Frühkindliche Imitation von Grimassen

Wer ahmt wen nach?

  • Lange wurde angenommen, dass die Imitation elterlicher Grimassen ein angeborenes Verhalten sei. Doch Kinder müssen dies scheinbar lernen. Und: Eltern ahmen eher ihre Kinder nach als umgekehrt.

  • Eltern hoffen oft, dass ihre Neugeborenen ihre Gestik imitieren – vergebens, sagen Forscher nun. Tatsächlich ist es wohl eher umgekehrt. Wissenschaft­lerInnen haben in einer neuen Untersuchung die aufgekommenen Zweifel an diese Hypothese untermauert. Säuglinge seien während der ersten Monate zwar höchst interessiert am Gebaren ihres Gegenübers, aber keineswegs in der Lage, gezielt vorgemachte Grimassen, Handbewegungen oder Geräusche nachzuahmen.

    Die ForscherInnen um Janine Oostenbroek und Virginia Slaughter von der University of Queensland (Australien) prüften bei 106 Babys jeweils im Alter von ein, zwei, sechs und neun Wochen, ob sie vorgemachte Gesichtsausdrücke oder Gesten imitierten. „Die Ergebnisse waren klar und deutlich: Die Kinder imitierten keine der Verhaltensweisen, die sie zu sehen bekamen“, erklären die Wissenschaftler im Fachmagazin Current Biology.

    Die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine identische Grimasse zeigten, sei jeweils genauso hoch gewesen wie für irgendeine andere. Zudem weise die Studie darauf hin, dass Nachahmung kein angeborenes, sondern ein in den ersten Lebensmonaten erlerntes Verhalten sei.

    Warum aber kamen so viele Untersuchungen zu dem Schluss, dass schon Neugeborene Gesten und Mimiken nachzuahmen vermögen? Entscheidend sei vor allem die stark eingeschränkte Wahl vorgemachter Ausdrücke in den früheren Studien, glaubt Slaughter. Meist hätten die „Vormacher“ lediglich die Zunge herausgestreckt oder den Mund geöffnet. Beim Kind wurde die Vorwölbung der Zunge und die Mund­öffnung jeweils erfasst, bevor und nachdem der Erwachsene ihm etwas vorgrimassierte.

    In der Realität sei es oft so, dass es vielmehr zunächst die Eltern seien, die die Mimik und Gestik ihrer Kleinen nachahmen, erklärt Slaughter. Im Mittel passiere das beim Umgang mit dem Baby einmal alle zwei Minuten, habe eine Auswertung ihrer Gruppe gezeigt. Wahrscheinlich lernten Babys auf diese Weise, eigene Ausdrücke mit denen anderer zu verlinken – und sie schließlich nachzuahmen.

    „Die Ergebnisse sollten eine aufbauende Neuigkeit sein für all jene, die vergebens darauf gewartet haben, dass ihr Neugeborenes sie imitiert“, lautet das Fazit der ForscherInnen. „Das ist absolut normal  – und irgendwann beginnen sie fast alle damit.“ Möglicherweise passiere dies erst mit sechs bis acht Monaten, vermuten die WissenschaftlerInnen. Wann genau, sollen nun weitere Auswertungen zeigen.

    (spiegel online, 9.5.2016/DHZ)

    Rubrik: 1. Lebensjahr

    Erscheinungsdatum: 26.05.2016