Totstellreflex

Vergewaltigungsopfer in der Schockstarre

Während einer Vergewaltigung erleben die meisten Opfer eine Schockstarre, die Abwehrreaktionen unmöglich macht. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des schwedischen Karolinska-Instituts und des South General Hospitals in Stockholm, veröffentlich in Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica.

Die Schockstarre (tonische Bewegungslosigkeit) ist als "Totstellreflex" bei Tieren bekannt. Dieser gilt als evolutionäre Abwehrreaktion auf einen Angriff, wenn Widerstand nicht möglich ist. Definiert wird die tonische Bewegungslosigkeit als Zustand, in dem eine Person nicht ansprechbar ist, sich nicht bewegen und nicht sprechen kann.

Das Forscherinnenteam um Anna Möller von der medizinischen Universität am Karolinska-Institut in Stockholm hat untersucht, wie viele Vergewaltigungsopfer Schockstarren erleiden. Es hat dafür fast 300 Frauen befragt, die innerhalb eines Monats nach einem sexuellen Angriff die Notfall-Klinik für Vergewaltigungsopfer in Stockholm aufgesucht hatten. Sechs Monate später wurden dieselben Frauen wieder befragt, um herauszufinden, wie sich ihr Gesundheitszustand entwickelt hat. An dieser zweiten Befragung nahmen noch knapp 190 Frauen teil.

Das Ergebnis: Unmittelbar nach der Attacke gab fast jede Zweite eine "extreme" tonische Bewegungslosigkeit an. Zusätzlich berichteten mindestens zwanzig Prozent von einer "deutlichen" tonischen Bewegungslosigkeit während des Angriffs. Das Risiko, eine Schockstarre zu erleiden, war bei Opfern höher, die körperlich besonders gewalttätig angegriffen wurden oder bereits früher sexuell attackiert worden waren. Frauen, die vor dem Angriff Alkohol getrunken hatten, erlitten seltener eine tonische Bewegungslosigkeit.

Sechs Monate nach der Tat hatte jede Dritte der knapp 190 antwortenden Frauen eine posttraumatische Belastungsstörung und jede Fünfte eine schwere Depression. Das Risiko für beide Erkrankungen war bei denjenigen deutlich höher, die während des Angriffs eine tonische Bewegungslosigkeit erlitten hatten.

Die Studie zeige, dass bei Vergewaltigungsopfern tonische Bewegungslosigkeit häufiger vorkomme als man bisher vermutet habe, sagt Studienleiterin Anna Möller. Diese Erkenntnis sei sowohl für die gesundheitliche Betreuung als auch für die Rechtssituation der Opfer wichtig. Aktiver Widerstand werde oft als "normale" Reaktion bei einer Vergewaltigung erwartet. Dieser sei aber unmöglich, wenn das Opfer während der Tat in eine tonische Bewegungslosigkeit falle.

In Deutschland hat das Parlament letztes Jahr das Sexualstrafrecht verschärft. Neu muss das Opfer sich nicht mehr körperlich wehren. Entscheidend für eine Vergewaltigung ist, dass der Täter sich über den „erkennbaren Willen“ des Opfers hinwegsetzt.

(Möller A et al.: Tonic immobility during sexual assault – a common reaction predicting posttraumatic stress disorder and severe depression. Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica; Online: June 7, 2017. DOI: 10.1111/aogs.13174. http://doi.wiley.com/10.1111/aogs.13174/fs / 13. Jun 2017/DHZ)

Rubrik: Medizin & Wissenschaft

Erscheinungsdatum: 13.06.2017