Frühgeborene brauchen Muttermilch

»Das Risiko einer nekrotisierenden Enterocolitis kann durch eine ausschließliche Ernährung mit Humanmilch signifikant gesenkt werden.«
Frühgeborene profitieren ganz besonders von einer ausschließlichen Ernährung mit humaner Milch (Boquien, 2018; Miller et al., 2018). Aufgrund der Unreife der Frühgeborenen sind die Bestandteile der Muttermilch essenziell für die körperliche und neurologische Entwicklung. Durch die protektive Wirkung in Bezug auf die nekrotisierende Enterocolitis (NEC), die bronchopulmonale Dysplasie (BPD) und Infektionen (Lund et al., 2022) , hat die Ernährung mit humaner Milch einen erheblichen Einfluss auf die Morbidität und Mortalität von Frühgeborenen. Die ausschließliche Ernährung mit humaner Milch ist deshalb ein wichtiger Bestandteil der intensivmedizinischen Behandlung von Frühgeborenen. Das Risiko einer NEC kann durch eine ausschließliche Ernährung mit Humanmilch signifikant gesenkt werden. Diese Schädigung der unreifen Darmschleimhaut, die vor allem Frühgeborene oder kranke Neugeborene betrifft, ist eine ernsthafte Komplikation, welche in 20–25 % der Fälle tödlich verläuft.
In der Gruppe der Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm liegen die internationalen NEC-Raten bei 2–5 % (Shulhan et al., 2017). In der AWMF-Leitlinie »Nekrotisierende Enterokolitis« wird für Deutschland eine Inzidenz von 2–4 % der Frühgeborenen unter 1.500 g beschrieben, die aufgrund einer NEC operiert werden müssen (Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Stand: 2017, in Überarbeitung, gültig bis 2022).
Steht grundsätzlich oder zwischenzeitlich nicht ausreichend Milch der eigenen Mutter zur Verfügung, empfiehlt die WHO die Gabe von Spenderinnenmilch zur Ernährung von Frühgeborenen. Wie eine Befragung aber gezeigt hat, wird in weniger als 30 % der Perinatalzentren Level I und Level II Spenderinnenmilch eingesetzt (Klotz et al., 2020). Die führt dazu, dass trotz der klaren Evidenz für die ausschließliche Ernährung mit humaner Milch, viele Frühgeborene in Deutschland (immer) noch mit Formula ernährt werden, anstatt mit gespendeter Humanmilch. So gaben über 60 % der Mütter von Frühgeborenen unter 1.500 g in einer Befragung aus dem Jahr 2020 an, dass ihr Kind während des Krankenhausaufenthaltes zu irgendeinem Zeitpunkt Formula erhalten habe (Scholten et al., 2022). Neben der Vorteilen der Ernährung mit gespendeter Humanmilch gegenüber der Ernährung mit Formula konnten Studien zeigen, dass allein das Vorhandensein einer Humanmilchbank den Anteil der Kinder steigert, die zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus mit Muttermilch ernährt werden (Kantorowska et al., 2016).
Vorteile der Muttermilch
Entsprechend der WHO Empfehlung ist Muttermilch die beste Ernährung für Neu- und Frühgeborene. Zusammenfassen lassen sich die Vorteile der Ernährung mit Muttermilch unter folgenden Kategorien (Callen & Pinelli, 2005):
- Ernährungsphysiologisch: u.a. aufgrund ihrer einmaligen Zusammensetzung aus Proteinen und Fettsäuren
- Gastrointestinal: Förderung der Reifung des Verdauungstrakts u.a. durch Wachstumsfaktoren, Insulin, Thyroxin, Glutamine und Aminosäuren
- Immunologisch: Aktive und passive Prägung des kindlichen Immunsystems durch z.B. IgA Antikörper, Interferone und Lysozyme
- Neuronale Entwicklung: vor allem die langkettigen, mehrfach ungesättigten Fettsäuren fördern die Gehirnentwicklung
- Psychologisch: durch intensiveres Bonding zwischen Mutter und Kind.
Das Forschungsprojekt Neo-MILK
An diesem Punkt setzt das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschuss geförderte Forschungsprojekt Neo-Milk an. Ziel ist es während der vierjährigen Laufzeit (1. Januar 2021–31. Dezember 2024) in einem ersten Schritt den aktuellen Stand der Still- und Laktationsförderung aus Sicht der betroffenen Mütter und der ärztlichen und pflegerischen Leitungen auf den neonatologischen Intensivstationen zu erfassen. Basierend auf diesen Ergebnissen wird ein Konzept zur strukturierten Förderung der Laktation auf neonatologischen Intensivstationen entwickelt, das in einem zweiten Schritt an 15 Perinatalzentren in Deutschland implementiert und evaluiert werden soll.
Hierzu gehört die Entwicklung von teilweise mehrsprachigen Info-Materialien (Flyern und Postern) für die Mütter/Eltern, Schulungsunterlagen für das Team der neonatologischen Intensivstationen (Online Schulungen, One-Minute-Wonder, Pocketwissen für die Kitteltasche) und eine Anleitung für das präpartale Aufklärungsgespräch.
Ergänzt werden diese Materialien durch eine App, die sich ganz speziell an die Mütter/Eltern von Frühgeborenen richtet. Hierin sind Informationen zum Thema Milchgewinnung und Stillen in den ersten Lebenswochen des Frühgeborenen zu finden. Die hierin eingebetteten Filme adressieren unter anderem die Themen: manuelle Brustentleerung, Abpumpen, hygienischer Umgang mit Muttermilch und die Lösung von Problemen rund um die Milchbildung. Des Weiteren bietet die App die Möglichkeit, die Abpumpvorgänge und die Milchmenge zu dokumentieren und sich erinnern zu lassen.
All diese Materialien wie auch die App basieren auf einem ausführlichen Handbuch zur Still- und Laktationsförderung auf neonatologischen Intensivstationen. Hierfür wurde die vorhandene wissenschaftliche Evidenz systematisch gesammelt, aufgearbeitet und daraus Empfehlungen abgeleitet. In das Handbuch und die Empfehlungen eingeflossen ist die Expertise unterschiedlicher Disziplinen, wobei Pflegefachkräfte aus der Neonatologie, IBCLCs, Neonatolog:innen, Psycholog:innen, Ökonom:innen, Sozialwissenschaftler:innen und Hebammen beteiligt waren.
Um das Projektziel zu erreichen, dass mehr Frühgeborene unter 1.500 g mit Muttermilch ernährt werden, sollen die Kliniken auch darin unterstützt werden, Humanmilchbanken aufzubauen. Diese Versorgung mit gespendeter Humanmilch soll die ersten Tage überbrücken, den Druck von den Müttern nehmen und den Einsatz von Formula auf ein absolutes Minimum reduzieren und bestenfalls komplett vermeiden.
Abbildung 1: Zeitpunkt des ersten Abpumpens nach der Geburt (in Prozent der befragten Mütter)
Abbildung 2: Abgepumpte Milchmenge nach 14 Tagen (in Prozent der befragten Mütter)
Still- und Laktationsförderung aus Sicht der Mütter
Bevor daran angesetzt wird, was es zu verbessern gibt, ist es wichtig zu erfassen, wie die aktuelle Versorgungssituation ausgestaltet ist und welche Defizite adressiert werden sollen. Hierfür ist mit Hilfe von vier kooperierenden Krankenkassen (AOK Rheinland Hamburg, DAK, Techniker Krankenkasse und der Pronova BKK) eine deutschlandweite Befragung durchgeführt worden. Dabei sind Mütter von Kindern mit einem Geburtsgewicht von unter 1.500 g und einem Alter von 6–24 Monaten zum Zeitpunkt der Befragung (Sommer 2021) angeschrieben und eingeladen worden, an der anonymen Umfrage teilzunehmen. Insgesamt konnten letztlich die Angaben von 533 Müttern ausgewertet werden.
Hierbei zeigt sich, dass fast 65 % der Mütter frühestens sechs Stunden nach der Geburt das erste Mal abgepumpt haben. Dies ist definitiv zu spät, da ein früher Pumpbeginn in den ersten sechs Stunden nach der Geburt zu eine höheren Milchmenge führt (Hoban et al., 2021; Parker et al., 2020) und somit mehr für das Frühgeborenen dringend benötigte Muttermilch zur Verfügung steht. Als Ursachen für das zu späte Abpumpen zu nennen ist die falsche Rücksichtnahme und die Priorisierung der Erholung der Mutter nach der Geburt, aber auch der Personalmangel im Kreißsaal und auf Station.
Hinzukommen noch fehlende Absprachen, wie auch uneinheitliche Informationen. Neben dem frühzeitigen Abpumpen ist diese mit einem Doppelpumpset und die zusätzliche manuelle Brustentleerung in den ersten 48 Stunden post partum zur Kolostrumgewinnung empfohlen (Ohyama et al., 2010).
Anzustreben ist insgesamt eine Muttermilchmenge von mindesten 500 ml am Tag 14 nach der Geburt, da Mütter, die diese Milchmenge erreicht haben, eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, dass sie ihr Kind zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus auch mit Muttermilch ernähren (Hoban et al., 2018). Diese kritische Marke von 500 ml haben laut Angaben der Mütter nur 38 % erreicht. Die geringe Milchmenge als Problem wird daher auch von 48 % der Mütter explizit benannt.
»Milchstau« wurde von 29 %, »wunde Brustwarzen« von 22 % der befragten Mütter als Problem genannt. Nach einem Monat gaben 9 % der Mütter an, gar nicht mehr abgepumpt zu haben. Fast 25 % pumpten nur 1 bis 5 Mal pro Tag ab.
Besonders Mütter von sehr kleinen Frühgeborenen sind über einen längeren Zeitraum davon abhängig, die Milchbildung über das Abpumpen aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wird die Dauer der Ernährung der Kinder mit Muttermilch maßgeblich davon beeinflusst, ob »ausschließlich abgepumpt«, »ausschließlich gestillt« oder »abgepumpt und »gestillt« wird (Keim et al., 2017; Pinchevski-Kadir et al., 2017). In der Befragung gaben nur knapp 49 % der Mütter an, dass sie den Übergang vom Abpumpen zum Stillen beziehungsweise das parallele Abpumpen und Stillen praktiziert haben. Somit ist fast die Hälfte der Mütter über die komplette Zeit hinweg ausschließlich beim Pumpen geblieben.
In Bezug auf die Bereitschaft, Muttermilch zu spenden oder auch Spenderinnenmilch anzunehmen, sehen wir große Zustimmung und die positive Einstellung der Mütter diesem Thema gegenüber. 7 % der Mütter geben an, selbst bereits Muttermilch gespendet zu haben, und weitere 74 % wären dazu bereit gewesen. Spenderinnenmilch erhalten haben mehr als 17 % der Kinder. Bedenken, Spenderinnenmilch anzunehmen, äußern 22 %, was aufzeigt, dass hier weitere Informationen zur Relevanz und zur Sicherheit von Spenderinnenmilch notwendig sind.
3 Tipps zum Abpumpen
- 8–10 Mal in 24 Stunden und davon 1–2 Mal nachts abzupumpen
- Dauer: circa 15 Minuten
- Ziel: mindesten 500 ml innerhalb von 24 Stunden am 14. Lebenstag
Frühgeburt – ein Stillhindernis?
Ab der 16. Schwangerschaftswoche beginnt sich präpartale Milch zu bilden, so dass auch nach einer Geburt in einer sehr frühen Schwangerschaftswoche die Mütter grundsätzlich in der Lage sind, Kolostrum und später auch ausreichend Muttermilch zu bilden.
Erschwert wird die Milchbildung jedoch durch viele Faktoren, die mit der Geburt eines Frühgeborenen einhergehen. Die erste Initiierung der Laktation wird durch den häufig notwendigen Kaiserschnitt (hier immer wieder auch unter Vollnarkose) zeitlich nach hinter verlagert, was dazu führt, dass die ersten wichtigen Stunden vergehen, ohne das die Milchbildung stimuliert wird. Hinzu kommt die räumliche Trennung von Mutter und Kind und das hierdurch erschwerte Bonding.
Wird von Anfang viel Wert auf einen frühen und häufigen Haut-zu-Haut Kontakt zwischen Mutter und Kind geachtet (»Kangaroo Care«), fördert dies das Bonding, das Wohlbefinden von Mutter und Kind und gleichzeitig die Milchbildung der Mutter (Mekonnen et al., 2019). Dies ist besonders relevant da dieser Haut-zu-Haut Kontakt auch in der Lage ist, den Stress der Mutter zu reduzieren. Da sich Stress negativ auf die Laktation auswirken kann, ist dies besonders wichtig (Lau, 2001). Eine weitere Erschwernis ist die Abhängigkeit der Mutter, die Milchbildung über das Abpumpen aufrechtzuerhalten. Auch wenn berichtet wird, dass Frühgeborene teilweise bereits ab der 32 postmenstrualen Woche vollständig gestillt werden können (Nyqvist, 2008), so ist doch ein Großteil auch über einen längeren Zeitpunkt darauf angewiesen, mit abgepumpter Milch ernährt zu werden. Trotz dieser Herausforderungen gibt es aber Konzepte, die dafür sorgen, dass auch Frühgeborene mit Muttermilch ernährt werden und der Übergang hin zum Stillen gelingt.
Strukturierte und kompetente Stillförderung gefragt
Mit etwa 60.000 Neugeborenen pro Jahr bilden die Frühgeborenen die größte Patient:innengruppe in der Kinder- und Jugendmedizin. Die Ernährung mit Muttermilch ist für Kinder, die zu früh geboren werden, von enormer Relevanz. Aufgrund der in den ersten Wochen und Monaten notwendigen intensivmedizinischen Betreuung der Frühgeborenen kommt es häufig zu Stillhindernissen und somit zu einer Unterversorgung mit Muttermilch. Um alle Frühgeborenen ausschließlich mit Muttermilch (oder zumindest mit humaner Milch) zu ernähren, bedarf es einer strukturierten und kompetenten Stillförderung in den Bereichen Neonatologie und Geburtshilfe. Dies ist nur mit dem Bewusstsein der Ärzt:innen, Pflegekräfte und Hebammen in den Kliniken zu realisieren. Mit dem Projekt Neo-MILK versuchen wir, dieses Bewusstsein zu schaffen, um langfristig Kindern den Zugang zu Muttermilch oder gespendeter Humanmilch zu ermöglichen.
Hinweis
Mehr unter www.neo-milk.de oder auch auf Instagram unter neo_milk.
Literatur
Black, A. (2012). Breastfeeding the premature infant and nursing implications. Advances in neonatal care : official journal of the National Association of Neonatal Nurses, 12(1), 10–11. https://doi.org/10.1097/ANC.0b013e3182425ad6
Boquien, C.Y. (2018). Human Milk: An Ideal Food for Nutrition of Preterm Newborn. Frontiers in Pediatrics, 6, 295. https://doi.org/10.3389/fped.2018.00295
Brown, J. V. E., Walsh, V. & McGuire, W. (2019). Formula versus maternal breast milk for feeding preterm or low birth weight infants. The Cochrane Database of Systematic Reviews, 8, CD002972. https://doi.org/10.1002/14651858.CD002972.pub3
Callen, J. & Pinelli, J. (2005). A review of the literature examining the benefits and challenges, incidence and duration, and barriers to breastfeeding in preterm infants. Advances in neonatal care : official journal of the National Association of Neonatal Nurses, 5(2), 72–88; quiz 89–92. https://doi.org/10.1016/j.adnc.2004.12.003
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