Kommentar

Keine Diagnose durch das Ausschlussprinzip

Hyperemesis gravidarum ist eine Krankheit, die Betroffene an ihre äußerste Grenze bringen kann. Da wenig über die Ursachen bekannt ist, wird sie letztlich oft über Ausschlussdiagnosen als psychosomatisch klassifiziert. Eine Kritik am Umgang mit der Krankheit – und Erfahrungswerte, die Lösungen in Aussicht stellen. Prof. Dr. med Anke Rohde
  • Prof. Dr. Anke Rohde: »Wir haben eine Vielzahl von Schwangeren mit Hyperemesis betreut und bei manchen auch eine psychosomatische Ursache ausgemacht, bei der Mehrzahl jedoch nicht.«

  • Die Autorin ihres Erfahrungsberichtes »Gedanken nach einer Hyperemesis gravidarum: Schlecht beraten« (siehe Seite 20ff.) schildert ihre dramatischen Hyperemesis-Erfahrungen nach Eintreten ihrer dritten Schwangerschaft, die unzureichenden Behandlungserfolge und schließlich das Ende mit einem Schwangerschaftsabbruch. Leider sind mir solche Fälle – auch solche extremen Fälle – nicht unbekannt.

    Im geschilderten Fall könnte man sich vielleicht denken, es war eine ungeplante Schwangerschaft, eigentlich war die Familienplanung abgeschlossen, und dann zu der Frage kommen, ob das Problem nicht psychosomatisch verursacht war. Damit macht man es sich allerdings zu leicht – dies ist ein in der somatischen Medizin immer wiederkehrender Mechanismus: Findet man keine körperliche Ursache für eine Störung oder ist die Therapie nicht ausreichend wirksam, dann wird die Ursache psychologischen Faktoren zugeschrieben, ohne diese differenziert zu betrachten. Dazu tragen im Fall der schweren Hyperemesis mit ausgeprägten körperlichen Folgen die oftmals begleitend auftretenden psychischen Folgen bei: depressive Symptome, ständiges Klagen, Verzweiflung sowie Schuldzuweisungen, dass nicht genug getan werde.

     

    Hyperemesis gravidarum

     

    Psychosomatische Ursache

    • Eine psychosomatische Ursache darf nur diagnostiziert werden, wenn sie »positiv« festgestellt wird (keine Ausschlussdiagnose). Mögliche Ursachen sind ausgeprägte Ambivalenzen hinsichtlich der Schwangerschaft, psychosoziale Konflikte, sekundärer Krankheitsgewinn etc.

    Einsatz des Antidepressivums Mirtazapin

    • Mirtazapin hat eine gute antiemetische Wirkung (deshalb wird es auch in der Onkologie/Chemotherapie eingesetzt).
    • Antiemese über den 5-HT3-Rezeptor, so wie Odansetron
    • gute Wirkung auf begleitende depressive Symptome, Ängste, Unruhe und Schlafstörungen
    • Bei Hyperemesis ist der Einsatz als Schmelztablette sinnvoll (unter die Zunge, in die Backentasche; kein Schlucken erforderlich).
    • gute Wirkung schon bei sehr niedrigen Dosierungen. Nach Abklingen der Akutsymptomatik auch als Bedarfsmedikation einsetzbar
    • Off-label-Behandlung in der Schwangerschaft, aber kein Hinweis auf Fehlbildungen oder andere Probleme, die gegen den Einsatz in der Schwangerschaft sprechen (siehe auch > www.embryotox.de).

    Schwangerschaftsabbruch

    • Führt eine Hyperemesis zur Frage nach einem Schwangerschaftsabbruch, kommt eine medizinische Indikation infrage (ohne Zwölf-Wochen-Frist). Es besteht also kein Zeitdruck, was auch die Bereitschaft für Behandlungsversuche von Seiten der Betroffenen erhöht.
    • Eine qualifizierte psychosoziale Beratung ist unabdingbar: In der Beratungssituation ist der Akutzustand der betroffenen Frau zu berücksichtigen (depressive Symptomatik, Reaktualisierung von Traumasymptomen, Derealisation und Depersonalisation durch Dehydrierung etc.) und auch die Frage, ob sie in dem Zustand entscheidungsfähig ist.

     

    Den Kontext sehen

     

    Meine langjährige praktische Erfahrung als Psychiaterin und in der Frauenheilkunde psychosomatisch Tätige hat mich gelehrt, dass man solche Verhaltensweisen immer im Kontext der bestehenden Problematik beurteilen muss. Nicht nur einmal habe ich Patientinnen erlebt, die in der akuten Symptomatik »enorm anstrengend« waren und die sich dann nach Abklingen der körperlichen Symptome als unkompliziert und völlig ohne auffällige Persönlichkeitseigenschaften präsentierten. Gleiches gilt übrigens auch für psychische Symptome, die zu Beginn einer Schwangerschaft plötzlich das Erleben prägen können, so etwa Angst- und Zwangssymptome. Und selbst wenn in der Vorgeschichte eine psychische Problematik bestand, wie etwa eine Depression oder eine Essstörung, selbst wenn Persönlichkeitsauffälligkeiten bestehen, wie etwa eine Borderline-Persönlichkeit, oder wenn es frühere Traumatisierungen gibt: All diese vorbestehenden Probleme sind bis zum Beweis des Gegenteils nicht die Ursache der Hyperemesis, aber sie prägen das Erleben und Verhalten der betroffenen Frau. Besonders wichtig beim Umgang mit Erkrankten ist es in solchen Fällen, innerlich einen Schritt zurückzutreten und sich klar zu machen, dass auch diese Patientin Opfer ihrer Symptome ist und dass sie sich ihre psychische Vorgeschichte nicht ausgesucht hat. Gerade diese Frauen brauchen eine empathische Betreuung!

     

    Von Suizidgedanken zu Wohlbefinden

     

    Eine Patientin ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Eine Frau in der 15. Woche einer Zwillingsschwangerschaft, und zwar nach Kinderwunschbehandlung – also eindeutig eine gewollte Schwangerschaft. Wegen einer seit zehn Wochen bestehenden ausgeprägten Hyperemesis mit Übelkeit, Erbrechen und Magenkrämpfen, durch die die Patientin zwischenzeitlich 13 kg Gewicht verloren hatte, rutschte sie in einen Zustand völliger Verzweiflung bis hin zu Gedanken an einen Schwangerschaftsabbruch. Schließlich drohte sie mit Suizid für den Fall, dass die Schwangerschaft nicht abgebrochen würde, denn sie könne den Zustand nicht mehr aushalten. Auch ein kurzer Aufenthalt in der Psychiatrie änderte daran nichts. Von dort wurde die Schwangere in die Frauenklinik verlegt, und so wurde ich als Leiterin der Gynäkologischen Psychosomatik hinzugezogen. Kurz vorher war mir zufällig ein Bericht über die positive Wirkung des damals relativ neuen Antidepressivums Mirtazapin in einem Fall von Hyperemesis gravidarum begegnet. Dabei wurde der antiemetische Effekt von Mirtazapin ausgenutzt. Da die verschiedenen üblichen Therapiestrategien im Vorfeld bereits ausgeschöpft waren, setzten wir mit dem Einverständnis der Patientin Mirtazapin ein, das es damals noch als Infusion gab. Es war wie eine Wunderheilung! Am nächsten Tag konnte die Patientin bereits frühstücken, Mirtazapin konnte in den nächsten Tagen auf eine orale Gabe umgestellt und die Patientin nach zwei Wochen entlassen werden. Bis zur geplanten Sectio in der 36. SSW gab es immer wieder leichte Zustände von Übelkeit, die aber von der Patientin mit Unterstützung von Mirtazapin in niedriger Dosierung gut zu bewältigen waren. Der postpartale Verlauf von Mutter und Kindern war unauffällig, es trat auch keine postpartale Depression auf.

     

    Es gibt Lösungen!

     

    Seitdem haben wir eine Vielzahl von Schwangeren mit Hyperemesis betreut, bei manchen auch eine psychosomatische Ursache für die Beschwerden ausgemacht, bei der Mehrzahl jedoch nicht. Mirtazapin haben wir häufig mit Erfolg eingesetzt und dabei zusätzlich die gute Wirkung auf die psychische Situation genutzt; übrigens auch bei Fällen, in denen wir eine psychosomatische (Mit-)Verursachung angenommen haben. Und das macht den Unterschied zu den verschiedenen üblichen Behandlungsmethoden: Wenn sofort mit der Gabe des Medikamentes Ängste reduziert werden, der Schlaf sich bessert und die depressiven Begleiterscheinungen weniger quälend sind, ist das oftmals bereits »die halbe Miete«. Es macht auch psychosomatische Gespräche leichter, in denen es dann um die Bewältigung der Problematik über die Medikation hinaus gehen kann.

    Rubrik: Ausgabe 05/2022

    Erscheinungsdatum: 22.04.2022