Geburtshilfliche Versorgung von Frauen mit Fluchterfahrung

Vielseitig, intuitiv, spontan

Ein Forschungsprojekt hat die geburtshilfliche Versorgungssituation und -praxis gegenüber Frauen mit Fluchterfahrung in Deutschland differenziert in den Blick genommen. Welche Herausforderungen und Lösungsansätze stellen sich für Hebammen und Frauenärzt:innen in der Betreuung? Anne Kasper
  • » Formell haben Frauen mit Fluchterfahrung den gleichen Zugang und Leistungsanspruch zur geburtshilflichen Betreuung in Deutschland wie einheimische Frauen. «

  • Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) waren im Jahr 2020 weltweit über 82 Millionen Menschen innerhalb des eigenen Landes oder über Staatsgrenzen hinweg auf der Flucht (UNHCR 2021). Verfolgung und Diskriminierung, aber auch wirtschaftliche Umstände und die daraus resultierenden persönlichen Lebensbedingungen zwingen Menschen dazu, in einem anderen Land Schutz zu suchen. Häufige Fluchtursachen sind kriegerische Auseinandersetzungen, wie zum Beispiel der Bürgerkrieg in Syrien, der in 2015/16 viele Menschen nach Deutschland brachte (BAMF, 2016, 2017; UNHCR 2016, 2017).

    Etwa ein Drittel der in Deutschland schutzsuchenden Menschen mit Fluchterfahrung waren weiblich (BAMF 2016, 2017). Wie viele Frauen sich während der Phase des Mutterwerdens von der Schwangerschaft über die Geburt bis hin zum Wochenbett auf der Flucht befinden, ist nicht präzise untersucht beziehungsweise es existieren keine Daten oder Statistiken. Beobachtungen berichten jedoch von einem hohen Anteil an Frauen in der Phase des Mutterwerdens unter den Geflüchteten, darunter Frauen mit bereits weit fortgeschrittenen Schwangerschaften sowie stillende Mütter, die den schwierigen und gefährlichen Weg auf sich nehmen (United Nations Refugee Agency, United Nations Population Fund &Women’s Refugee Commission 2016).

    Eine Schwangerschaft und die Zeit mit dem Kind danach erfordern eine gezielte Versorgung und Betreuung – so auch bei Frauen mit Fluchterfahrung. Außerdem weisen Frauen mit Fluchterfahrung aufgrund der besonderen Erlebnisse meist signifikante körperliche sowie psychosoziale Belastungen auf (Bundespsychotherapeutenkammer, 2015; Schouler-Ocak & Kurmeyer, 2017). Sowird den Frauen auch in Deutschland ärztliche Betreuung sowie Hebammenhilfe vor und nach der Geburt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) gewährt.

    Formell haben Frauen mit Fluchterfahrung damit den gleichen Zugang und Leistungsanspruch zur geburtshilflichen Betreuung in Deutschland wie einheimische Frauen. Die geburtshilfliche Versorgung umfasst dabei die medizinische Betreuung und berücksichtigt die psychosozialen sowie emotionalen Bedürfnisse der Frauen. Die Akteur:innen der geburtshilflichen Versorgung sind hierzulande vorrangig Frauenärzt:innen und Hebammen (BMG 2017; G-BA 2016).

    Diverse Forschungsergebnisse und weitere Informationsquellen stellen übereinstimmend fest, dass die Datenlage rund um die Gesundheit und die Versorgung von Frauen mit Fluchterfahrung in der Phase des Mutterwerdens in Deutschland ungenügend ist (Biddle & Bozorgmehr 2019; Bozorgmehr et al., 2016 a,b; pro familia Bundesverband, 2018). Die Untersuchungen messen Hebammen und Frauenärzt:innen relevante Bedeutung zum Abbau von psychischen Belastungen der Frauen mit Fluchterfahrung bei (Gewalt et al., 2018, 2019). Dabei verlangt es einen differenzierten Blick auf diese Frauen, da es sich um eine sehr heterogene Gruppe handelt – bezüglich der Herkunft, der Aufenthaltsdauer, des Aufenthaltsstatus, der Sprachkenntnisse oder des sozioökonomischen Status (pro familia Bundesverband, 2019).

     

    Forschungsfragen und -ziele

     

    Frauen mit Fluchterfahrung in der Phase des Mutterwerdens sind aufgrund ihrer Situation und der fluchtgebundenen Rahmenbedingungen anfällig für Risiken und Komplikationen rund um die Schwangerschaft, die Geburt und das Wochenbett. Es ist unklar, wie Hebammen und Frauenärzt:innen in Deutschland auf diese Umstände reagieren: Wie betreuen sie Frauen mit Fluchterfahrung in der Phase des Mutterwerdens? Wie berücksichtigen sie die Mehrfachbelastung von Frauen mit Fluchterfahrung, wenn Schwangerschaft und Flucht zusammentreffen? Wie gestalten geburtshilfliche Hebammen und Frauenärzt:innen die Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung in Deutschland?

     

    Ergebnisse

     

    Insgesamt wurden 22 Hebammen und 9 Frauenärzt:innen zu ihren Erfahrungen und Erlebnissen in der Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung befragt. Im Rahmen der Versorgung der Frauen sind sie in klassischen Arbeitssettings – ambulant und stationär – tätig, der überwiegende Anteil davon im ambulanten Setting (n=22). Zudem haben einige auch eine Anstellung in Kommunen inne (n=4). Alle 31 Befragten betreuen Frauen in der Schwangerschaft. 19 Hebammen bieten darüber hinaus Wochenbettbetreuungen an. Geburtsbegleitungen erfolgen in dieser Studienpopulation durch elf geburtshilfliche Akteur:innen und diese ausschließlich im klinischen Setting. Zwischen November 2017 und April 2018 fanden die Interviews überwiegend persönlich in mündlichen Einzelinterviews statt.

     

    Herausfordernde Arbeitsbedingungen

     

    Die Arbeitssituation und herausfordernde Arbeitsbedingungen in der Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung beeinträchtigen eine adäquate Betreuung während der Phase des Mutterwerdens. Herausforderungen in der Betreuung der Frauen sind:

    • die hohe Anzahl der zu betreuenden Frauen (mit Fluchterfahrung)
    • der zusätzliche Arbeitsaufwand und entsprechende Anpassungen im Arbeitsmanagement
    • fehlende Strukturen der geburtshilflichen Versorgung
    • zusätzliche Formalitäten.


    Eine Auswahl an Stimmen der befragten Hebammen unterstreicht diese Kernaussagen:

    • »Also, das hat sich für mich schon gewandelt, also ich habe das Gefühl, ich bin schon Hebamme, aber auch viel so Sozialarbeiterin.« (Hebamme_23)
    • »Also, ich habe die ganze Zeit parallel immer versucht, auch die Strukturen zu ändern, damit es einfacher für mich und dann auch für meine Kolleginnen wird. Das ist immer noch so, hat immer noch nicht ganz gut geklappt, [...].« (Hebamme_03)
    • »Also Sozialamt, Landkreis, Stadt, wer ist zuständig? Welche andere Stadt ist vorher zuständig? Ja, da war sie noch da gemeldet.« (Hebamme_05)

     

    Kommunikation

     

    Die Kommunikation ist in der geburtshilflichen Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung von bedeutsamer Relevanz und stellt eine erhebliche Herausforderung für Hebammen und Frauenärzt:innen dar. Sie beeinflusst verschiedenste Ebenen der geburtshilflichen Betreuung: Auf der rationalen Ebene sind anamnestische Informationen der Frau zu erheben und entgegengerichtet Frauen über Prozedere und Maßnahmen zu informieren beziehungsweise aufzuklären. Die Anliegen der Frauen mit Fluchterfahrung sind so nicht immer bekannt.
    Hinzu kommt, dass häufig nur eine unvollständige Anamnese vorliegt. So versuchen die Interviewpartner:innen, den Frauen viele Fragen zu stellen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, um hierüber ihre Bedürfnisse und Bedarfe zu erfahren. Teilweise gehen sie auch direkt dazu über, allgemeine Routinen und Standarduntersuchungen vorzunehmen.

     

    Handlungsempfehlungen

     

    Es kristallisierten sich allgemeine Empfehlungen für die geburtshilfliche Versorgung von Frauen mit Fluchterfahrung für Hebammen und Frauenärzt:innen heraus:

    Es bedarf ausreichender Kapazitäten und Ressourcen in ihrem Arbeitsumfeld für die Betreuung. Hierzu zählen unter anderem angemessene Angebote und etablierte Strukturen. Zudem ist die Ressource Zeit essenziell.

    Hebammen stellen eine angemessene Kommunikation und Verständigung zwischen ihnen und der Frau mit Fluchterfahrung sicher, damit Verstehen und Verstanden-werden gewährleistet sind.

    Hebammen vernetzen sich in der Betreuung der Frauen mit intra- und interdisziplinären Akteur:innen, um eine adäquate Betreuung sicherzustellen und ihr Handeln und Arbeiten im Austausch mit Kolleg:innen zu reflektieren.

    Hebammen erkennen die Individualität der Frau mit Fluchterfahrung an und berücksichtigen diese in der Betreuung. Dabei kommt allen Frauen ungeachtet ihrer Herkunft, Religion, Ansichten sowie Vorlieben eine respektvolle, würdevolle und individuelle Betreuung zu.

    Hebammen reflektieren ihr Handeln und Arbeiten in der Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung. So treten sie der Frau aufgeschlossen und offen gegenüber. Dies bedeutet, dass sie Frauen unvoreingenommen, frei von Vorurteilen und Vorannahmen begegnen sowie auf das Antizipieren von Bedürfnissen beziehungsweise »Überstülpen« von Maßnahmen verzichten.

    Hebammen beziehen Frauen mit Fluchterfahrung durch Partizipation in die geburtshilfliche Betreuung mit ein.

    Hebammen stärken die Kontinuität in der Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung. Wenn eine persönliche Betreuungskontinuität nicht möglich ist, ist die adäquate Dokumentation und Weiterleitung von Informationen zu garantieren, um doppelte Untersuchungen einschließlich der Anamneseerhebung zu vermeiden und die weiterführende Betreuung durch Kolleg:innen zu erleichtern.

     

    Auf der emotionalen Ebene versuchen Hebammen und Frauenärzt:innen eine Beziehung zu Frauen mit Fluchterfahrung zu etablieren und zugleich Sicherheit sowie Geborgenheit zu vermitteln. In ihrem Handeln wirken sich Kommunikationsschwierigkeiten auf den Umfang und die Qualität der geburtshilflichen Betreuung aus. Kommunikationsprobleme bedingen auf diese Weise mittelbar sowie unmittelbar die geburtshilfliche Betreuung dieser Frauen.

    Einige Stimmen, die dies unterstreichen:

    • »Also es war immer, es war immer die Sprache, die uns daran gehindert hat, wirklich unseren, unseren Beruf auszuüben. So auszuüben, wie wir ihn gerne ausüben würden [...].« (Hebamme_11)
    • »Und eine vernünftige Anamnese kann man eigentlich nicht erheben [...].« (Gynäkologin_22)
    • »Aber eine Beziehungsgestaltung ist für mich auch geprägt davon, dass man eben miteinander sprechen kann und Wünsche und Bedürfnisse äußern kann. So dass ich als Hebamme darauf eingehen kann. Und das passiert dann selten. Weil es ist einfach dann nicht möglich, wenn wir nicht eine Sprache sprechen.« (Hebamme_17)

     

     

    Praktiken der geburtshilflichen Versorgung

     

    Hebammen sowie Frauenärzt:innen beschreiben, dass die Arbeit mit Frauen mit Fluchterfahrung zunächst sehr diffus ist und ihnen angepasste Standards und Routinen beziehungsweise Anhaltspunkte fehlen. So reagieren sie auf die vielseitigen Situationen und Bedingungen der Frauen mit Fluchterfahrung mehrheitlich spontan und intuitiv. Darüber hinaus verdeutlichen sie, dass sie in der Betreuung der Frauen sensibel sind für traumatische Erfahrungen und psychische Belastungen. Sie beschreiben ihr Handeln und ihren Umgang mit Frauen mit Fluchterfahrung als langsam, behutsam und vorsichtig. Hinzu kommt, dass sie bevorzugt allein und zudem störungsfrei mit der Frau arbeiten.

    Dies wird durch die nachfolgenden Zitate untermauert:

    • »Also man fühlt sich in seiner Rolle [als Hebamme] weniger sicher, [...] weil man eigentlich nicht weiß, wen hab ich da vor mir sozusagen.« (Hebamme_30)
    • »[...] [die Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung] war schon sehr vielseitig [lacht], würde ich jetzt positiv sagen. Der Anfang, sehr vielseitig und sehr, sehr intuitiv und spontan handelnd. (...)« (Hebamme_10)
    • »Ich finde, es braucht noch mehr Achtsamkeit. Und Langsamkeit und (...), also so geschehen lassen [...].« (Hebamme_26)

    Handlungen und Praktiken der geburtshilflichen Betreuung werden gegenüber Frauen mit Fluchterfahrung

     

    1. modifiziert
    2. aufrechterhalten
    3. reduziert.

     

    Modifikation von Praktiken

    Hebammen und Frauenärzt:innen modifizieren beispielsweise die Kommunikationswege. Um Kommunikationsschwierigkeiten zu begegnen, greifen sie auf Brückensprachen, Sprachmittler:innen oder nonverbale Kommunikation zurück. Weitere Modifikationen nehmen sie in ihren Arbeitsabläufen vor oder in der Indikationsstellung von Eingriffen der geburtshilflichen Versorgung. Interviewpartner:innen beschreiben, dass sie beispielsweise die Abfolge von Fragen oder Maßnahmen anpassen. Diese kann sich beispielsweise auch an der Anwesenheit der Sprachmittler:innen orientieren, so dass kommunikative Prozesse wie die Anamneseerhebung beispielsweise zu Beginn der Konsultation durchgeführt werden und im Anschluss daran Untersuchungen ohne Sprachmittler:innen durchgeführt werden.

    Das wird durch die nachfolgenden Zitate verdeutlicht:

    • »Aber [ich] hab dann natürlich das auf den Bauch gucken, Kind wiegen und so, das hab ich nicht alles mit ihm [Sprachmittler] gemacht, sondern hinterher, aber vorher die Sachen abgefragt. Das ist praktisch der Unterschied zu jetzt deutschen Frauen, [...] Also diese Sachen, die man einfach wissen muss, die erst mal so abgehakt und dann hinterher alles, wo man jetzt nicht viel sprechen muss.« (Hebamme _15)
    • »[...] mir selbst ist in meiner Arbeit aufgefallen, und das fand ich ganz erschreckend, dass ich bei geflüchteten Frauen auch mit den Hausbesuchen schneller bin, weil ich mich so auf das Nötigste halt konzentriere.« (Hebamme_07)

     

    Aufrechterhaltung von Praktiken

    In der Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung erhalten Hebammen und Frauenärzt:innen allgemeine Handlungen aufrecht und fokussieren dabei die medizinisch-körperliche Behandlung beziehungsweise orientieren sich an anerkannten Standards und Leitlinien (beispielsweise Mutterschaftsrichtlinien). Auf diese Weise erhalten sie die medizinisch notwendige Betreuung und Versorgung aufrecht: »Und medizinisch versorgen nach Standard. Also sie wird ein CTG kriegen, eine sonografische Untersuchung. Ich würde den Arzt informieren, Blutentnahme, also alles, was dann ansteht medizinisch.« (Hebamme_17)

     

    Reduzierung von Praktiken

    Daneben reduzieren Hebammen und Frauenärzt:innen in der Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung den Umfang der Betreuung (z.B. Anzahl der Wochenbettbesuche) oder kürzen Erläuterungen zu Maßnahmen beziehungsweise Untersuchungen. Außerdem verzichten sie teilweise auf die Partizipation oder Einwilligung der Frau in Entscheidungsprozessen. Die Interviewpartner:innen begründen dies mit eingeschränkten oder fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten oder mangelnden Ressourcen und Strukturen in ihrem Arbeitsumfeld: »Was natürlich völlig hinten rüber fällt, sag ich jetzt, ist mal irgendeine Aufklärung über Pränataldiagnostik, das muss man einfach so sagen. Das im Vorfeld zu besprechen, ob sie irgendeine Wahl haben möchten, wenn was zu entscheiden/dass die Frauen selbst mitentscheiden können, das fällt völlig hinten rüber, immer noch.« (Gynäkologin_22)

    Erklärungen und Rechtfertigungen der Hebammen und Frauenärzt:innen für ihr Handeln, sei es das Modifizieren, Aufrechterhalten oder Unterlassen von Praktiken, sind unterschiedlicher Art. So sind es manchmal Ängste und Unsicherheiten, die eine Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung von Beginn an ausschließen. Auch unzureichende Möglichkeiten, den Herausforderungen in der Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung zu begegnen, sehen einige von ihnen als Legitimation, diese Frauen nicht umfassend zu betreuen. Sie klagen indes über zu wenig Zeit und damit verbunden auch für eine angemessene Kommunikation mittels Sprachmittlung.

    Aus diesen Gründen argumentieren Befragte mit Pragmatismus und senken ihre Ansprüche an die geburtshilfliche Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung: Weniger sei besser als nichts. Allgemein liegt es sehr am individuellen Engagement jeder:s Einzelnen, sich für Frauen mit Fluchterfahrung einzusetzen. Denn grundsätzlich möchten Hebammen und Frauenärzt:innen gerne auf die Bedürfnisse und die Bedarfe der Frauen mit Fluchterfahrung eingehen und Kompromisse in ihrem Sinne finden.

     

    Rubrik: Ausgabe 08/2022

    Erscheinungsdatum: 26.07.2022

    Nachgefragt

    Hebammenarbeit mit der Fluchtbewegung aus der Ukraine

    »Kein Bedarf an Extrasprechstunden«

    Die aktuellen Fluchtbewegungen aus der Ukraine zeigen, dass überwiegend Frauen und Kinder in Deutschland Schutz suchen. Leider existieren keine belastbaren Daten zu der heutigen Situation. Eine Frauenärztin und zwei Hebammen (Namen fiktiv) berichten Anfang Mai im Gespräch mit Anne Kasper von ihren Erfahrungen.

    Anne Kasper: Wie erleben Sie die aktuelle Fluchtbewegung der Ukrainerinnen in Ihrem beruflichen Alltag?

    Lisa Wrange (Hebamme): Obwohl es vermehrt Frauen und Kinder sind, die aus der Ukraine fliehen, gibt es hier in Deutschland nur wenige Frauen, die sich in der Zeit rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett befinden.

    Anne Kasper: Was ist in der geburtshilflichen Versorgung anders als damals 2015/16?

    Mareike Fuhse (Frauenärztin): Sowohl das Feedback aus der Community und aus Institutionen, wie auch in meinem Alltag als Gynäkologin zeigt, dass Ukrainerinnen gut versorgt sind und viel besser als damals im Gesundheitssystem ankommen. Sie sind besser integriert, weil sie teilweise familiäre Anbindung haben. So gibt es überhaupt keinen Bedarf an Extrasprechstunden, wie es noch 2015/16 war. Stattdessen werden diese gut über das Regelsystem abgedeckt.

    Lisa Wrange: Auch die Sprach­barriere ist weniger relevant, weil wir Kolleg:innen haben, die russisch sprechen oder die Frauen auch häufig gut englisch sprechen.

    Sarah Bodenstedt (Hebamme): Grundsätzlich kommen die Frauen gut in der Regelversorgung an, da es ausreichend russisch-sprachige Frauenärzt:innen gibt und manchmal sogar ukrainisch. Auch unter den Hebammen kann der Sprachbarriere besser begegnet werden.

    Besonders relevant bei ukrainischen Frauen erscheint mir, dass sie meist ohne ihre Partner:innen fliehen und damit alleine zur Geburt kommen. Sie suchen sich dennoch eine Geburtsbegleitung beispielsweise durch Doulas. Aber leider kann der Bedarf meist nicht gedeckt werden, da Geburten ja wenig planbar sind und Geburtsbegleiter:innen dann doch nicht immer zu jeder Tageszeit verfügbar sein wollen.

    Anne Kasper: Was ist Positives aus den Erfahrungen aus 2015/16 geblieben?

    Lisa Wrange: Ich sehe einen großen Vorteil der privaten Unterbringung der Frauen in der Integration. Es gibt kaum Bedarf an Extra-Hilfe, da Frauen über die Kontakte ihrer gastgebenden Familie gut ankommen und weitervermittelt werden. Die freiberuflichen Hebammen betreuen sie ganz normal. Diese Solidarität in der Bevölkerung ist ein klarer Vorteil.

    Mareike Fuhse: Die Ukrainerinnen bekommen schnell eine Gesundheitskarte, vielleicht auch, weil dies schon 2015 etabliert wurde.

     

    Anne Kasper: Was funktioniert (noch) nicht?

    Sarah Bodenstedt: Gerade bei kurzfristigen Anfragen der ukrainischen Frauen macht sich der allgemeine Hebammenmangel bemerkbar.

    Das deutsche Gesundheitssystem ist den ukrainischen Frauen unbekannt, so kennen sie keine Schwangerenvorsorge durch eine Hebamme oder gar eine aufsuchende Wochenbettbetreuung. Die Katholische Stiftungshochschule München hat die Vorlesungsreihe »Pregnancy and Birth in Munich« initiiert, um diesem Problem zu begegnen, und bietet Frauen aus der Ukraine, die ein Baby erwarten oder gerade geboren haben, Informationen und Gesprächsmöglichkeiten rund um das Thema Geburt an. > www.skf-muenchen.de/presse/ pressemitteilung/ksh-vorlesungsreihe-pregnancy-and-birth-in-munich.html

    Lisa Wrange: Eine neue Problematik zeigt sich in der vermehrt privaten Unterbringung der Frauen, sie sind seltener in Sammelunterkünften. Häufig sind sie (noch) nicht registriert, so dass Hebammen dann vor einem Abrechnungsproblem ihrer Leistungen stehen, weil die Gesundheitskarte oder der Behandlungsschein (noch) nicht da sind. Das bedeutet einfach mehr bürokratischen Aufwand, der sich meist finanziell nicht lohnt.

    Danke Ihnen!

    Hinweis: Die interviewten Personen sind der Autorin bekannt.

     

    Hinweis

    Diese Zusammenfassung basiert auf der Promotionsschrift »Die geburtshilfliche Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung – Eine qualitative Untersuchung zum professionellen Handeln geburtshilflicher Akteur:innen«.

    Literatur

    Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin Psychotherapie und Gesellschaft e. V. (2016). Von Vielem zu viel, von Wichtigem zu wenig – Versorgungsprobleme während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett und die Folgen für die Frauengesundheit in Deutschland. www.arbeitskreis-frauengesundheit.de/wp-content/uploads/2017/03/Positionspapier-Hebammen-032017.pdf.

    Asylbewerberleistungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2541; 2019 I 162) geändert worden ist.

    Biddle, L., Bozorgmehr, K. (2019). Gesundheitliche Versorgung von Schwangeren, Geflüchteten Frauen in Deutschland. Pro Familia Magazin, 1: 9–12.

    Bozorgmehr, K., Mohsenpour, A., Saure, D., Stock, C., Loerbroks, A., Joos, S., Schneider, C. (2016a). Systematische Übersicht und ‚Mapping‘ empirischer Studien des Gesundheitszustands und der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in...

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