Demografischer Wandel

Wie wird die Geburtshilfe zukunftsfähig?

Der demografische Wandel birgt die Gefahr, dass die Geburtshilfe an Bedeutung verliert und bei der Verteilung der finanziellen Mittel das Nachsehen hat. Denn schwangere Frauen und junge Eltern werden zu einer schrumpfenden Minderheit. Aber die hohen Qualitätsziele und der ökonomische Aufwand für eine gesunde Geburtshilfe müssen von der ganzen Gesellschaft getragen werden. Eine Lösung der Probleme können die beteiligten Fachgruppen nur zusammen schaffen. Ein Appell. Priv.-Doz. Dr. Holger Maul
  • Die Bedeutung des demografischen Wandels für die Sicherstellung der Patient:innenversorgung ist gravierend: Geburtenzahl, Geburtenverteilung, Geburtenrate, Zahl der potenziellen Mütter, Alter der Mütter beim ersten Kind sind nur einige Beispiele.

  • Die Diskussion über Fachkräftemangel, Mitarbeitergewinnung und Qualitätsanforderungen in der Geburtshilfe wird leidenschaftlich geführt. Mit allen Kräften versuchen die Beteiligten, Strukturen nachzubessern und Mangelzustände auszugleichen. Mit anderen Worten: Wir befinden uns in einer dauernden (und erschöpfenden) Re-Aktion auf sich ändernde Rahmenbedingungen. Dabei vergessen wir vollkommen, dass die größte Bedrohung, die noch viel gravierendere Maßnahmen erforderlich machen wird, der demografische Wandel ist. Wie können wir mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen umgehen und zu einem Aktions-Modus gelangen? Als die Fachpersonen für Schwangere, Gebärende und Neugeborene können wir das!

    Wir müssen endlich vorangehen und die Führung des Änderungsprozesses übernehmen. Und: Wir müssen zusammenrücken und dürfen uns nicht berufspolitisch auf Extrempositionen zurückziehen – Klinik gegen Außerklinik, kleine gegen große Klinik, Ärzt:innen gegen Hebammen. Lassen wir uns nicht durch in der Vergangenheit erlebte Enttäuschungen in den Gegensatz zwingen, der einer nachhaltigen Lösung der Probleme der geburtshilflichen Versorgung im Wege steht. Damit wir selbst uns dabei nicht zu wichtig nehmen: Vielleicht hilft es, die Geburtshilfe aus der Sicht der Schwangeren neu zu denken und zu überlegen, wie wir mit einer bedarfsgerechten Verteilung der personellen und finanziellen Ressourcen eine ausreichende Versorgung gewährleisten können, mit der wir auch selbst »unseren Frieden machen« können.

     

    Die demografische Entwicklung

     

    Die Bedeutung des demografischen Wandels für die Sicherstellung der Patient:innenversorgung ist gravierend: Geburtenzahl, Geburtenverteilung, Geburtenrate, Zahl der (potenziellen) Mütter, Alter der Mütter beim ersten Kind sind nur einige Beispiele. Jeder Parameter kann Auswirkungen auf die zu erwartenden Geburten an unterschiedlichen Orten in Deutschland haben.

    Wir müssen akzeptieren, dass weitere Änderungen eintreten werden, die längst vorhersehbar sind und denen wir uns heute antizipativ stellen müssen. Dabei helfen kurzfristige Korrekturen oder finanzielle Nachbesserungen überhaupt nicht. Sie verzögern nur die Umsetzung des dringend Erforderlichen und verhindern Nachhaltigkeit.

     

    Kennzahlen der Geburtshilfe

     

    Im Jahr 2020 wurden ausweislich des statistischen Bundesamts (Destatis) 773.100 Lebendgeborene registriert (nicht Geburten). Durchschnittlich brachte eine Frau in ihrer reproduktiven Phase 1,53 Kinder zur Welt. Um die Einwohnerzahl Deutschlands »aus eigenen Kräften« konstant zu halten, wären 2,1 Kinder pro Frau notwendig. In Deutschland lag das durchschnittliche Alter einer Mutter bei der Geburt ihres ersten Kindes bei 30,2 Jahren.

    Diese Zahlen weisen auf große gesellschaftliche Fragen mit Einfluss auf die Geburtshilfe hin: Exorbitant steigende Gesundheitskosten für die älter und alt werdenden geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge mit circa 2 Millionen Geburten 1964 und 1965 führen möglicherweise zu einer Marginalisierung der gesundheitspolitischen Bedeutung der Geburtshilfe. Außerdem wird der zunehmende Personalmangel die medizinische Versorgung der vermehrt komplexeren Fälle erschweren: Aufgrund des steigenden mütterlichen Alters sind mehr Vorerkrankungen, Adipositas, Diabetes, Risikogeburten wie Mehrlinge oder Präeklampsie zu erwarten.

     

     

    Abbildung 1: Bevölkerungspyramide in Deutschland (Männer und Frauen) im Jahr 2019. In Rot die Bevölkerungspyramide im Jahr 1990 zum Vergleich.

    Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis, 2022)

     

    Deutlich wird dies beim Blick auf die Bevölkerungspyramide (siehe Abbildung 1). Während 1990 noch mehr Menschen zwischen 20 und 45 Jahren einer kleineren Gruppe zwischen 45 und 80 gegenüberstand, ist es heute umgekehrt. Die leichte Zunahme der Geburtenzahlen im letzten Jahrzehnt wird kaum etwas daran ändern. Es werden etwa 30 Jahre vergehen, bis der Gipfel der alten und hochaltrigen Population »abgeschmolzen« ist, für die etwa 90 % der Kosten im Gesundheitssystem anfallen werden. Wie dies finanziert werden soll – verschärft noch durch den Krieg in der Ukraine und die rasant steigende Inflation –, ist unklar. Selbst bei sehr optimistischer Sichtweise ist eine angemessene Versorgung dieser Menschen schon jetzt fast aussichtslos. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung droht die geburtshilfliche Versorgung »hinten runterzufallen«. Das darf aber nicht passieren!

     

     

    Abbildung 2: Entwicklung der Geburtenziffer in Deutschland zwischen 1950 und 2018 (rote Linie). In Hellblau die Geburtenziffer im Bereich der ehemaligen DDR, in Dunkelblau die der westdeutschen Länder.

    Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis, 2019)

     

    Deutlich wird dies auch an der sogenannten Kohortenfertilität: Während die Geburtenziffer der Frauen zwischen 15 und 29 Jahren kontinuierlich abgenommen hat, konnte diese Abnahme durch eine steigende Geburtenziffer der Frauen zwischen 30 und 49 Jahren immerhin leicht überkompensiert werden (siehe Abbildung 3).

     

    Abbildung 3: Fruchtbarkeit nach Altersgruppen: Der Anteil der Frauen, die ihre Kinder zwischen 30 und 49 Jahren bekommen, ist deutlich gewachsen.

    Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis, 2022)

    Der Einfluss durch Zuwanderung ist eher unbedeutend und wird überschätzt. So zeichnen sich Migrantinnen zwar durch höhere Geburtenziffern aus, aber sie heben aufgrund ihres geringen Anteils an der Gesamtbevölkerung die Geburtenziffer lediglich um 0,03 Prozentpunkte von 1,5 auf 1,53 an (siehe Abbildung 4). Für eine Kompensation des demografischen Wandels hätte Deutschland ein Vielfaches der Zuwanderung des Jahres 2015 benötigt.

     

     

    Abbildung 4: Geburtenziffern der Frauen mit den häufigsten Staatsbürgerschaften in Deutschland. In Klammern steht jeweils ihr Anteil in % an allen Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren.

    Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis, 2020)

     

    Von Bedeutung ist auch die Kinderlosenquote von Frauen. Diese liegt heute bereits bei über 20 % und wird nach Schätzungen bei den Frauen der Geburtsjahrgänge 1983 aufwärts auf über 30 % ansteigen (siehe Abbildung 5). Wenn 30 % der Frauen kinderlos bleiben, haben sie mangels eigener Erfahrung auch keinen direkten Bezug zur Geburtshilfe – Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.

     

     

    Abbildung 5: Kinderlosenquote in Deutschland, basierend auf den Mikrozensus­befragungen 2016 und 2018.

    Quelle: Statistisches Bundesamt

     

     

     

    Abbildung 6: Die Geburten im Jahr 2020 nach der Geburtenfolge in Tausend. Fast die Hälfte der in Deutschland geborenen Kinder sind erste Kinder.

    Quelle: Statistisches Bundesamt, 2021)

     

     

    Über die Rolle der Männer, ihr Zeugungsverhalten, ihre Fruchtbarkeit und ihren Bezug zu Geburtshilfe, Familienplanung, Schwangerschaft und Kinder lagen bis vor kurzem keine belastbaren Daten vor – außer eben, dass auch sie älter werden. Sprich: Auch sie warten ab, zögern (Pötzsch et al., 2020). Olga Pötzsch, Referentin im Statistischen Bundesamt, und ihr Team beschreiben auf der Basis der Mikrozensusbefragung 2018 eine zunehmende Zahl alleinstehender Männer in der Altersgruppe 33 bis 43 (29 % gegenüber 14 % bei Frauen). Demzufolge wohnen Kinder deutlich häufiger bei Frauen als bei Männern (72 % gegenüber 55 %).

    Die Wahrscheinlichkeit, dass man der Geburtshilfe nicht mehr die Rolle zuschreibt, die sie in einer Gesellschaft hat und haben muss, dürfte zunehmen. Es ist bekannt, dass Deutschland Kinder- und Familienfreundlichkeit als wirklichen Standort- und Wettbewerbsvorteil begreifen muss. Hier sind nachhaltige Konzepte erforderlich – auf Jahrzehnte!

     

    Schwangerschaften mit Risiken

     

    Ein höheres Durchschnittsalter der Mütter geht zwangsläufig mit mehr Schwangerschaftsrisiken und mehr Betreuungsaufwand einher. Die häufigsten Risikofaktoren für Präeklampsie sind Nulliparität, Alter > 35 Jahre und ein Body Mass Index > 30. 2020 waren 49 % aller Mütter Erstgebärende. Über 50 % waren schon bei der Geburt des ersten Kindes über 30 Jahre alt. Ein weiterer Anstieg des mütterlichen Alters ist abzusehen.

    Laut Eurostat hatten 29,9 % der Frauen von 25 bis 34 Jahren 2019 in Europa einen BMI über 25. Bei den 35- bis 44-Jährigen waren es schon 39,5 %. Die GEDA-Studie – kurz für »Gesundheit in Deutschland aktuell« – aus dem Jahr 2017 ergab für Frauen in der Alterskohorte 18–29 eine Übergewichtsrate (BMI > 25) von 16,5 % und eine Adipositasrate (BMI > 30) von 9,7 % (Schienkiewitz et al., 2017). In der Alterskohorte 30 bis 44 lagen die Raten deutlich darüber bei 24,2 % und 17,3 %. Schon diese drei Vergleiche machen deutlich, dass vollkommen andere Anforderungen an die geburtshilfliche Versorgung gestellt werden als vor 30 Jahren.

    Zudem hat die KIGGS-Studie, eine Langzeitstudie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland, ein pathologisches Bewegungsverhalten der Kinder und Jugendlichen ermittelt (Finger et al., 2018): Nur 7,5 % der Mädchen im Alter von 14–17 erreichen demzufolge das von der WHO empfohlene Bewegungsziel von »mindestens 60 Minuten mäßig bis sehr anstrengender körperlicher Aktivität pro Tag« (WHO, 2010). Deshalb ist damit zu rechnen, dass in nächster Zukunft die durchschnittliche Schwangere ein Risiko von über 50 % für Präeklampsie und/oder Gestationsdiabetes hat.

    Die daraus resultierenden Komplikationen manifestieren sich in der Geburtsstatistik nur deshalb nicht in voller Höhe, weil entweder vorzeitig eingeleitet oder ein Kaiserschnitt durchgeführt wird und die Geburtshilfe das »abfängt«.

    Die Raten an Adipositas und Diabetes werden allein aufgrund des steigenden mütterlichen Alters in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Auch das damit einhergehende gesteigerte Risiko für eine Frühgeburt liegt inzwischen weit über dem, was statistisch zu erwarten wäre. Dies alles wird in den nächsten Jahren zunehmende Anforderungen an die perinatologische Versorgung stellen.

    Dass vor diesem Hintergrund Parameter wie maternale und perinatale Mortalität und Morbidität, aber auch die Frühgeburtenrate in den letzten Jahren auf niedrigem Niveau gleichgeblieben oder weiter gesunken sind, ist den erfolgreichen Bemühungen aller Berufsgruppen zu verdanken, die an der Betreuung und Versorgung schwangerer Frauen beteiligt sind. Eine Frühgeburtenrate von 9 % in einem Land mit Schwangeren, die das inzwischen in Deutschland übliche Risikoprofil mitbringen, ist eigentlich als Sensation zu bezeichnen.

     

    Mehr Mehrlinge

     

    Zu den Faktoren, die unmittelbar mit dem zunehmenden Alter der Mütter zusammenhängen, zählen höhere Raten an Schwangerschaften nach assistierter Reproduktion (ART) mit ganz eigenem Risikoprofil. Nicht nur durch die ART nimmt die Rate an Mehrlingsschwangerschaften in den letzten Jahren erheblich zu. Auch ein höheres mütterliches Alter steigert die Wahrscheinlichkeit für Mehrlingsschwangerschaften.

    2020 lag der Anteil der Mehrlingskinder an allen Geborenen bei 3,7 % – das sind fast doppelt so viele, wie man aufgrund der Hellinschen Regel erwarten würde (1:85 = 1,17 % Zwillingsschwangerschaften, das heißt 2,34 % Zwillinge; höhergradige Mehrlinge spiele statistisch gesehen aufgrund ihrer Seltenheit keine Rolle).

    Vollkommen unbekannt ist, wie viele Frauen in Deutschland betreut werden und gebären, die im Ausland durch in Deutschland verbotene ART-Methoden wie etwa Eizellspenden schwanger geworden sind. Auch Frauen mit erheblichen Risikoprofilen werden heute mit Hilfe der ART schwanger. Hierzu zählen auch Frauen nach gravierenden therapeutischen Maßnahmen mit Dauermedikation, zum Beispiel nach Organtransplantation, Herzoperationen, Herzklappenersatz oder Gefäßprothesen.

    Frauen in der Altersgruppe > 50 Jahre mit Vorerkrankungen und Mehrlingsschwangerschaft gehören inzwischen zur Normalität der größeren deutschen Perinatalzentren: Sie sind zwar noch selten, aber man staunt nicht mehr.

    Quelle: Statistisches Bundesamt

     

     

    Weniger Geburtskliniken

     

    Durch den Rückgang der Geburten in den letzten fünf Jahrzehnten und den Bevölkerungsrückgang insbesondere in den ländlichen Regionen mussten viele Geburtskliniken schließen. Seit Anfang der 1990er Jahre war fast eine Halbierung zu verzeichnen. Alleine zwischen 1991 und 2015 wurden 477 geburtshilfliche Einrichtungen geschlossen (1991: 1.186, Ende 2015: 709) (Ärzteblatt, 2017). 2019 gab es noch 659 klinische Geburtshilfen (Jost & Kehl, 2020).

    Strukturvorgaben wie die G-BA-Richtlinie und eine Vergütung nach dem DRG-System, das vor allem einen Anreiz für Kostensenkungen bieten soll, Fachkräftemangel, aber auch Arbeitszeitgesetz und Haftpflichtprämien machen kleine Einheiten zunehmend unwirtschaftlich. Eine Grundvergütung zur Absicherung der Vorhaltekosten wird zwar immer wieder ins Feld geführt – so auch von der derzeitigen Regierungskommission – sie wird aber nichts an dem Problem des Fachkräftemangels und den steigenden Qualitäts­erwartungen ändern.

    In einigen ländlichen Regionen Süddeutschlands hat die Zusage der jeweiligen Kommunen, alle Defizite der örtlichen Krankenhäuser aufzufangen, trotzdem nicht dazu geführt, dass ein Weiterbetrieb möglich war. Die Hauptaufgabe wird darin bestehen, attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen.

    Zur gleichen Zeit war in den verbleibenden Krankenhäusern vor allem in den Ballungsräumen ein erheblicher Anstieg der Geburtszahlen zu verzeichnen, der überwiegend durch Prozessoptimierung, wie etwa deutlich kürzere Liegedauer, kompensiert werden konnte. Die Arbeitsdichte hat dadurch zugenommen. Eigenen Berechnungen zufolge hat beispielsweise die Zahl der Arztbriefe in der Geburtshilfe, die ein Assistenzarzt heute auf einer Station fertigstellen muss, gegenüber den 1990er Jahren um den Faktor 40 bis 60 zugenommen – also um 4.000 bis 6.000 %!

    Die Veränderungen im Hebammenbereich sind vielschichtiger und schwerer zu fassen.

    Ihr Dokumentationsaufwand hat ebenfalls deutlich zugenommen. Die Digitalisierung ist an vielen Stellen in den letzten zwei Jahrzehnten kaum weitergekommen. Zudem wurden Errungenschaften der Digitalisierung weitgehend durch eine deutliche Zunahme der Dokumentationsanforderungen aufgezehrt. Insbesondere die Frage der zeitgleichen Dokumentation ist vielfach nicht zufriedenstellend gelöst. Was früher auf einem Blatt Papier leicht möglich war, ist bei den digitalen Lösungen oft schwierig bis unmöglich.

    Der hohe Durchsatz der zu betreuenden Frauen vor allem in den »Level-Häusern« ist für viele belastend. Eigenen Befragungen von Hebammen zufolge, die seit den 1980er und 1990er Jahren kontinuierlich klinisch tätig waren, hat sich der Stellenschlüssel zwar leicht verbessert: In den 80er Jahren waren Teams mit zehn Hebammen für 1.200 Geburten üblich – das Verhältnis von Hebamme zu Geburten ist zwischenzeitlich gesunken. Aber die Anforderungen an die Dokumentation, die Komplexität der Fälle und die Erwartungshaltung der zu betreuenden Schwangeren sind in den letzten 30 Jahren enorm gewachsen. Teilzeitstellen und der damit einhergehende höhere Planungsaufwand waren in den 80er Jahren die Ausnahme. Viele beklagen das abnehmende Miteinander zwischen Ärzt:innen und Hebammen – möglicherweise als Ergebnis ständig wechselnder Dienstbesetzungen.

    Gegenüber den Ärzt:innen haben viele Hebammen in den letzten Jahrzehnten einen relativen und absoluten Autoritätsverlust erlebt – auch wegen der Sorge der Ärzt:innen, aus haftungsrechtlichen Gründen nicht rechtzeitig involviert zu sein. Diese ständige »Einmischung« belastet viele Hebammen und auch ihr Verhältnis zu den betreuten Frauen.

    Hinzu kommen sprachliche, aber auch kulturelle Verständigungsschwierigkeiten mit den Schwangeren, manchmal auch innerhalb der geburtshilflichen Teams. Viele zu betreuende Schwangere kommen aus Gesundheitssystemen, in denen Geburten primär ärztlich durchgeführt werden und Hebammen nicht die Rolle spielen, die sie in Deutschland haben.

    Es wird eine besondere Herausforderung bleiben, Mitarbeiter:innen für ein solches Arbeitsumfeld zu gewinnen und die Erwartungshaltung an das Berufsbild mit der Realität in Deckung zu bringen.

     

    Einfluss auf die Personalressourcen

     

    Es ist nicht absehbar, ob der Fachkräftemangel so fortbesteht, sich durch gezielte oder ungezielte Zuwanderung abmildern lässt oder eher noch verschlimmert. Abgesehen davon schafft Zuwanderung durch die Abwerbung von bereits qualifizierten Mitarbeiter:innen eigene Probleme: In einigen Herkunftsländern fehlen diese Fachkräfte dann für die Versorgung der dortigen Bevölkerung. In einigen südeuropäischen Ländern wiederum – beispielsweise in Italien – hat man schlicht »überproduziert«. Sehr viele Hebammen haben dort einfach keine Stelle bekommen. Man kann sich das in Deutschland kaum vorstellen.

    Wenn man den Blick auf die Bevölkerungspyramide richtet und sich klarmacht, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre praktisch alle Mitarbeiter:innen aus den geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen 1964 und 1965 aus dem Arbeitsleben ausscheiden, wird man mit verheerenden Konsequenzen für die Personalgewinnung rechnen müssen.

    Man kann nur hoffen, dass die Geburtshilfe, die weiterhin stark manuell-handwerklich geprägt ist, durch Digitalisierung und Automatisierung in anderen Branchen indirekt profitiert. Wir werden aber auch selbst alle Anstrengungen machen müssen, unsere Arbeit zu optimieren und so zu rationalisieren, dass wir die Effizienz steigern, uns und unserem Ziel einer »gesunden Geburt« aber treu bleiben können. Ein »Weiter so« geht nicht. Ebenso wenig geht es »wie früher«. Die Antworten der Vergangenheit werden für die Fragen der Zukunft kaum ausreichen.

     

    Nachhaltige Anpassung im Arbeitsumfeld

     

    Wichtig ist schon heute die Frage, wie man die Arbeit an Krankenhäusern für alle Personalgruppen attraktiver gestaltet – für Hebammen, medizinisch-technische Dienste, Pflege und Ärzteschaft. Auch eine andere Verteilung der anfallenden Arbeit sollte besser aktiv als reaktiv gestaltet werden. Tätigkeiten wie die Dokumentation könnten schon heute an medizinische Fachangestellte delegiert werden, Ultraschalluntersuchungen an medizinische Assistenten wie die Physician Assistants (PA).

    Den Hebammen wird deutlich mehr Verantwortung zufallen. Sie werden als »Scharnier« zwischen den Erwartungen der Schwangeren und den (technischen) Möglichkeiten der Ärzt:innen fungieren und beispielsweise in der Risikostratifizierung von Schwangeren die entscheidende Bedeutung haben. Es wird wichtig sein, die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. So stellt sich sehr konkret die Frage, ob man nicht auch im Krankenhaus die Verantwortung für Geburten von Frauen mit niedrigem Risiko nicht nur delegieren, sondern ganz auf Hebammen übertragen soll. Rechtlich ist dies im Moment nicht möglich, weil die Letztverantwortung für Patient:innen auf einem Klinikgelände einem Arzt oder einer Ärztin obliegt.

    Der rechtliche Rahmen ließe sich sicher schaffen. Die Frage ist: Wollen oder können die Hebammen das? Hier wird man genau überlegen müssen, was an der Aus- und Weiterbildung geändert werden muss. Masterstudiengänge im Hebammenwesen sind dafür sinnvoll. Ähnlich wie Ärzt:innen wären auch die Hebammen gut beraten, wegzukommen vom Denken »Ich bin erfahrene Hebamme« und zu einer modularen Weiterqualifikation zu gelangen. In der Weiterqualifikation steckt auch Motivation, sie hält das Interesse am Fach wach und schafft Möglichkeiten, über mehr Verantwortung auch zu höheren Gehältern zu gelangen. Die Akademisierung bringt wenig Vorteile, solange sich der Beruf nicht inhaltlich weiterentwickelt.

    Es wird sich zukünftig weniger die Frage stellen, die richtigen Mitarbeiter:innen für die Klinik zu gewinnen, sondern wie man die vorhandenen in der Klinik hält. Auch hier könnten berufsbegleitende Masterstudiengänge wichtig werden.

    Ob es den heutigen Führungskräften in Kliniken gefällt oder nicht: Die Frage wird mehr und mehr sein, wie man ein Arbeitsumfeld kreiert, das Mitarbeiter:innen aller Berufsgruppen, eben auch der nicht-ärztlichen, motiviert, jeden Tag begeistert zur Arbeit zu gehen und in der Tätigkeit – selbst wenn sie manchmal unangenehm ist – den höheren Sinn nicht aus dem Blick zu verlieren.

    Ärzt:innen und Hebammen für die Geburtshilfe zu gewinnen, ist aufgrund der Faszination, die das Fach auslöst, noch vergleichsweise einfach. Nur müssen wir achtgeben, dass das Narrativ »Alles ist schlecht« nicht irgendwann so dominant wird, dass dieser Zufluss versiegt. Der Frauenanteil des Faches ist hoch: in wenigen Jahren bei den Ärzt:innen annähernd 100 %, bei den Hebammen ohnehin so gut wie 100 %. Dies wird moderne Arbeitszeitkonzepte auf allen Ebenen zwangsläufig verlangen. Solche Konzepte lassen sich in großen Einheiten leichter umsetzen als in kleinen: Große Teams können Ausfälle Einzelner leichter verkraften als kleine.

    Jede Lebensphase hat nun einmal ihre besonderen Herausforderungen: Die Jüngeren wünschen sich freie Wochenenden und machen lieber eine Nacht mehr, die Mütter kleinerer Kinder können nur mit kleinem Stellenanteil mit verlässlichen und gut planbaren Arbeitszeiten arbeiten, die Älteren wiederum sind flexibler und können leichter Lücken füllen. Wenn man sich gegenseitig mehr Akzeptanz für diese Wünsche entgegenbringen würde und eine Art »Generationenvertrag« im Team schließen könnte, dann wäre schon viel gewonnen. In jedem Fall würde es dem »Brain drain« entgegenwirken, der für die Qualität der Geburtshilfe schon seit Jahrzehnten ein großes Problem darstellt und mit dem wir uns das Leben gegenseitig schwermachen.

     

    Fazit: Es gibt viel zu tun

     

    Geburtshelfer:innen, Hebammen und ihre Verbände dürfen nicht nachlassen in ihrem Bemühen, die geburtshilfliche Versorgung in Deutschland in den Fokus zu rücken. Wir alle sind gut beraten, selbst kluge Konzepte und Lösungsvorschläge zu entwickeln.

    Rubrik: Beruf & Praxis

    Erscheinungsdatum: 24.11.2022

    Literatur

    Ärzteblatt (2017). Zahl der Geburtsstationen in Krankenhäusern zurückgegangen. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/73192/Zahl-der-Geburtsstationen-in-Krankenhaeusern-zurueckgegangen

    Destatis (2019). Gestiegene Geburtenhäufigkeit bei älteren Müttern. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/09/PD19_332_122.html

    Destatis (2020). Geburten im Jahr 2020: Bis September 6.155 Babys weniger als 2019. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/12/PD20_510_122.html

    Destatis (2021). Mehr als jedes zweite Baby hatte 2020 bei seiner Geburt bereits Geschwister. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/03/PD21_098_122.html

    Destatis (2022). Demografischer Wandel. https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/_inhalt.html

    Finger, J.D., Varnaccia, G., Borrmann, A., Lange, C., Mensink, G.B.M. (2018). Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittsergebnisse aus...

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