Professionelle Hebammenbetreuung

»Watchful Attendance«: Wachsame Anwesenheit während der Geburt

  • »Sich Zeit nehmen« wird als zentraler Aspekt professioneller Hebammenbetreuung seit Jahren diskutiert und durch Empfehlungen der WHO gestützt.

  • Was macht professionelles Hebammenhandeln unter der Geburt aus? Die Hebammenprofessorinnen Ank de Jonge (Niederlande), Hannah Dahlen (Australien) und Soo Downe (Großbritannien) haben 2021 hierzu ein Statement abgegeben. Sie kritisieren, dass die Betreuung einer Gebärenden häufig durch Aktivitäten beschrieben wird, die durch die Betreuungspersonen während des Geburtsverlaufs ausgeführt werden. Typischerweise wird eine Dokumentation der Geburt durchgeführt, die unter anderem Interventionen wie die Einleitung einer Geburt, Schmerzmedikation und die Dokumentation kindlicher Herztöne umfasst. Hierbei fehlen aus ihrer Sicht jedoch zentrale Aspekte einer professionellen Betreuung durch Hebammen unter der Geburt.

    »Sich Zeit nehmen« wird aus Sicht der Autorinnen als zentraler Aspekt professioneller Hebammenbetreuung seit Jahren diskutiert und durch Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestützt. Diese umfassen, dass die Entscheidung für geburtshilfliche Interventionen aufgrund zeitlicher Faktoren nicht empfohlen wird (WHO 2018): Eine individuelle und frauenzentrierte Geburtshilfe erfordert die Akzeptanz, dass jede Geburt einem eigenen Rhythmus folgt und einer individuellen Zeitdauer unterliegt. Hierbei geben die Autorinnen zu bedenken, dass es notwendig ist, bei der Gebärenden zu sein (»being with the individual woman«) und nicht Interventionen bei der Gebärenden durchzuführen (»doing things to her«). Sie kritisieren, dass die Betreuung der Gebärenden bei vielen Hebammen durch zeitliche Komponenten beeinflusst wird, die darüber versuchen institutionellen Regeln und Normen zu genügen. Diesem »bürokratischen Imperativ« stellen die Autorinnen gegenüber, dass »being with women« die Komponenten Vertrauen und Empathie umfasst.

    Bei einem Vertrauensverhältnis, das im besten Fall bereits während der Schwangerschaft entsteht, können Hebammen eine emotionale Präsenz für Frauen bieten. Dies wiederum hilft auf entstehende Situationen und Bedürfnisse von Gebärenden zu reagieren, was zu Sicherheit und Wohlbefinden führt. Aus praktischer Sicht handelt es sich dabei jedoch auf den ersten Blick nicht um offensichtliches Hebammenhandeln, sondern um scheinbares Nichtstun: Hebammen sitzen ruhig bei der Gebärenden, sprechen beruhigende und ermutigende Worte, bereiten Getränke zu oder massieren die Frau. Sie führen regelmäßige klinische Kontrollen durch, integrieren diese jedoch in die Dynamik einer ganzheitlichen und umfassenden Betreuung. Eine Hebamme mit der Fähigkeit, ganz bei der Gebärenden zu sein, setzt während der Begleitung und Betreuung einer Geburt all ihre Sinne ein: Sie überwacht das Wohlbefinden der Gebärenden, den Geburtsverlauf und den Geburtsfortschritt und beurteilt die Qualität der Wehentätigkeit. Sie achtet auf das Wohlbefinden des Kindes, die Eröffnung des Muttermundes und das Verhalten der Gebärenden. Wie verändern sich die Pupillen der Gebärenden? Wie bewegt sich das Kind? Welchen Hautton nimmt die Gebärende an?

    Während dieser Tätigkeit vermittelt die Hebamme ein Gefühl des Vertrauens und der Sicherheit bei der Gebärenden. Die Gebärende empfindet ein Gefühl der Zuversicht, weil sie das Zutrauen der Hebamme in ihre Gebärfähigkeit wahrnimmt und spürt, dass die Hebamme ihr hilft, wenn es notwendig ist. Dies ist über die Betreuungsform einer Eins-zu-eins-Betreuung am besten zu erreichen, weil die Gebärende die Hebamme und die Hebamme die Gebärende darüber gut einschätzen kann. Jedoch sind diese Vorgänge meist nicht sichtbar oder messbar. Somit können sie stattfinden, hängen jedoch an der individuellen Motivation der betreuenden Hebamme. Aus Sicht der Autorinnen ist es erforderlich, diese Vorgänge zu verbalisieren, um sie allen Gebärenden zukommen zu lassen und weiter erforschen zu können.

    Sie empfehlen die Verwendung des Begriffs der »Watchful attendance«, um diese unsichtbaren, beziehungsorientierten und geburtsfördernden Betreuungsaspekte zu beschreiben. Der Begriff umfasst auf der einen Seite die Wachsamkeit, den Geburtsverlauf zu überwachen, und auf der anderen Seite die Anwesenheit, welche die Beziehungskomponente während der Geburt beschreibt: Wachsame Gegenwärtigkeit. Der Begriff vereint aus Sicht der Autorinnen die Verantwortung der Hebamme sowie die Eigenverantwortung der Gebärenden während des Geburtsverlaufs.

    Die Autorinnen empfehlen, die »Watchful Attendance« weiter zu erforschen. Dabei soll der Begriff helfen, weil darüber ein Aspekt professionellen Hebammenhandelns beschrieben wird, der bislang nicht in Worte gefasst wurde. Des Weiteren geben sie zu bedenken, dass an dieser Definition weitergearbeitet werden und somit letztlich die Qualität intrapartaler Betreuung verbessert werden kann. Aus Sicht der Autorinnen sollte eine wachsame Anwesenheit gerade in Zeiten der Covid-19-Pandemie jeden Geburtsverlauf prägen, da Begleitpersonen manchmal limitierten Zugang zur Gebärenden haben. Im Rahmen einer frauenzentrierten Geburtshilfe sollte der Begriff der »Watchful Attendance« diskutiert und umgesetzt werden.

    Quelle: De Jonge A, Dahlen H, Downe S: »Watchful attendance« during labour and birth. Sex Reprod Healthc 2021. 28, 100617. https://doi.org/10.1016/j.srhc.2021.100617 WHO: WHO recommendations. Intrapartum care for a positive childbirth experience., Geneva, WHO-Press 2018 DHZ

    Rubrik: Geburt

    Erscheinungsdatum: 06.04.2021