Gehört Gewalt in Spanien zur geburtshilflichen Realität?

Zwei Drittel der Frauen in Spanien erleben Gewalt unter der Geburt. Doch die Verwendung von Geburtsplänen sowie ein Stillbeginn während der ersten Lebensstunde scheinen dieser entgegenzuwirken.
Das Thema Gewalterfahrungen in der Geburtshilfe hat in den vergangenen Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. So benennt beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation das Ziel, eine respektvolle Geburtshilfe zu gewährleisten. Das Ziel einer spanischen Studie lag darin, die Prävalenz geburtshilflicher Gewalt und damit assoziierte Faktoren in Spanien zu evaluieren.
Durchgeführt wurde in diesem Zusammenhang eine Querschnittsstudie unter 899 spanischen Frauen, deren Geburtserfahrung maximal ein Jahr zurücklag. Sie wurden mit Hilfe eines Onlinefragebogens interviewt, der über Hebammen- und Frauenverbände versendet wurde. Geburtshilfliche Gewalt wurde über verbale, physische und psychische Variablen erfragt.
Die Ergebnisse zeigten, dass 67,4 % aller Frauen (n=6.060) über mindestens eine Form erlebter geburtshilflicher Gewalt berichteten. Insgesamt berichteten 25,1 % aller Frauen (n=226) über verbale Gewalt, 54,5 % (n=490) über physische Gewalt und 36,7 % (n=330) über psychische Gewalt. Es waren mehr Frauen von einer Gewalterfahrung betroffen, bei denen ein Geburtsplan vorlag, der nicht eingehalten wurde, als Frauen, bei denen der Geburtsplan eingehalten wurde. Zudem berichteten mehr Frauen über erlebte geburtshilfliche Gewalt in Zusammenhang mit einer Episiotomie, der Aufnahme ihres Neugeborenen auf eine Neugeborenen-Intensivstation und der Verwendung einer regionalen Anästhesie. Mehrgebärende Frauen und Frauen mit einem Stillbeginn in der ersten Lebensstunde nach der Geburt ihres Kindes waren seltener von geburtshilflicher Gewalt betroffen.
Die AutorInnen benennen als Limitierungen der Studie die gewählte Form der Online-Befragung, die zu verzerrten Ergebnissen beigetragen haben könnte, weil die Teilnahme für manche Frauen aufgrund technischer Hürden dadurch nicht möglich war. Jedoch stufen sie sowohl das Vorgehen als auch die Anzahl der Teilnehmerinnen als repräsentatives Sample ein. Sie interpretieren ihre Ergebnisse in Bezug auf den Geburtsplan aus der Perspektive, dass Frauen informierter an ihre Geburt herangehen, wenn sie zuvor einen Geburtsplan erstellen. In diesem Zusammenhang werden sie sensibilisiert für mögliche Formen geburtshilflicher Gewalt, die sie erleben, wenn ihr Geburtsplan nicht umgesetzt wird. Frauen können hierbei die Erfahrung machen, dass ihre Rechte als gebärende Frau nicht anerkannt und respektiert werden. Aus der Studie heraus stellt sich die Frage, ob es vielleicht weniger das Bewusstsein über eine Gewalterfahrung als die Gewalterfahrung selbst ist, die einen gravierenden Teil des Problems von Gewalterfahrungen im Bereich der Geburtshilfe darstellen.
Die AutorInnen resümieren aus ihren Ergebnissen, dass zwei von drei Frauen geburtshilfliche Gewalt in irgendeiner Form erlebt haben. Die Verwendung von Geburtsplänen sowie ein Stillbeginn während der ersten Lebensstunde scheinen geburtshilflicher Gewalt entgegenzuwirken.
Martinez-Galiano JM et al.: The magnitude of the problem of obstetric violence and its associated factors: A cross-sectional study. Women Birth 2020. http://dx.doi.org/10.1016/j.wombi.2020.10.002 ∙ DHZ