Qualitative Studie aus der Türkei

Dimensionen der geburtshilflichen Gewalt

  • Reaktionen der Frauen auf Gewalterfahrungen bei der Geburt waren u.a. Stress, Angst, Traurigkeit und Hilflosigkeit.

  • Gewalt in der Geburtshilfe kann in verschiedenen Dimensionen auftreten: Durch unwürdige oder übergriffige Handlungen, verletzende verbale Äußerungen oder schädlichen Medikamentenmissbrauch – gekennzeichnet dadurch, dass gegen den Willen der Gebärenden gehandelt wird. Dies steht Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation gegenüber, welche sich für eine respektvolle Geburt unter Achtung der Würde einer gebärenden Frau ausspricht.

    Wie aber geht es Frauen, nachdem sie Gewalt in der Geburtshilfe erlebt haben? Welche Gedanken, Gefühle und Schmerzen erleben sie im Anschluss an erlebte Gewalt in der Geburtshilfe? Wie beurteilen sie die erlebte geburtshilfliche Gewalt? Hierzu wurde eine qualitative Studie in der Türkei durchgeführt.

     

    Tiefeninterviews mit 27 Frauen

     

    Durchgeführt wurde eine phänomenologische Studie unter 27 Frauen, welche in den vorausgehenden zwei Jahren Gewalt in der Geburtshilfe erfahren haben. Sie wurden im Rahmen von Tiefeninterviews und Videokonferenzen zwischen Februar und November 2021 befragt. Die Daten wurden thematisch evaluiert.  Unterschieden wurde zwischen verschiedenen Formen erlebter geburtshilflicher Gewalt, der Frage, ob medizinische Betreuungsstandards erfüllt oder übergangen wurden, Reaktionen anderer Personen sowie der Wahrnehmung der Frau selbst.

    Die Studienteilnehmerinnen waren sowohl erstgebärend (n=18) als auch mehrgebärend (n=9). Der Geburtsmodus war eine vaginale Geburt (n=18) oder eine Sectio caesarea (n=9).

    Die Ergebnisse zeigen auf, dass Frauen verschiedene Formen geburtshilflicher Gewalt erleben und auch verschiedene Erwartungshaltungen gegenüber ihren Betreuungspersonen verinnerlicht hatten. Den meisten Frauen war vor der Geburt nicht bewusst, dass sie mit geburtshilflicher Gewalt konfrontiert werden könnten.

    Die verschiedenen Formen erlebter geburtshilflicher Gewalt umfassten sowohl psychologische, physische und verbale Anteile. Psychologische Gewalterfahrungen wurden in Form respektloser Behandlung, einer unzureichenden Kommunikation sowie einer Verletzung der Privatsphäre erlebt. Die physische Gewalt umfasste Schläge, Festhalten der Extremitäten, die Durchführung einer Episiotomie oder dem Kristeller-Handgriff sowie der Naht von Geburtsverletzungen ohne ausreichende Analgesie. Verbale Gewalterfahrungen wurden durch Schreien oder Beleidigungen erlebt.

     

    Fehlende Kommunikation und Personalmangel

     

    Medizinische Betreuungsstandards wurden an verschiedenen Punkten nicht erfüllt: Routinemäßige Betreuungen wurden vernachlässigt, beispielsweise wurden Gebärende über längere Zeiträume ohne Getränke betreut und der Haut-zu-Haut Kontakt mit dem Neugeborenen nicht unterstützt. Zudem existierte ein Ressourcenmangel sowohl im Bereich der Ausbildung und Kommunikationsfähigkeit des medizinischen Fachpersonals als auch im Bereich der räumlichen Gegebenheiten: Gebärräume waren häufig sehr klein und der wenige Raum musste manchmal zusätzlich noch mit anderen Gebärenden geteilt werden. Dazu kam ein Personalmangel. Einige Frauen erlebten, dass medizinische Interventionen durchgeführt wurden, ohne zuvor Informationen erhalten und Zustimmung erteilt zu haben.

    Reaktionen der Gebärenden waren emotional geprägt und zeigten sich durch Stress, Angst, Traurigkeit und Hilflosigkeit. Sie äußerten sich auch dadurch, dass die Gebärende sich nicht mehr vorstellen kann, nochmals vaginal zu gebären oder ein weiteres Kind zu bekommen. Zum Ausdruck gebracht wurden diese Reaktionen durch Schreien, Schlagen des Armes auf das Bett oder sogar die Verweigerung, das Kind nach der Geburt anzuschauen oder das Neugeborene zu beschuldigen.

     

    Fehlendes Wissen zu eigenen Rechten

     

    Die Frauen brachten zum Ausdruck, dass sie sich über die Gegenwärtigkeit sowie das Ausmaß geburtshilflicher Gewalt nicht bewusst waren. Einige äußerten, ihre Rechte während der Geburt nicht gekannt zu haben.

    Die Autorinnen schlussfolgern, dass geburtshilfliche Gewalt in der Türkei ein ernst zu nehmendes Problem darstellt, welches negative Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Frauen hat. Sie empfehlen, den Themenkomplex geburtshilflicher Gewalt stärker unter Mitarbeiter:innen des Gesundheitswesens und den Frauen selbst zu thematisieren, weitere Studien zur Prävalenz geburtshilflicher Gewalt durchzuführen sowie Trainingsprogramme zu entwickeln um geburtshilfliche Gewalt zu vermeiden.

    Asadi, M., Noroozi, M. & Alavi, M. (2022). Identifying women's needs to adjust to postpartum changes: a qualitative study in Iran. BMC Pregnancy Childbirth, 22, 115. doi: https://doi.org/10.1016/j.midw.2023.103658 ∙ Beate Ramsayer/DHZ

    Rubrik: Geburt

    Erscheinungsdatum: 06.04.2023