Ein Geburtshaus in den Alpen

Im Berner Oberland haben bäuerliche und bürgerliche Genossenschaften Tradition. Ein Geburtshaus in genossenschaftlicher Selbstverwaltung ist allerdings neu – die Bevölkerung der Bergregion hat sich die wohnortnahe Geburtshilfe in dieser Form erkämpft. Eine der ehemaligen Leiterinnen berichtet von der Gründung und der erfolgreichen Arbeit der »Maternité Alpine«: Nach sechs Jahren fällt die Bilanz gut aus, vor allem für die Familien, die Hebammen und die Umwelt. Marianne Haueter
  • Geburtshaus-Team auf dem Balkon der Maternité Alpine

  • Das Geburtshaus Maternité Alpine

  • Regenwanderung des Teams auf die Iffigenalp

  • Genossenschaftsversammlung der Maternité Alpine

  • Nachhaltigkeit wird als Prinzip verstanden, das die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne dabei das Leben zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen. Aus dieser Perspektive hat das Geburtshaus Maternité Alpine einiges vorzuweisen. Zuerst aber zur Entstehungsgeschichte: Seit 20 Jahren werden in der Schweiz Regionalspitäler und Geburtshilfeabteilungen wegen fehlender Rentabilität geschlossen. Jede Schließung wurde mit fragwürdigen Qualitäts-, Kosten- und Sparargumenten begründet (siehe auch DHZ 6/2016, Seite 73ff.).

     

    Keine regionale Geburtsklinik mehr

     

    Die Region Simmental-Saanenland ist Teil des Berner Oberlandes. Sie hat rund 18.000 Einwohner:innen. Zudem befinden sich während der touristischen Hauptsaison 30.000 bis 40 .000 Gäste in der Region.

    Die Betreiber des Regionalspitals schlossen die Geburtshilfeabteilung gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung. Das Defizit betrug 1,5 Millionen Schweizer Franken pro Jahr inklusive allen Vorhalteleistungen für rund 130 Kinder, die dort jährlich zur Welt kamen. Betreiber des Spitals ist eine Aktiengesellschaft, die im Auftrag des Kantons als Eigner und Aktionär die öffentlichen Kliniken betreibt. Diese war nicht mehr bereit, den Betrieb weiterzuführen. Geburtshilfe gehört nicht zur Grundversorgung, deshalb muss sie nicht dezentral angeboten werden.

    Für die Schwangeren bedeutete der Schließungsentscheid, künftig 50 bis 70 Kilometer in die nächstgelegene klinische Geburtshilfeabteilung in Thun fahren zu müssen: ein kurvenreicher Weg ins Tal, der je nach Wetter- und Schneelage zusätzlich beschwerlich ist. Zu dem höheren gesundheitlichen Risiko, dem hochschwangere und gebärende Frauen durch die langen Anfahrtswege ausgesetzt sind, kommen Angst und Stress hinzu. Außerdem wurde befürchtet, dass nach der Schließung der Geburtshilfe Hebammen und Fachärzt:innen wegziehen und damit auch die ambulante Versorgung in der Schwangerschaft und im Wochenbett wegfallen würde.

     

    Die erste Genossenschaft für Gesundheitsversorgung

     

    Nach dem verlorenen Kampf für den Erhalt der regionalen Geburtshilfe gründeten rund 50 Aktivist:innen die Geburtshausgenossenschaft Simmental-Saanenland. Sie wollten gemeinsam mit medizinischem Fachpersonal und in Zusammenarbeit mit weiteren Leistungserbringenden der Bergbevölkerung die geburtshilfliche Grundversorgung vor Ort selbst anbieten. Die Gründer:innen setzten sich aus einer breiten Allianz zusammen, unabhängig von ihrer politischen Aussichtung: aus Bürger:innen, Vertreter:innen politischer Parteien, engagierten Großrätinnen und Großräten (Regionsvertreter:innen im Kantonsparlament), Vertretungen von Gemeinden, regionalen Gewerkschafter:innen und des kantonalen Hebammenverbandes. Die Rechts- und Wirtschaftsform der Genossenschaft wurde gewählt, weil es in der Region eine breite und langjährige Erfahrung und Tradition mit der genossenschaftlich organisierten Wirtschafsform gibt. Das gilt etwa für Alpkooperationen und genossenschaftliche Weideflächen, Wasser- und Elektrizitätsversorgung.

    Die Genossenschaftsform erlaubt es, aus Nutzer:innen Miteigentümer:innen zu machen und die Verantwortung für die wohnortsnahe Grundversorgung in der Geburtshilfe zurückzugewinnen. Mittlerweile besteht die Trägerschaft des Geburtshauses aus 328 Mitgliedern, dabei sind auch Gemeinden als juristische Personen. Unseres Wissens ist die Genossenschaft als Träger für eine Gesundheitsversorgungseinrichtung neu in der Schweiz. Elinor Ostrom, die erste Nobelpreisträgerin in der Wirtschaft, hat diese Organisationsform in den 1990er Jahren in anderen Bereichen erforscht (Ostrom, 1990). Sie hat gezeigt, wie Kooperationen zur Selbstorganisation zwischen Markt und Staat erfolgreich und nachhaltig wirtschaften.

    Wir waren optimistisch, dass auch ein Geburtshaus eine Chance hat zu bestehen. Mit folgendem Inhalt gingen die Gründerinnen damals auf Informationstouren, um in den Gemeinden und bei Privatpersonen Startkapital aufzutreiben:

    • Hohes Bedürfnis in der Bevölkerung nach wohnortsnahem Angebot
    • Hochmotiviertes engagiertes Team
    • In der Region verankerte Fachleute (Hebammen und Fachärztin)
    • Attraktive Arbeitsplätze
    • Zeichen der Zeit: Keine Zentralisierung mit »Geburtsfabriken«, sondern familiäres wohnortsnahes Umfeld mit Eins-zu-eins-Betreuung
    • Hebammengeleitete Modelle sind die Zukunft: Im Vergleich zu herkömmlichen Modellen kommen sie zu besseren Ergebnissen für gesunde Frauen und Kinder.

    So konnte das Startkapital zusammengetragen werden, das laut Businessplan 600.000 Schweizer Franken betrug. Nur anderthalb Jahre waren nötig für die Arbeit an Konzepten, Gesuchen und Anträgen für die Betriebsbewilligung sowie für die Aufnahme auf die Spitalliste beim Kanton, um mit den Krankenversichern die stationären Leistungen in DRG-Fallpauschalen abrechnen zu können. Dann konnte am 1. Januar 2017 das Geburtshaus Maternité Alpine eröffnen.

    Auch die Zusammenarbeit mit den nächstgelegenen Spitälern und den Rettungsdiensten konnte vertraglich geregelt werden. Der damals erstellte Businessplan hat das Ergebnis in der Erfolgsrechnung im fünften Betriebsjahr annähernd erreicht, da es ein geburtenreiches Jahr war. Die ungedeckten Kosten betrugen noch rund 15.000 Franken.

     

    Ein breites Angebot – rund um die Uhr

     

     

     

    Blick ins Geburtszimmer

    Seit dem Betriebsstart bietet ein Hebammenteam eine kontinuierliche Betreuung für Frauen und Familien in der Schwangerschaft, über die Geburt und bis in die Wochenbettzeit an. Dies in enger Zusammenarbeit mit einer Fachärztin, einer Kinderärztin und seit kurzem mit einer zweiten zugezogenen Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe. In der Regel bleiben die Frauen nach der Geburt durchschnittlich vier Tage im Geburtshaus und werden danach zu Hause weiterbetreut. Die Wochenbettbetreuung zu Hause bieten die Hebammen bei Bedarf bis zum 56. Lebenstag des Kindes an.

    Da die Talschaften weitläufig auf einer Fläche von rund 700 Quadratkilometern im Streusiedlungsgebiet verteilt sind und zwischen 750 bis 1.300 Metern hoch liegen, absolvieren die Hebammen jährlich rund 15.000 km mit dem Betriebsauto. Pro Jahr werden in der Maternité Alpine rund 350 Schwangerenvorsorgeuntersuchungen im Wechsel mit der Fachärztin durchgeführt, 50 bis 70 Kinder geboren, rund 40 Mutter-Kind-Paare nach der Geburt in einer Klinik im Wochenbett im Geburtshaus betreut und über 600 Wochenbettbesuche zu Hause vorgenommen. Insgesamt werden über 700 Pflegetage für Mutter und Kind im Geburtshaus geleistet.

    Hinzu kommt ein sogenannter »Geburtshilflicher Dienst«, der über 100-mal im Jahr in Anspruch genommen wird. Diesen Dienst leistet die Maternité Alpine rund um die Uhr. Das beinhaltet Konsultationen für Probleme oder Notfälle, also Beratung, Triage, Erstversorgung und bei Bedarf begleitete Verlegungen ins Zentrumsspital nach Bern mit den Rettungsdiensten. In unserer Tourismusregion wird dieser Dienst auch von Feriengästen in Anspruch genommen.

    Mit viel Hartnäckigkeit konnte letztes Jahr nach einem Pilotversuch ein zusätzliches neues Angebot geschaffen werden. Dies ermöglicht, indizierte und geplante Sectiones ambulant in der Regionalklinik durchzuführen, indem der OP vor Ort genutzt werden kann. Die Frauen werden postoperativ gleichentags von den Hebammen ins nahe Geburtshaus zur Weiterbetreuung gebracht, nachdem unsere niedergelassene Fachärztin die Sectio mit Assistenz der Hebammen und dem OP-Personal durchgeführt hat. Das Geburtshaus befindet sich in einem Chalet in Zweisimmen, nur drei Minuten Fahrzeit vom Regionalspital entfernt.

     

    Ergebnisse der ersten sechs Jahre

     

    Die ersten Betriebsjahre zeigen, dass die Angebote im Geburtshaus gut genutzt werden. Auch wenn aufgrund von medizinischen Ausschlusskriterien nicht alle Schwangeren zur Geburt aufgenommen werden können, so kehren die meisten der Frauen unmittelbar nach der Spitalgeburt in Thun, Frutigen oder Bern zurück in die stationäre Wochenbettpflege des Geburtshauses. Das Bedürfnis, wohnortnah zu bleiben, ist groß und ermöglicht einen guten Start als Familie. Auch für die Angehörigen ist es eine Erleichterung, wenn Mutter und Kind möglichst nahe sind. Väter können das Wochenbett oder die Nächte im Familienzimmer verbringen und von dort direkt zur Arbeit gehen.

    In der Region gibt es viele Eltern, die in der Berglandwirtschaft tätig sind oder auch Eltern mit Migrationshintergrund, die in der Wintersaison in der Hotellerie arbeiten. Für die Väter und Geschwister ist die räumliche Nähe sehr zentral, da Tiere versorgt werden müssen und Hotels in der Saison Hochbetrieb haben.

    Das Geburtshaus Maternité Alpine beschäftigt 20 Frauen. Ihre Arbeitszeit entspricht rund acht Vollzeitstellen. Es sind vier Hauswirtschafterinnen, 15 Hebammen und eine Sachbearbeiterin. Zudem werden Praktikumsplätze für Hebammen in Ausbildung und Berufswahlpraktika angeboten. Die Hebammen arbeiten im Zwölf-Stunden-Schichtbetrieb, eine im ersten Dienst und die zweite bei Bedarf auf Abruf, wenn eine Geburt im Gange ist oder sich eine Wöchnerin im Geburtshaus aufhält.

    Die Hebammen kennen die meisten Frauen bereits aus der Schwangerschaft. Mit den wenigen Ärzt:innen vor Ort pflegen sie eine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Die Hebammen tragen eine große Verantwortung, denn das nächste Spital mit Geburtshilfe ist rund 50 km entfernt, im Fall einer Verlegung ist das eine weite Fahrt. Da die Bergbevölkerung Erfahrung mit Naturgefahren hat und häufig auch mit Geburtshilfe bei Tieren, ist ein Bewusstsein für die Grenzen menschlicher Machbarkeit vorhanden, aber auch ein Vertrauen in natürliche Prozesse. Eine Geburt in einem Geburtshaus wird nicht primär als »zu risikoreich« problematisiert.

    Seit Betriebsstart ist einmal ein lebensbedrohlicher Zustand für ein Kind in der Eröffnungsphase der Geburt aufgetreten, da es einen Nabelschnurvorfall hatte. Glücklicherweise mit gutem Ausgang, da vor Ort im nahen Regionalspital ein OP für kleinere chirurgische Eingriffe vorhanden ist und innerhalb kurzer Zeit das Kind per Sectio (Nothilfe) durch die niedergelassene Fachärztin, die Anästhesie des Spitals und die Hebammen der Maternité Alpine geboren werden konnte. Das Kind hat sich schnell und gut erholt ohne Beeinträchtigung.

    Die Verlegungsraten der Frauen in der Maternité Alpine sind nach Aufnahme zur Geburt und bis 24 Stunden post partum niedrig. Seit Betriebsstart bewegen sie sich zwischen 6 % und 12 %, meistens wegen Geburtsstillstand oder spontanem Blasensprung ohne Wehen über 24 Stunden (siehe Tabelle). Betroffen hat es 33 von 297 zur Geburt aufgenommen Frauen in den ersten sechs Betriebsjahren, allesamt in der Latenz- oder der Eröffnungsphase und drei davon nach der Geburt, aber keine Frau in der Austreibungsphase. Im gleichen Zeitraum mussten 14 Neugeborene verlegt werden. Häufigste Gründe waren Atemnotsyndrom, persistierende Hypoglykämie, Hyperbilirubinämie oder Frühgeburtlichkeit, wenn die Zeit bis zur Geburt nicht mehr für die Fahrt ins Zentrumsspital reichte.

     

    Verlegung per Helikopter oder Rettungswagen

     

    Wir haben nach sechs Berichtsjahren verlässliche Hinweise darüber gewonnen, dass die Indikationsqualität, die eigentliche »Königsdisziplin« der Qualitätssicherung und -förderung, für unser Geburtshaus voll zufriedenstellend ausfällt. Dies spiegelt sich auch im Vergleich mit 26 anderen Geburtshäusern in der Schweiz wider, deren Verlegungsquote 2019 zwischen 21 und 23 % lag (IGGH-CH, 2019). In Deutschland betrug die Rate in der außerklinischen Geburtshilfe 2019 rund 19,5 %, (15,6 % unter der Geburt und 3,9 % post partum) und 2020 waren es 19,2 % (15,2 % unter der Geburt und 4 % post partum) (QUAG, 2019/2020). Ein wichtiger Faktor für den Erfolg Maternité Alpine ist vermutlich die strenge Risikoselektion aufgrund der Distanzen in die nächste Geburtshilfeklinik.

    Häufiger als für Frauen unter der Geburt müssen Notfalltransporte in der Schwangerschaft für eine Überweisung ins 72 km entfernte Zentrumsspital Bern organisiert werden. Dies kommt ungefähr zehnmal pro Jahr vor. Die schwangeren Frauen stellen sich meistens in der Maternité Alpine vor, da es die einzige ortsnahe Möglichkeit ist, wo sie rund um die Uhr hingehen können. Je nach Dringlichkeit und schnellster Verfügbarkeit werden die Frauen mit der Rettungsflugwacht oder mit einem Rettungswagen vom Geburtshaus oder vom Heli-Landeplatz des nahen Spitals in die Zentrumsklinik nach Bern verlegt. Dies sind beispielsweise Schwangere mit vorzeitiger Wehentätigkeit und drohender Frühgeburt, vaginaler Blutung bei Placenta praevia, pathologischen Herztönen (CTG), Präeklampsie oder Frühgeburten mit einem Atemnotsyndrom.

    Bis zum Eintreffen der Rettungsdienste führen die Hebammen die Erstversorgung vor Ort durch – wenn verfügbar mit Unterstützung einer Fachärztin. Das heißt zum Beispiel venösen Zugang legen, Wehenhemmer verabreichen und allenfalls Lungenreifung starten. Durch die Erstversorgung der Hebammen vor Ort kann der Zustand der Frauen und Kinder bis zum Eintreffen der Rettungsdienste und bis zur Ankunft in der Zentrumsklinik stabilisiert werden. Im nahen Spital Zweisimmen könnte auch eine Anästhesiefachärztin für die Intubation eines Neugeborenen (Nothilfe) beansprucht werden.

    Die Dauer einer Verlegung oder Überweisung einer Schwangeren oder eines Neugeborenen variiert. Sie hängt ab von Dringlichkeit, Wetter- und Straßenbedingungen, Zielort (Bern oder Thun) und vom nächstverfügbaren Einsatzflug- oder Fahrzeug. Bis eine Schwangere oder ein Neugeborenes am Verlegungszielort ist, muss man mit mindestens 45 bis 60 Minuten (je nachdem, ob Thun oder Bern angesteuert wird) für die Schwangere rechnen und für das Neugeborene doppelt so lange, bis die Abholequipe samt Transportinkubator hin und zurück gefahren oder geflogen ist.

    Neugeborene werden in der Regel mit der REGA (Rettungsflugwacht) in die Kinderklinik nach Bern geflogen. Die REGA holt die Neonatologie-Equipe samt Transport-Inkubator in der Kinderklinik Bern ab und fliegt sie nach Zweisimmen, um das Neugeborene abzuholen. Im besten Fall dauert dies 45 bis 60 Minuten bei 12 Minuten Flugzeit, bis sie vor Ort sind. Bei unmöglichem Flugwetter wird die »Storchenambulanz« als Rettungswagen eingesetzt. Dies dauert länger, mindestens eineinhalb Stunden, bis die Equipe mit Inkubator vor Ort ist. Wenn es eilt, wird immer das schnellst verfügbare Einsatzfahr- oder Flugzeug via Sanitätsnotrufzentrale angefordert. Für Schwangere ist Ambulanz oder Helikopter im besten Fall in 15 und im längeren Fall in 40 Minuten vor Ort einsatzfähig – je nach Startort.

     

    Gute Zusammenarbeit vor Ort

     

    Aufgrund der dezentralen Lage sind die niedergelassene Fachärztin für Geburtshilfe und die Kinderärztin für die Maternité Alpine sehr wichtig, selbst wenn sie nicht immer verfügbar sind. Und auch das Regionalspital in Zweisimmen ist selbst ohne Geburtshilfe wesentlich, weil bei Bedarf Nothilfe und Unterstützung geleistet wird.

    Für die Schwangeren und Eltern in der Region ist die Maternité Alpine bedeutsam, weil sie neben der Grundversorgung im Notfall auch Erste Hilfe und Unterstützung durch Hebammen erfahren. Oft werden unnötige Fahrten vermieden, zum Beispiel mitten in der Nacht in die nächsten geburtshilflichen Spitäler in Thun oder Frutigen oder in die Frauen- oder Kinderklinik nach Bern. Die diensthabende Hebamme vor Ort ermöglicht eine fachliche Beurteilung und Triage und führt bei Bedarf die Erstbehandlung vor Ort durch.

    Alle diese Gegebenheiten und Einflussfaktoren führen zu guter Qualität. Alle Beteiligten fühlen sich dem Ziel eines guten Ausganges und eines guten Startes in den Prozess der Elternschaft verpflichtet.

    Erfreulicherweise hatte die Maternité Alpine bisher keine Schwierigkeiten, Hebammen zu finden, trotzt schweizweitem Fachkräftemangel. Es ist attraktiver, mit ganzheitlichem Ansatz zu arbeiten als, wie üblich, in Kliniken in fragmentierten Bereichen. Dem Fachkräftemangel in der Geburtshilfe kann mit einer Zentralisierung – wie oft behauptet – nicht entgegengewirkt werden. Denn häufig führt diese zu Veränderungen der Arbeitsbedingungen, die nicht im Interesse einer qualitativ hochwertigen Geburtshilfe sind: Hebammen müssen mehrere Gebärende gleichzeitig betreuen und die individuelle, kontinuierliche Betreuung leidet. Die originäre Hebammenarbeit kann nicht mehr zufriedenstellend ausgeübt werden, es kommt zu einer schleichenden De-Professionalisierung infolge der hierarchischen Arbeitsteilung und der Zerstückelung der Arbeitsprozesse. So verlassen erfahrene Fachkräfte die Geburtshilfe.

     

    Nachhaltig, umweltschonend, kostengünstig

     

    Was ist nun nachhaltig an diesem Versorgungsmodell, selbst wenn bislang nicht kostendeckend gearbeitet wird? Eine wohnortnahe, stressmindernde, niederschwellige kontinuierliche und ganzheitliche Betreuung und Unterstützung in der Schwangerschaft, während der Geburt, in der Wochenbett- und Stillzeit sind das Fundament für einen normalen physiologischen Verlauf. Solche Verläufe beugen gesundheitlichen Spätfolgen im Kindes- und Erwachsenenalter vor.

    Eine Eins-zu-eins-Betreuung unter der Geburt verhindert nachweislich allerlei Interventionen. Die hohen Sectioraten von teils über 30 % in der Schweiz und vielen europäischen Ländern sind nur zur Hälfte medizinisch erklärbar. Viele Kaiserschnitte dürften die Folgen einer ökonomisierten, auf Effizienz ausgerichteten Betreuungs- und Sorgearbeit sein, wo die Bedürfnisse der Betroffenen nicht erfüllt werden. Dies ist schwer zu beziffern.

    Das regionale Angebot ist umweltschonend: Es spart pro Jahr hochgerechnet rund 50.000 km Besuchsfahrten zu Mutter und Kind von Angehörigen. Dies sind Fahrkosten, die sonst privatisiert würden. Hinzu kommen die Zeitgewinne bei kurzen Anfahrtswegen.

    Für den Betrieb einer Gesundheitsversorgung sind in der Regel betriebswirtschaftliche und nicht nachhaltige volkswirtschaftliche und gesundheitliche Perspektiven handlungsleitend. Eine operative und interventionistische Geburtshilfe bringt höhere Erträge als die normale Geburt, gereicht dieser jedoch zum Nachteil. Eigentlich müsste es umgekehrt sein. Strukturschwache, dünn besiedelte Regionen haben schlechtere Bedingungen, weil die Preise und damit die Erträge zu niedrig sind, um diese mit großen Fallmengen kompensieren zu können.

    Die Maternité Alpine hat einen jährlichen Umsatz von rund 1 Million Schweizer Franken und hatte in den vergangenen Jahren ungedeckte Kosten zwischen 15.000 bis 200.000 Franken. Diese werden durch Spenden und Beiträge der Gemeinden gedeckt. Im Konkursfall würden Genossenschafter:innen mit ihren Anteilscheinen haften. Diese sind für 200 Franken vergeben worden. Die meisten Genossenschafter:innen besitzen 1-2 Anteilscheine. Die Deckung der Fehlbeträge durch Spenden und Gemeindebeiträge ist ein Novum in der Schweizer Gesundheitsversorgung. Es ist der Preis für den Erhalt derselbigen, da die gesetzlichen Regeln keine andere Möglichkeit zulassen. Neoliberale Staatsvertreter:innen und die Versicherer wollen keine dezentrale »unrentable« Geburtshilfe mit gemeinwirtschaftlichen Leistungen höher finanzieren.

    Für die Maternité Alpine sind die Verlegungskosten höher aufgrund der zentrumsfernen Lage. Diese Kosten gehen gemäß DRG-System zu Lasten der verlegenden Institution. Sie betragen schnell über 2.500 Schweizer Franken pro Fall, je nach Einsatzzeit und -art. Dies ist für strukturschwache Regionen besonders problematisch. Ebenso ist der Zeitbedarf für die langen Wege für ambulante Hausbesuche durch die Versicherer nicht entschädigt; es gibt nur eine Kilometer-Entschädigung.

    Auf der anderen Seite ist der Nachweis für die Behauptung, zentralisierte Geburtshilfe sei kostengünstiger und sicherer als regionale Geburtshilfe, bisher nicht erbracht worden. Es fehlen auch umfassende volkswirtschaftliche Vollkostenrechnungen. Hingegen verschiebt die Zentralisierung Kosten in den privaten Bereich. Dies oft zu Lasten der Frauen, wie zum Beispiel Kosten für Transportwege, Rettung, Arbeitsausfälle von Familienmitgliedern für Besuche ihrer Angehörigen, vorzeitige Heimkehr von Wöchnerinnen. Zudem weisen hebammengeleiteten Einrichtungen nachweislich weniger unnötige medizinische Interventionen auf (Aubry & Cignacco, 2015). Sie tragen damit zu Kosteneinsparungen und zum Erhalt der Gesundheit bei.

    Trotz der nun weitherum zentralisierten Geburtshilfe und nach der Schließung von mehreren Regionalspitälern und Geburtshilfeabteilungen sind im Kanton Bern die Kosten bis heute nicht gesunken. Auch das beliebte Argument von schlechterer Qualität wegen niedrigen Fallzahlen konnte im Bereich der Grundversorgung noch nie erbracht werden. Aus unserer Erfahrung sind Einflussfaktoren wie die Vernetzung zwischen der lokalen Bevölkerung als Trägerschaft, den Fachleuten und Klient:innen sowie die Wohnortsnähe und eine streng gehandhabte Triage wichtigere Faktoren, die zu guter Qualität führen.

     

    Mehr Synergien

     

    Wie sieht die Zukunft aus? Mittlerweile ist in der Region ein integriertes Versorgungsmodell mit allen Gesundheitsversorgern wie Regionalspital, Alterswohn- und Pflegeheim, ambulante Pflege, Maternité Alpine und Hausarztpraxen in Planung. Ziel ist es, die ganze Gesundheitsversorgung langfristig enger zusammenzuführen und mehr Synergien zu erreichen. Bei diesen Modellen eröffnen sich neue Finanzierungsbeteiligungen durch den Kanton. Wichtig scheint uns auch, dass auf behördlicher Ebene unterschiedliche Regulationen in der Geburtshilfe zugelassen werden, um einer Strukturbereinigung in der Grundversorgung in zentrumsfernen Regionen aufgrund der Verteuerung von Vorhalteleistungen entgegenzuwirken. Auch kleine abgelegene Einrichtungen können gute Outcome-Daten aufweisen, dies zeigen unsere Daten und mehrere kanadische Studien (Grzybowski et al. 2015) selbst ohne Möglichkeit der Sectio. Zentral ist der wohnortsnahe Zugang zur geburtshilflichen Grundversorgung mit einer Risikoselektion vor der Geburt.

    Um mit dem Motto der Präsidentin der Genossenschaft Geburtshaus Simmental-Saanenland abzuschließen: »Wir sind gekommen, um zu bleiben.«

    Rubrik: Beruf & Praxis

    Erscheinungsdatum: 24.11.2022

    Literatur

    Literatur

    Aubry, E., Cignacco, A. (2015). Hebammengeleitete Geburtshilfe im Kanton Bern. Ein Expertinnen- und Expertenbericht. https://www.bfh.ch/dam/jcr:6a91b3a3-baa5-4824-bbbc-20439fa74b18/projektbericht-hebammengeleitete-geburtshilfe-im-kanton-bern.pdf

    IGGH-CH Interessensgemeinschaft der Geburtshäuser der Schweiz, Statistikbericht 2019 und 2020, Internes unveröffentlichtes Papier.

    Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe (QUAG e.V.). Außerklinische Geburtshilfe in Deutschland, Qualitätsberichte 2019 und 2020. Verfügbar unter https://www.quag.de/quag/publikationen.htm

    Grzybowski, S., Fahey, J., Lai, B. et al. (2015). The safety of Canadian rural maternity services: a multi-jurisdictional cohort analysis. BMC Health Serv Res, 15, 410 . https://doi.org/10.1186/s12913-015-1034-6

    Ostrom, E. (1990). Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action (Political Economy of Institutions and Decisions). Cambridge:...

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