Familienhebammen

Nachhaltig wirksam

Das Modellprojekt »Pro Kind« hat in drei Bundesländern untersucht, welche kurz- und langfristigen Auswirkungen regelmäßige, strukturierte Hausbesuche von Familienhebammen haben können. Diese fachliche Begleitung nützt nicht nur den Einzelnen, sondern der gesamten Gesellschaft. Dr. Sören Kliem | Julia Rothamel | Dr. Malte Sandner | Carolin Siegert
  • Familienhebammen begleiten benachteiligte Familien auch nach dem Wochenbett. Sie beantworten Fragen der Eltern zur Gesundheit von Kind und Mutter, zur Entwicklung und zum richtigen Umgang mit dem Neugeborenen. Außerdem besprechen sie Fragen zur Lebensplanung der Mütter und Väter nach der Geburt des Kindes. Damit berühren sie viele Bereiche im Leben junger Familien und können nachhaltige Veränderungen bewirken.

    Trotz dieser vielen guten Ansätze ist in Deutschland wie auch international wenig darüber bekannt, welche Wirkungen die Begleitung der Familienhebammen hat. Anhand des Modellprojektes »Pro Kind« wurde in einer großen Studie in den drei Bundesländern Niedersachsen, Bremen und Sachsen die Wirksamkeit einer Familienhebammenbetreuung für benachteiligte Familien ermittelt. Besonders an dieser Studie ist, dass neben der Gesundheit der Kinder und Teilnehmerinnen auch die Wirkung der Intervention auf die weitere Entwicklung der Kinder sowie den Lebensweg und die Zufriedenheit der Mütter fünf Jahre nach der Betreuung durch die Familienhebammen untersucht wurden.

     

    Vorgestellt: Modellprojekt »Pro Kind«

     

    Das »Modellprojekt Pro Kind« wurde durch die Stiftung Pro Kind getragen (> www.stiftung-pro-kind.de). Für die Umsetzung der Begleitungen kooperierte die Stiftung mit verschiedenen Partnern wie dem Felsenweginstitut in Sachsen, dem DRK Bremen oder Kommunen in Niedersachsen. Details zur Ausgestaltung, Organisation und Finanzierung des Hausbesuchsprogramms Pro Kind finden sich in Brand & Jungmann (2013).

    Die Begleitforschung wurde in der ersten Phase vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KfN) in Kooperation mit der Leibniz Universität Hannover (LUH), der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und der Universität Leipzig durchgeführt, in der zweiten Projektphase von dem KfN in Kooperation mit der LUH und dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB).

     

     

    Strukturiertes Vorgehen

     

    In Deutschland wird das Modellprojekt »Pro Kind« seit 2006 wissenschaftlich begleitet. Es ist eine Adaption des Nurse Family Partnership Programms (NFP), das in den USA sehr etabliert ist und dessen Wirksamkeit mehrfach überprüft wurde. In Übereinstimmung mit dem NFP-Programm fanden die Hausbesuche regelmäßig von der Schwangerschaft bis zum zweiten Geburtstag des Kindes statt. Die Hausbesuche wurden von Familienhebammen alleine oder im Team mit einer Sozialpädagogin durchgeführt.

    Das Programm »Pro Kind« hat bestimmte Eigenschaften, die es gegenüber anderen Hausbesuchsprogrammen besonders macht: Zum einen wurden nur benachteiligte Frauen aufgenommen, die zum ersten Mal schwanger waren. Zudem gab es eine vorgegebene Anzahl und Dauer der Hausbesuche, spezifisches Training für die Familienbegleiterinnen, ein strukturiertes Vorgehen bei den Besuchen und Unterstützung der Familienbegleiterinnen durch Supervision (siehe Abbildung). Während der Arbeit mit den Teilnehmerinnen standen sechs inhaltliche Domänen im Fokus der Begleitung, die üblicherweise als größte Risikofaktoren für negative Schwangerschaftsverläufe, Kindesmisshandlung oder Kindesvernachlässigung, Entwicklungsstörungen und fehlende finanzielle Unabhängigkeit gelten. Verbesserungen in diesen sechs Bereichen werden als die wichtigsten Schutzfaktoren angesehen, um negativen Entwicklungen vorzubeugen:

     

    1. Individuelle Gesundheit der Mutter

    Dieses Arbeitsgebiet sollte während der Schwangerschaft im Fokus der Hausbesuche stehen. Neben den üblichen Hebammenleistungen, die sich auf die körperlichen Veränderungen während der Schwangerschaft und die Geburtsvorbereitung beziehen, wurden gesunde Ernährung, körperliche Aktivität, ausreichende Schlaf- und Ruhezeiten sowie angemessene Mund­hygiene besprochen. Auch Themen wie der Konsum von Tabak, Alkohol und anderen Substanzen wurden mit den werdenden Müttern bearbeitet.

     

    2. Gesundes Umfeld

    In Abhängigkeit vom Alter des Kindes wurden verschiedene Möglichkeiten zur Prävention von Unfällen, aber auch die Sicherung von Gegenständen im Haushalt mit Verletzungspotenzial sowie Schimmelbefall der Wohnung oder Passivrauchen besprochen.

     

    3. Persönliche Zukunftspläne

    Die zeitliche Planung der eigenen Zukunft sowie der Zukunft der Familie standen in dieser Domäne im Vordergrund. Inhalte wie weitere Familienplanung, Zukunftswünsche, persönliche Stärken und Schwächen wurden thematisiert. Letztlich wurden auch Alltagsgestaltung und -organisation sowie Umgang mit Zeit und Geld behandelt.

     

    4. Die Rolle als Mutter/Eltern

    Wichtige Themen waren die Pflege und Ernährung des Kindes nach der Geburt und die grundsätzlichen Bedürfnisse eines Neugeborenen. Außerdem sprachen die Familienbegleiterinnen die spätere Entwicklung und Bildung an, etwa Medienpräsenz und -nutzung, sowie positive Eltern-Kind-Interaktionen. Zudem wurden die Eltern bereits während der Schwangerschaft für die Bedürfnisse und die Entwicklung des Kindes sensibilisiert.

     

    5. Informelle soziale Unterstützung

    Soziale Unterstützung durch den Partner oder die Partnerin, die Großeltern oder Freund:innen waren hier die zentralen Themen. Gefördert wurden die Beziehungen innerhalb der Familie sowie Freundschaften und die Möglichkeit, auf diese zur Unterstützung im Alltag zurückgreifen zu können. Ebenso wurde das Lösen von Konflikten und angemessene, gewaltfreie Kommunikation zwischen den Partner:innen behandelt.

     

    6. Formale soziale Unterstützung

    In dieser Domäne wurde die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft und U-Untersuchungen des Kindes thematisiert, aber auch der Besuch von niedrigschwelligen Mutter-Kind-Angeboten wie (Spiel-)Gruppen. Falls erforderlich, wurden die Mütter bei behördlichen Terminen unterstützt oder begleitet. In Fällen von psychischer Erkrankung der Eltern, Entwicklungsproblemen des Kindes oder häuslicher Gewalt wurde der Kontakt zu entsprechenden sozialen, medizinischen oder rechtlichen Einrichtungen vermittelt.

     

    Das Forschungsdesign

     

    Die Untersuchung der Wirksamkeit des »Pro Kind«-Programms erfolgte in zwei Phasen. Die erste Phase dauerte von der Studienaufnahme der Schwangeren bis zum dritten Geburtstag des Kindes. In der zweiten Phase wurden Daten zwischen dem siebten und achten Lebensjahr des Kindes erhoben.

    In beiden Phasen wurden Daten aus verschiedenen Quellen erhoben: persönliche und telefonische Interviews, Entwicklungstests, Videoaufzeichnungen, administrative Daten von Sozialversicherungen und Krankenversicherungen. So wurden die strukturellen und vielschichtigen Veränderungen, die das »Pro Kind«-Programm bei den teilnehmenden Familien bewirken sollte, umfassend beleuchtet.

    »Pro Kind« fokussierte sich auf sozial benachteiligte Frauen, die zum ersten Mal Mutter wurden. Sie wurden innerhalb der 12. bis 28. Schwangerschaftswoche in die Studie aufgenommen. Kriterien für soziale Benachteiligung waren zum Beispiel Bezug von Hartz-IV oder Verschuldung. Der Grund für diese Aufnahmekriterien bestand darin, dass internationale Forschungsergebnisse zeigen, dass Begleitungen bei benachteiligten Familien und werdenden Müttern besonders wirksam sind, bei denen sich noch keine Verhaltensweisen verfestigt haben.

    Um mit Schwangeren im zweiten Trimester einen Erstkontakt aufzubauen, wurde in der ersten Projektphase mit Kooperations- und Vermittlungspartner:innen zusammengearbeitet, als Multiplikator:innen dienten zum Beispiel Gynäkolog:innen und Schwangerenberatungsstellen. Dabei war die Transparenz des Interventions- und Studiendesigns gewährleistet. Die Teilnahme am Projekt erfolgte freiwillig.

     

    Ergebnisse der ersten Phase

     

    Um den Erfolg des Programms bewerten zu können, wurde etwa die Hälfte der werdenden Mütter einer Kontrollgruppe zugelost, die keine Unterstützung in Form von Hausbesuchen erhielt. Beiden Gruppen stand aber der Zugang zu den regulären Unterstützungs- und Versorgungsangeboten des deutschen Sozialstaates offen und sie wurden entsprechend darüber informiert.

     

     

    Elemente und inhaltliche Domänen der »Pro Kind«-Hausbesuche

    Abbildung: © »Pro Kind

     

    Mehrere Fachaufsätze dokumentierten die kurz- und mittelfristigen Effekte des Programms (siehe Tabelle): In der ersten Projektphase zeigten die begleiteten Mütter eine erhöhte Lebenszufriedenheit und ein erhöhtes Wohlbefinden. Sie litten seltener unter psychischen Störungen. Außerdem zeigte sich, dass durch die Intervention die Rate von Mädchen mit kognitiven Entwicklungsverzögerungen gesenkt werden konnte. Bei Jungen zeigte sich keine signifikante Senkung der kognitiven Entwicklungsverzögerungen durch die Intervention. Zu den Mechanismen stellten die Autor:innen fest, dass vor allem den Mädchen in der »Pro Kind«-Gruppe mehr vorgesungen oder vorgelesen wurde als in der Gruppe ohne Begleitung. Passend zu diesen Ergebnissen hatte die Begleitung positive Auswirkungen auf die Selbsteinschätzung der Eltern in den Bereichen Selbstwirksamkeit, soziale Unterstützung, Wissen über Kindererziehung, mütterlicher Stress und Bindungsgefühle. Außerdem konnten Filmsequenzen eine verbesserte Mutter-Kind-Interaktion belegen.

    Die Begleitung hatte jedoch keine Effekte auf die körperliche Gesundheit der Mütter oder Kinder oder das Gesundheitsverhalten der Mütter. Eine Erklärung für das Ausbleiben von Effekten in diesen wichtigen Bereichen könnte darin liegen, dass die werdenden Mütter auch durch andere Quellen genug darüber informiert wurden, dass beispielsweise Rauchen während der Schwangerschaft schädlich für das ungeborene Kind ist. Diese Erklärung wird dadurch belegt, dass sowohl bei den begleiteten als auch den unbegleiteten Müttern das Rauchen während der Schwangerschaft ähnlich stark zurückging. Im Gegensatz dazu scheint es in den Bereichen, in denen es positive Veränderungen gab, einen Bedarf für Beratung zu geben, etwa zur Mutterrolle und zur Interaktion mit dem Kind.

    Die Sozialversicherungsdaten zeigen, dass in der begleiteten Gruppe der Anteil von Müttern mit weiteren Geburten höher war, was vor allem auf weniger Schwangerschaftsabbrüche zurückzuführen ist. Außerdem zeigten die Daten, dass die begleiteten Mütter nach der Geburt seltener einer Erwerbstätigkeit nachgingen als Mütter ohne Begleitung. Die häufigeren zweiten Geburten und die geringere Erwerbstätigkeit könnten darauf zurückzuführen sein, dass die Frauen zufriedener mit ihrer Mutterrolle waren und sich daher auf die Betreuung konzentrieren wollten und eher bereit waren, sich in einer schwierigen Situation gegen einen Schwangerschaftsabbruch und für eine Geburt zu entscheiden.

     

    Die zweite Phase

     

    Eine wichtige Frage lautet, ob die Wirkungen der Begleitung aus der ersten Phase sich auch mittelfristig zeigen, denn es ist möglich, dass kurzfristige Effekte nicht zu nachhaltigen Veränderungen führen. Die Ergebnisse der zweiten Erhebungsphase zeigen jedoch, dass auch fünf Jahre nach Ende der »Pro Kind«-Begleitung die psychische Gesundheit sowie die Lebenszufriedenheit der begleiteten Mütter höher ist als bei den anderen. Außerdem scheint sich das Erziehungsverhalten der begleiteten Mütter auch mittelfristig verändert zu haben. Begleitete Eltern zeigten seltener körperliche und psychische Aggression gegenüber ihren Kindern. Auch bei den Kindern hatte die Begleitung mittelfristige Effekte, da Kinder aus begleiteten Familien seltener emotionale Probleme oder Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen.

    Ebenso bleibt der Effekt der Begleitung auf die Erwerbstätigkeit und auf weitere Geburten mittelfristig bestehen. Dies belegt, dass sich die Einstellungen der Mütter in so wichtigen Lebensbereichen wie Familie und Erwerbstätigkeit nachhaltig verändert haben, und verdeutlicht, dass die Begleitung im Leben der Frauen eine große Bedeutung hatte.

     

    Schlussfolgerungen

     

    Die eindrucksvollen Ergebnisse des »Pro Kind«-Projektes zeigen, dass Familien­hebammen das Leben von benachteiligten Familien nachhaltig beeinflussen können. Die Ergebnisse der »Pro Kind«-Begleitung sprechen dafür, dass sich aus Hausbesuchen von Familienhebammen anhaltend positive Wirkungen nicht nur für die einzelnen Kinder ergeben, sondern auch für die gesamte Gesellschaft. Denn insbesondere elterliche Gewalt, Vernachlässigungserfahrungen sowie Verhaltensauffälligkeiten stellen ein großes Risiko für schlechte Noten, Verlassen der Schule ohne Abschluss, Drogenkonsum und kriminelles Verhalten dar.

    Die positiven Effekte bei Kindern im Alter von acht Jahren lassen darauf hoffen, dass in späteren Lebensphasen das Risiko für negative Entwicklungen abnimmt. Neben der Verhinderung von subjektivem Leid kann dies auch zu hohen Einsparungen im Sozial- und Gesundheitssystem beitragen, da ein fehlender Schulabschluss der wichtigste Indikator für Langzeitarbeitslosigkeit ist und Drogen verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Es spricht deshalb viel dafür, Familienhebammenangebote in Deutschland auszuweiten und allen Müttern, die dies wünschen, den Zugang zu einer Begleitung vor und nach Geburt zu ermöglichen.

    Rubrik: Ausgabe 08/2022

    Erscheinungsdatum: 22.07.2022

    Literatur

    Brand, T., & Jungmann, T. (2013). Herausgeber. Kinder schützen, Familien stärken. Beltz Juventa.

    Conti, G., Poupakis, S., Sandner, M., & Kliem, S. (2021). The effects of home visiting on mother-child interactions: Evidence from a randomized trial using dynamic micro-level data. Child Abuse & Neglect, 115, 105–121.

    Kliem, S., & Sandner, M. (2021). Prenatal and infancy home visiting in Germany: Results of a randomized controlled trial on child and maternal outcomes at age 7. Pediatrics, 148(2), Artikel e2020049610.

    Sandner, M. (2019). The effects of early childhood intervention on fertility and maternal employment: Evidence from a randomized experiment. Journal of Health Economics, 63, 159–181.

    Sandner, M., Corneliessen, Th., Jungmann, T., & Herrmann, P. (2018). Evaluating the effects of a targeted home visiting program on maternal and child health outcomes. Journal of Health Economics, 58, 269–283.

    Sandner, M., & Jungmann, T. (2017). Gender-specific...

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