Im Anfang war ein Milchfeld

Unsere Reptilien-Vorfahren befeuchteten ihre Eier-Gelege mit einer Flüssigkeit aus einer Art Schweißdrüsen an der Vorderseite ihres Körpers. Das Lysozym darin, aus dem sich in hoch konzentrierter Lösung Kristalle bilden, bekämpfte Mikroorganismen. Durch eine kleine Genänderung entwickelte es sich zu Lactalbumin mit fast denselben Peptidmolekülen. Dies machte den Schweiß zur Ur-Milch, die die geschlüpften Jungen nun abschleckten: wohlschmeckend und nahrhaft. Die Milch dieser Ur-Mütter, von Paläontologen auch gerne Ur-Maias genannt – tropfte aus vielen Drüsen in einem Milchfeld, der Ur-Brust.
Vor rund 160 Millionen Jahren war es soweit, dass die ersten Säugetiere (Mammalia) lebende Junge zur Welt brachten. Dabei handelte es sich um die ersten Plazentatiere. Der Entdecker dieser kleinen Vierbeiner aus der Jurazeit nannte dieses Wesen Juramaia (Juramutter) – mit Bezug auf die Urahnenschaft dieser Gattung. Der Name Maia stammt aus dem Griechischen und bedeutet neben Mutter auch Amme und Hebamme. »Bio- und Paläontologen greifen gern auf diese Bezeichnung zurück, wenn sie implizieren wollen, dass das Tier eine wichtige Rolle in der Evolution, speziell der Säugetiere, gespielt hat oder wenn das Tier wohl Brutpflege betrieben hat.«, erklärt Dr. Ulrich Kotthoff, Mitarbeiter beim Geologisch-Paläontologisches Museum und Institut für Geologie in Hamburg.
Die ersten Säugetiere
Aber die Evolution der Laktation mit ersten sich kümmernden Maias begann bereits vor rund 300 Millionen Jahren (McClellan 2008). Schon vor den ersten Säugetierartigen, den behaarten Cynodontia, die noch Eier legende, aber bereits behaarte Landtiere waren, hatte sich ein System etabliert, den Nachwuchs mit einer bestimmten Flüssigkeit zu versorgen. Die Schalen ihrer Eier, die den Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid erlaubten, waren pergamentartig dünn, gummiartig und tolerierten keine Austrocknung. Damit die Eier die nötige Feuchtigkeit behielten, sonderte das Muttertier über eine Art apokrine Schweißdrüsen an seiner Vorderseite muköses Sekret ab, um sie damit zu benetzen. In diesem Sekret, das aufgrund von Zellbestandteilen zähflüssig war, befand sich auch ein Stoff, der die Eier vor schädlichen Mikroorganismen schützte: Lysozym (Oftedal 2002).
Ein Gen in der DNA war dafür zuständig, dass dieses Protein bereits vor rund 300 Millionen Jahren produziert wurde. Im Laufe der Zeit gab es irgendwann eine kleine zufällige Veränderung am Gen des Lysozyms Typ C, eine Genduplikation. Aufgrund dieser Variante entwickelte sich daraus ein neuer Stoff, der zu 40 % noch dieselben Aminosäuren besaß (Vorbach 2006), aber trotzdem etwas ganz anderes darstellte: Alpha-Lactalbumin. Es transformierte die protektive Flüssigkeit graduell zu einer Flüssigkeit, die nahrhaft war und nun von dem Transportstoff Vitellogenin in das Ei befördert wurde.
Im Lauf der Zeit kamen mehr Nährstoffe hinzu und die immer besser versorgten Eier wurden größer. Irgendwann begannen die geschlüpften Tiere diesen süßen Schweiß aus Poren von kleinen Drüsen an der Vorderseite der Mutter abzulecken und dieser Bereich entwickelte sich immer mehr zu einem sogenannten »Milchfeld« (Oftedal 2012). Die Eier legenden Tiere, die ihre aus dem Ei geschlüpften Jungen mit dieser Ur-Milch ernährten, waren die Ursäuger (Protheria). Bis heute befinden sich diese beiden Stoffe in der Milch von Frauen: Lysozym und das zentrale Molke-Protein Alpha-Lactalbumin. Zu 74 Prozent gibt es eine Übereinstimmung mit Alpha-Lactalbumin in Kuhmilch, die zusätzlich auch Beta-Lactalbumin enthält.
Lysozym – antientzündlich und antiviral
In der Muttermilch befinden sich in der Regel bis zu 40 mg Lysozym pro 100 g, doch von Frau zu Frau gibt es große Unterschiede. Das Enzym wird im Epithel der Brustdrüse gebildet, außerdem von Makrophagen produziert, die rund 40 % aller Leukozyten im Kolostrum darstellen. Seine globuläre Struktur zeigt fünf Spiral-Einheiten (Alpha Helices) und fünf Beta-Faltblätter. Diesen Formen zugrunde liegen Polypeptide, die aus 129 Aminosäuren gebildet werden. Lysozym kann Bakterien abtöten, indem es Zuckerketten im Gerüst von Bakterienzellwänden spaltet und dadurch die Zellwand abbaut, jedenfalls bei grampositiven Bakterien wie etwa Streptokokken und Staphylokokken. Bei gramnegativen Bakterien muss die äußere Membran zunächst durch andere Komponenten des Immunsystems, wie Lactoferrin, durchlässig gemacht werden. Neben der direkten antibakteriellen Wirkung kommt es über Rezeptoren auch zu einer Modulation des Immunsystems. Lysozym spielt eine wichtige Rolle als nicht-spezifischer Immunfaktor und wirkt antientzündlich. Es gibt Hinweise, dass es auch antiviral wirken kann.
Das Enzym hat auch einen starken Einfluss auf die Bakterienart: So ist es ein Selektionsfaktor für die Besiedlung von bestimmten kindtypischen Bifidobakterien (Minami 2015). Eine Studie ergab, dass Bifidobakterien, die eher typisch für Erwachsene sind, in Muttermilchproben starben. Kindtypische vermehrten sich dagegen gut auch bei einer großen Menge an Lysozym (Minami 2015). Kleinkinder, in deren Nahrung Lysozym fehlt, erkranken häufiger an Durchfallerkrankungen (Lönnerdal 2008).
Lysozym, genauer, Lysozym vom Typ C, gehört zum angeborenen Immunsystem bei Menschen und Säugetieren, wobei es sich jeweils in Wirkung und Menge etwas unterscheidet. So befindet es sich in Kuhmilch nur in geringen Mengen und ist nur rund ein Zehntel so wirksam wie das in menschlicher Milch. Es wird auch außerhalb der Brustdrüse produziert: im Atemtrakt, in den Nieren und in der Darmschleimhaut sowie von neutrophilen Granulozyten und Makrophagen. 80 % des Lysozyms im Blutplasma stammt aus dem Abbau von neutrophilen Granulozyten. Aufgrund dieser vielen Bildungsorte befindet sich das Protein in Speichel, Schweiß, Nasensekret, Tränenflüssigkeit, Fruchtwasser, Zervixschleim, in der Cerebrospinalflüssigkeit sowie im Ohrenschmalz. Die Veränderung der Lysozym-Menge im Blutserum und im Urin wird als diagnostischer Marker für manche Krankheiten genutzt (Yan 2011). Im Serum von Neugeborenen ist doppelt so viel Lysozym enthalten wie in dem von Erwachsenen. Das Lysozym aus der Muttermilch können Säuglinge im Darm nicht absorbieren, dennoch ist im Urin von gestillten Säuglingen mehr vorhanden als in den mit Flasche gefütterten. Möglicherweise können Komponenten in der Muttermilch die eigene Produktion anregen und für lokale Immunität in den ableitenden Harnwegen sorgen (> https://kellymom.com/pregnancy/bf-prep/how_ breastmilk_protects_newborns/). Lysozym wird auch Formula hinzugefügt. In China ist es in Studien bereits gelungen, menschliches Lysozym über genetisch veränderte Rinder zu produzieren, um es in der Formula anzureichern (Lu 2016).
Alpha-Lactalbumin: Aktivator und Katalysator
Das nährende Alpha-Lactalbumin wird ebenfalls direkt in der Milchdrüse produziert. Es ist ein Molkenprotein mit wichtiger Funktion: Zusammen mit Beta-1,4-Galactosyltransferase (beta4Gal-T1) bildet es als Aktivator einen Enzymkomplex, genannt Lactose-Synthetase. Dieser katalysiert die Biosynthese von Milchzucker (Lactose). Dabei wird Glucose und Galactose in Lactose umgewandelt, die in Kombination eine stärkere Kalorienquelle für den Nachwuchs sind als einzeln. Daher wird Alpha-Lactalbumin auch als Zuckerprotein (Glykoprotein) bezeichnet. Es wird hochgeregelt von Prolaktin und steigert dann entsprechend die Produktion von Lactose. Die Biologin Dr. Claudia Vorbach erklärt: »Lactose und seine Derivative sind osmotisch aktiv und ziehen Wasser in die Milch, um das Volumen zu vergrößern. Mäuse mit einer gezielten Unterbrechung von Alpha-Lactalbumin produzieren sehr visköse Milch, die durch Saugen nicht heraustransportiert werden kann.« (Vorbach 2006).
Alpha-Lactalbumin ist zu 0,14 bis 0,6 % in der Frauenmilch enthalten und besteht aus 123 Aminosäuren. Mit rund 20 bis 30 % gehört es zu den Haupteiweißen der Muttermilch. Es ist wasserlöslich und bindet Zink sowie Calcium. Außerdem schützt es gegen einige Mikroben wie Escherichia Coli und Staphylococcus aureus (siehe auch DHZ 2/2020, Seite 42ff.). Und ist offensichtlich wichtig für die Synthese des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn und des Hormons Melatonin, die beide helfen, den Schlaf zu regulieren (Layman 2018).
Was war und ist die Brust?
Prof. Dr. Olav T. Oftedal hatte als erster die Hypothese entwickelt, dass es die Brustdrüsen bereits bei den Eier legenden Tieren gegeben haben müsse, bevor es das erste Säugetier gab. 30 Jahre lang erforschte Oftedal die Evolution der Muttermilch und wurde Laktationsexperte. Derzeit ist er tätig am Smithsonian Environmental Research Center in Edgewater, Maryland, USA. Basierend auf Arbeiten von ihm und der Wissenschaftlerin Dr. Claudia Vorbach, ist nun anerkannt, dass die ursprüngliche Brustdrüse zunächst protektiv in ihrer Funktion war und sich erst allmählich zu einer nährenden Funktion entwickelte.
Angeregt zu seiner These wurde Oftedal durch den schwedischen Biologen Carl von Linné (1707–1778), der einst alle Lebewesen in Gruppen eingeteilt und den Milch spendenden Tieren den Namen Mammalia gegeben hatte.
Der Evolutionstheoretiker Charles Darwin (1809–1882) hatte zunächst noch die Hypothese, dass sich die Brustdrüsen aus Hautdrüsen in Brutbeuteln entwickelten, in die einige Fische ihre Eier legen. Diese uralte Theorie stellte sich als falsch heraus. Auch die These von Vorbach vor einigen Jahren, dass das Ausscheiden des Sekrets samt Lysozym auf eine Reaktion auf verletztes oder infiziertes Gewebe zurückgehe, ließ sich nicht beweisen (McClellan 2008). Bis heute hält sich die Überlegung Oftedals, wonach es hypertrophierte Hautdrüsen an Haarfollikeln waren, die mit der Sekretion begannen (McClellan 2008). Laut seiner Forschung haben sich wahrscheinlich schließlich die Mamillen entwickelt, um Infektionen zu vermeiden. »Sie erlaubten, dass die Milch direkt vor der Brustdrüse in den Mund der Jungen gelangte, ohne der Umgebung ausgesetzt zu sein«, so Oftedal. So wurde es für Bakterien schwieriger, die Milch zu besiedeln, als wenn sie direkt über die Haut abgegeben wurde, was wohl ein höheres Risiko für die Mutter und den Nachwuchs bedeutete. Die Lokalisation der Milchdrüsen entwickelte sich bei den Tieren im Laufe der Evolution unterschiedlich, beim Menschen und beim Elefanten ist sie thorakal, bei anderen ventral angelegt.
Erste elterliche Fürsorge soll es laut Paläontologen bereits vor 245 Millionen Jahren gegeben haben. Oftedal ist jedenfalls überzeugt, dass mit dem ersten Säugen über ein Milchfeld erste Mutterliebe entstand und die enge Bindung zwischen Mutter und Kind. Weil Stillen so eine intime und emotionale Erfahrung ist, vergesse man leicht, dass es nicht nur ein menschlicher Prozess ist, so Oftedal. Die Ur-Milch mit all ihren Bestandteilen entwickelte sich jedenfalls lange bevor sich Zitzen entwickelten.
Die zwei letzten Ur-Säugetiere
Bis heute leben zwei Säugetierarten aus der Vorzeit, die als Kloakentiere (Monotremata) und als letzte Vertreter der Unterklasse der Ur-Säuger (Protheria) weiterhin Eier legen und ihre Jungen mit Ur-Milch ernähren: das Schnabeltier und der Schnabeligel (Ameisenigel), der zudem noch eine Bauchtasche bildet, worin das Ei für zehn Tage gelegt wird. Daraus schlüpft ein 1,5 cm langes Baby. Wenn es den Kopf gegen die Haut an der Unterseite der Mutter drückt, quillt die Milch aus rund 150 Poren in Form von winzigen Milchdrüsen. 200 Tage werden die Jungen gesäugt, indem sie die Milch abschlecken – wie auch die Jungen vom Schnabeltier. Der Transportstoff Vitellogenin, der einst Stoffe aus dem lysozymhaltigen Schweiß zum Eigelb befördert hatte, war bereits bei ihnen inaktiviert.
Weil die Milch auf dem Milchfeld intensiv mit der Umwelt in Berührung kommt, enthält es allerdings – ganz entsprechend der Theorie von Oftedal – ein Protein, das besonders stark gegen Bakterien wirkt und dessen extrem viele Spiraleinheiten an einen Kopf voller Ringellocken erinnern: das Monotreme Lactation Protein (MLP). Dieses wird von der australischen Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO) nun weiter beforscht, um daraus möglicherweise Wirkstoffe für Medikamente zu entwickeln.
Links
www.ardmediathek.de/alpha/video/ard-alpha-doku/die-entstehung-der-mutterliebe/ard-alpha/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvL2JlZGJlNWRkLWM2Y2UtNDg3NS04ZjMxLTk1MDA1MjdiZjFiZA/
www.biologie-seite.de/Biologie/Lysozym
www.bbc.com/earth/story/20150725-breastfeeding-has-ancient-origins
https://kellymom.com/pregnancy/bf-prep/how_breastmilk_protects_newborns/
www.wissenschaft.de/gesundheit-medizin/schnabeltiermilch-quelle-neuer-antibiotika/
www.zm.uzh.ch/de/sonderausstellungen/2020milch.html
www.naturwissenschaften.ch/organisations/scnat/awards/prix_expo/recipients
https://journals.iucr.org/f/issues/2018/01/00/cb5104/cb5104.pdf
https://soundcloud.com/nestlenutritioninstitute/evolution-of-lactation
https://jbiol.biomedcentral.com/articles/10.1186/jbiol139
(Die Entstehung der Mutterliebe 20.6.2020 ARD-alpha-Doku-ARD-alpha)
www.jstor.org/preview-page/10.2307/2166840?seq=1
Literatur
Blackburn DG: Lactation: historical patterns and potential for Manipulation. J Dairy Sci. 1993. Oct;76(10):3195–212. doi: 10.3168/jds.S0022–0302(93)77658–4. PMID: 8227641
Capucho AV, Akers RM: The Origin and Evolution of Lactation. Journal of Biology 2009. 8, 37
Family Larsson-Rosenquist Foundation: Breastfeeding and Breastmilk – From Biochemistry to Impact. Stuttgart 2018
Heine WE, Klein PD, Reeds PJ: The Importance of Alpha-Lactalbumin in Infant Nutrition. J Nutr 1991. 121:277–283
Koyama S et al.: The Nipple: A simple Intersection of Mammary Gland and Integument, but focal point of organ Function. J Mammary Gland Biol Neoplasia 2013. Jun;18(2):121–31. doi: 10.1007/s10911–013–9289–1
Layman DK: Applications for Alpha-Lactalbumin in human Nutrition. Nutrition Reviews 2018, 76, 6: 444–460. https://doi.org/10.1093/nutrit/nuy004
Lönnerdal B: Nutritional and physiologic Significance of human Milk Proteins. In: The American journal of clinical nutrition...
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