon was du tust, aber…«, »Der ist ja so klein, der wird von deiner Milch bestimmt nicht satt.«, »Was, du willst schon nach einem Jahr wieder arbeiten?«, »Das tut mir aber leid, dass es ein Kaiserschnitt war, das wäre ja für mich das Schlimmste gewesen.«, »Was, er hat einen Schnuller?«, »Du trägst ihn zu viel, das muss er irgendwann mal lernen, du verwöhnst ihn sonst zu sehr.«

    Ich denke, der Film »Bad Moms« könnte unbedingt eine Fortsetzung vertragen. Allerdings eher mit dem Titel »Epic Bad Mom« mit mir in der Hauptrolle. Ich bin grundsätzlich durchaus eine Person mit sehr dickem Fell, die hinter ihren Entscheidungen steht und diese klar kommuniziert. Ich hatte immer präzise Vorstellungen davon, was ich wie in meinem Leben mache und warum. Im Kreißsaal geht es darum in heiklen, pathologischen oder gefährlichen Situationen ruhig, eloquent, proaktiv und kompetent zu handeln. In der Wochenbettbetreuung ist man oft etwas, wie die beste Freundin auf Zeit mit zahlreichen guten Tipps und einer Fachkompetenz, die jederzeit zu schätzen gewusst wird.

    Das ändert sich jedoch vollkommen im Zuge des Mutterseins. Man gibt 24 Stunden an 7 Tagen in der Woche alles dafür, dass ein winziger Mensch alles hat, um zu überleben. Bauchschnitt, kaputte und blutige Brustwarzen, der Schlafmangel des Lebens. Man sieht Freundinnen kaum noch, kommt meist zu spät und es ist quasi ein Sechser im Lotto, wenn man einen halben Tag schafft, ohne »angekotzt« rumzulaufen. Immerhin ist man im Zeitalter, in dem der morgendlich zusammengeknotete Dutt oben auf dem Kopf zur neuen Hipsterfrisur geworden ist. In Kombination mit den Leggins, weil alles andere mit Körperflüssigkeiten bedeckt im Wäscheberg verschwindet, sieht man zumindest so aus, als hätte man sein Leben im Griff. Und was soll ich sagen, man liebt es und man war ganz sicher in seinem Leben noch nie so glücklich wie mit dir. Denn du bist perfekt! Ich bin es nur nicht. Ich habe gar nichts im Griff und sitze oft weinend neben dir, weil es mir leidtut, dass du so eine schlechte Mutter hast. Bei jedem Weinen, für das man nicht innerhalb kürzester Zeit eine Lösung fand, bei jeder Frage nach dem, was ich dir am besten anziehen sollte, bei jedem Problem, von dem ich nicht direkt eine Lösung wusste, habe ich mich so unglaublich schlecht gefühlt. Ich war in Sorge vor jedem Wiegen mit deiner großartigen Hebamme, dass du nicht gut genug zunimmst oder dich nicht gut entwickelst.

    Sie war zum Glück immer vom Gegenteil überzeugt. Sie hat mir in dieser ersten Zeit so viel gegeben. Mut, Kraft und Selbstvertrauen. Jedes »es ist doch alles gut, ihr macht das super«. Jedes Mal in ihre Augen zu sehen, die mir sagten »Hey, du bist gut für ihn, du bist eine gute Mutter. Hör auf damit, anderen mehr zu glauben als dir selbst«. Jeder einzelne Besuch holte mich auf unterschiedliche Art aus meinen Selbstzweifeln und meinen Schuldgefühlen. Sie hat mir immer wieder gezeigt, was wirklich wichtig ist. Du, Papa und ich. Wir sind ein Team. Wir gegen den Rest der Welt. Du bist zwar unser winzig kleines Versuchskaninchen, aber du wirst bedingungslos geliebt. DAS zählt!

     

    »Die gerade Linie ist gottlos«

     

    Genau das war es auch, was mich so nachhaltig verändert hat. Das war der Beginn eines ganz neuen, sehr harten Weges zu mir selbst. Der Ausweg aus den Schuldgefühlen. Ich weiß nicht, ob ich jemals ankommen und es schaffen werde, mich davon freizumachen. Das Wochenbett ist nämlich einfach nur der Auftakt zu gut gemeinten Ratschlägen, Empfehlungen und durch die Blume gesagt zu bekommen, dass man alles falsch macht.

    Es ist aber auch der Beginn einer neuen Reise zu sich selbst und zu dem, wie einen die anderen haben wollen, oder eben zu dem, was man selbst möchte und gut findet. Das ist zwar der schwerere Weg, der uns mehr zweifeln und vielleicht auch manchmal scheitern lässt. Es ist aber der Weg, wir selbst zu bleiben und trotzdem eine gute Mutter sein zu können – auch wenn man es eben ganz anders macht.

    Neben der gesamten fachlichen Betreuung ist das für mich als Hebamme zu einem der elementarsten Aufgaben in meiner Wochenbettbetreuung geworden. Die jetzige Generation der werdenden Eltern, zu der auch ich mich selbst zähle, steht an so vielen Punkten im Umbruch. Die Einflüsse von außen werden durch die Zeitschriften, Foren und vor allem durch Social Media nicht weniger. Da stehen auf vier Seiten hunderte unterschiedliche Empfehlungen und Tipps. Als Influencerin verdient man inzwischen sogar Geld damit, andere Menschen von seiner eigenen Meinung zu überzeugen. Man kann sich Beckenendlagen und Gemini als Alleingeburt im Pool ansehen. Wie soll man da nicht ein falsches Bild von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bekommen? Wie kann man an so etwas nicht scheitern und sich für den Rest seines Lebens schlecht fühlen? Genau wie Langzeitstillen voll im Trend liegt. Was, wenn man gar nicht stillen kann oder gar will? Zack, schlechte Mutter! Unsere Eltern hatten in der letzten Generation oft noch das klassische Rollenmodell. Das geht heute oft gar nicht mehr – oder man will es vielleicht einfach nicht. Es bedeutet nicht, sich selbst und sein Leben vollkommen aufzugeben, wenn man ein Kind bekommt, oder?

    Um es mal mit Hundertwassers Worten zu sagen »Die gerade Linie ist gottlos«. Genau das ist der Punkt, es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Ich als Hebamme bin im Wochenbett dafür da, diesen Weg gemeinsam mit meiner Wöchnerin zu finden. Ihren Weg. Nicht meinen, oder den der Oma, Tante, Schwester oder Freundin. Es ist ihre Geburt, ihr Leben, ihr Kind. Wenn die »Schuldtränen« laufen, sage ich gerne: »Es gibt einen elementaren Pfeiler – und das ist Liebe. Alles andere wird sich finden. Vertrau auf dein Bauchgefühl! Das geht so oft verloren in der Zeit, in der es jeder so viel besser weiß. Aber du bist die Expertin für dein Kind, sonst niemand! Du bist gut, wie du bist! Wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen, kann aus Schuld Stärke wachsen. Aus Unsicherheit wird Zuversicht und du so viel glücklicher, als du es dir je hättest vorstellen können!«

    Rubrik: Ausgabe 07/2021

    Erscheinungsdatum: 23.06.2021