Wiedergeburt durch Stammzellen

In winzigen Nischen im Brustgewebe sitzen Stammzellen und warten darauf, dass sie sich asymmetrisch in zwei verschiedene Tochterzellen teilen: in eine neue Stammzelle und in eine Gewebezelle. Ein Großteil dieser unterschiedlich differenzierten Zellen gelangt in die Muttermilch. Zusätzlich werden über die Blutbahn auch die Blutstammzellen in die Milch befördert. Beim Stillen nimmt der Säugling alle auf, integriert sie in seine Organe und profitiert davon ein Leben lang.
Stammzellen können wie ein Perpetuum mobile neue Stammzellen hervorbringen. Dass sie dadurch nahezu unsterblich sind und sich zudem zu anderen Zellen spezialisieren können, verleiht ihnen etwas Magisches. 2007 entdeckten ForscherInnen, dass Stammzellen in der Muttermiilch enthalten sind. Es waren Prof. Dr. Peter Hartmann und Dr. Mark Cregan von der University of Western Australia (UWA), die mit dem Stammzellmarker Nestin die Muttermilch testeten und feststellten, dass diese der einzige Zellverband ist, der mehr als einen Typ von Stammzellen enthält (Cregan 2007). An derselben Uni, an der Faculty of Health and Medical Sciences, forscht seit 2012 an dem Thema die Biologin Dr. Foteini Kakulas (früher Hassiotou), die in engem Austausch mit der Hartmann Human Lactation Research Group der UWA steht.
Sie zeigte, dass sich einige von den unterschiedlichen Stammzellen aus der Muttermilch bei der Reproduktion sogar in alle drei Keimblätter differenzieren können: Ektoderm, Mesoderm und Endoderm. Das ist im Vergleich zu den meisten anderen Stammzellen die obere Liga. Und damit sind Stammzellen der Muttermilch (human Breast Milk Stem Cells: BmSC) mit embryonalen Stammzellen vergleichbar. Sie sind ebenso pluripotent.
Signale aus der Stammzellnische
In der Muttermilch sind immerhin 10 bis 15 % aller Zellen Stammzellen (Briere 2016). Vor allem bei Frauen, deren Brüste in der Schwangerschaft deutlich zugenommen haben, ist die Zahl der Stammzellen hoch. Generell befinden sich am Anfang jeder Stillzeit mehr von ihnen in der Milch als am Ende. Dr. Natalia Ninkina von der School of Biosciences Cardiff University spürte letztes Jahr die Stammzellen in der Muttermilch mit verschiedenen Markern auf, etwa mit Cytokeratin 5 (CK5+), und suchte nach dem Ursprung ihrer verschiedenen Typen. Ninkina stellte fest, dass einige aus dem mütterlichen Blut kommen, etwa die blutzellbildenden Stammzellen (hematopoietic Stem Cells). Andere stammen direkt aus dem umgebenden Brustgewebe, nämlich die Stammzellen der milchbildenden Laktozyten und Myoepithelzellen der Alveolen. Diese Zellen des Brustgewebes machen mit ihren verschiedenen Entwicklungsstadien 98 % aller Zellen in der Muttermilch aus (Ninkina 2019).
Zunächst sitzen diese Stammzellen in ihren ruhigen Nischen im Gewebe – wie auch die adulten Stammzellen anderer Organe. Darin sind sie auf die Versorgung aus ihrer direkten Umgebung angewiesen, die ihnen Wachstumsfaktoren und andere Substanzen liefern. Während der Schwangerschaft und Laktation beginnen sie ihre duktal-alveoläre Morphogenese. Nach ihrer Aktivierung beginnt wie bei anderen Geweben auch die asymmetrische Teilung der Mutterzellen, bei der zwei ungleiche Tochterzellen entstehen: eine Stammzelle mit verminderten Fähigkeiten und eine sich differenzierende Gewebezelle mit definierten Aufgaben. Je nachdem entsteht aus dieser eine milchproteinbildende oder eine myoepitheliale Zelle.
Mitverantwortlich für die kontinuierliche Umwandlung ist das Signalprotein Wnt. Sein Signalweg wird so stark aktiviert, dass es zu einer hohen Rate lebensfähiger Zellen kommt, die expandieren. Würden sich Stammzellen symmetrisch teilen, also zwei identische neue Tochter-Stammzellen wie ihresgleichen hervorbringen, so würde dies als exponentielle Vermehrung rasch ins Chaos führen: Es würde ein Tumor entstehen.
Zellen wandern von der Mutter zum Kind
Kakulas konnte anhand von Versuchen mit Mäusen zeigen, dass die Stammzellen der Muttermilch im kindlichen Organismus aus dem Darm ins Blut und weiter in verschiedene Organe gelangen, wo sie sich zu den jeweils entsprechenden Zelltypen differenzieren und vervielfältigen. Die Fähigkeit der Stammzellen aus dem Brustgewebe, sich in Organe aller drei Keimblätter einzubringen, zeigt ihre hohe Stammzellfähigkeit: Wenn sie die mesodermale Route einschlagen, können sie sich zu Osteoblasten, Chondrozyten, Adipozyten oder Cardiomyozyten differenzieren. Differenzieren sie sich in Zellen entodermalen Ursprungs, werden es Pankreaszellen, die Insulin produzieren, oder leberzellähnliche (Hepatozyten-ähnliche) Zellen, die Albumin produzieren. Über die ektoderme Route werden es erneut Myoepithelien und Laktozyten, im Gehirn aber auch Neuronen und Gliazellen, die beiden wichtigsten Gehirnzelltypen. Das liegt daran, dass die Brustdrüse und das Nervensystem denselben embryonalen Ursprung haben. Malgorzata Witkowska-Zimny mutmaßt, dass diese Zellen in das Nervensystem des Darms eingebaut werden, der einen großen Teil des Nervensystems darstellt.
Das Wandern der Stammzellen aus der Muttermilch in Organe des Kindes konnte für Herz, Blut, Leber, Gehirn, Lunge, Knochenmark, Bauchspeicheldrüse und Milz nachgewiesen werden (Hassiotou et al. – heute Kakulas 2012). Die – noch farblosen – hematopoetischen Stammzellen, die aus dem mütterlichen Blut stammen, werden in Knochenmark, Leber und Milz eingebaut. Ihre Rolle in der postnatalen Entwicklung ist noch unklar (Ninkina 2019).
Mütterlicher Mikrochimärismus nennt sich die Wanderung mütterlicher Zellen durch den Körper und das Weiterleben im Säugling. Die Experimente zeigten, dass die Zellen auch funktionell in diese Organe integriert werden und organspezifische Proteine produzieren. Sie verbleiben dort lebenslang. Die Stammzellen der Muttermilch sind daran beteiligt, kurz- und langfristig das Wachstum und die Entwicklung des Kindes zu unterstützen. Die Mechanismen dafür sind noch nicht völlig verstanden.
So ist auch noch unklar, wie durch den Mikrochimärismus zum Beispiel die Zahl der Erkrankungen im höheren Lebensalter reduziert wird (Briere 2016).
Nutzen und Therapien
Mehr Wissen auf dem Gebiet der Stammzellforschung könnte besonders Frühgeborenen zugutekommen (Briere 2016): Mütter von frühgeborenen Kindern produzieren weniger Milch. Dies könnte damit zusammenhängen, dass sich in ihrer Milch auch weniger Stammzellen messen lassen – wie auch bei Frauen mit einem höheren Body Mass Index. Gerade Frühgeborene benötigen aber mehr Stammzellen in der Milch. Frühgeborene, die überhaupt nicht gestillt werden, haben ein signifikant höheres Risiko für eine nekrotisierende Enterokolitis. Kakulas interessiert in ihrer Forschung besonders das Potenzial der Stammzellen in der Muttermilch, um daraus ein Management für Mütter mit Frühgeborenen abzuleiten, die zu wenig Milch haben.
Auch für Regenerative Medizin versprechen sich die ForscherInnen viel vom Potenzial dieser Stammzellen. Denn man kann aus ihnen im Labor Gewebe produzieren (tissue engineering) und könnte sie für Zelltherapien verwenden. Sie haben laut Kakulas ein sehr niedriges Risiko, zu einem Tumor auszuarten und sie sind im Gegensatz zu anderen embryonalen Stammzellen einfach zu gewinnen. Mehr Wissen über Stammzellen aus Muttermilch könnte auch der Krebsforschung nützlich sein. Sie helfen zu verstehen, wie sich die Proliferation von Tumorgewebe vollzieht, wenn sie dem Kontrollmechanismus entkommen, der sie in Ruhestellung in ihrer Nische der Brustdrüse hält.
Die am längsten bekannten Quellen für adulte Stammzellen sind das Blut und das Knochenmark. Dort findet sich eine Stammzelle auf 10.000 Zellen. Eine Knochenmarksstammzelle kann das gesamte Blutsystem eines Organismus erneuern. Es gibt jede Menge Ansätze für Therapien.
Stammzellen aus der Nabelschnur sollen beispielsweise bei Frühgeborenen, deren Lungen sich meist nicht ausreichend entwickeln, die Funktion der körpereigenen Lungenbindegewebszellen unterstützen, ohne permanent in das Gewebe einzuwachsen. Daran forschen derzeit die Dresdner Neonatologen Prof. Mario Rüdiger und Dr. Marius Möbius.
Der menschliche Körper besteht aus etwa 220 verschiedenen Geweben, die sich unterschiedlich erneuern. Die Haut erneuert sich einmal im Monat, die Schleimhaut des Darms in weniger als einer Woche, und das Knochenmark bildet 300 Milliarden Blutzellen pro Tag. Seit rund 15 Jahren können ForscherInnen mit verhältnismäßig einfachen Veränderungen Köperzellen in sogenannte »induzierte pluripotente Stammzellen« (iPS-Zellen) umwandeln. Diese können – wie embryonale Stammzellen – alle Zelltypen des Körpers bilden. Inzwischen werden aus Stammzellen Organoide gezüchtet wie zum Beispiel Minigehirne. WissenschaftlerInnen am Institut für Stammzellforschung und Regenerative Medizin (ISRM) der medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf haben eine weitere ideale, nicht-invasive Methode zur Gewinnung von Stammzellen etabliert: Sie isolieren Stammzellen aus Urin. Nierenstammzellen lassen sich mit Hilfe der iPS-Technologie gut in induzierte pluripotente Stammzellen reprogrammieren. Angesichts der vielen Möglichkeiten, Stammzellen für therapeutische Zwecke zu gewinnen, kann Muttermilch zunächst vor allem den Säuglingen überlassen bleiben.
Stammzellen: Verschiedene Stadien der Verwandlung
Stammzellen sind in verschiedenem Ausmaß potent. Als Urstammzelle ist die befruchtete Eizelle totipotent: Sie kann alle Zellen eines eigenständigen Organismus produzieren. Diese Fähigkeit geht embryonalen Zellen nach dem Acht-Zell-Stadium verloren. Eine fünf Tage alte Blastozyste besteht vollständig aus Stammzellen, die pluripotent sind. Sie können jedes Körpergewebe, aber keine Plazenta mehr bilden und sich nicht mehr im Uterus einnisten.
Während der Organogenese bis zur zwölften Schwangerschaftswoche bilden sich fetale Stammzellen. Sie sind noch weniger wandelbar, aber immerhin noch multipotent. Sie können sich zu verschiedenen Zelltypen innerhalb eines Gewebetyps verwandeln.
Ab der Geburt befinden sich im menschlichen Organismus nur noch adulte Stammzellen, die multi- oder nur noch oligopotent sind. Einige sind unipotent: Sie können nur noch Zellen desselben Typs bilden, etwa Fibroblasten. All diese Gewebestammzellen finden sich ein Leben lang im Körper des Menschen und ersetzen alternde oder zerstörte Zellen.
Literatur
Bardanzellu F: Human Breast Milk: Bioactive Components, from Stem Cells to Health Outcomes. Curr Nutr Rep 2020. Jan 11. doi: 10.1007/s13668-020-00303-7
Briere CE et al.: Stem Cells in Breastmilk for Preterm Infants. Paper presented at: Pediatric Academic Society 2016. Baltimore MD
Briere CE: Stem Cells in Breastmilk for Preterm Infants. www.researchgate.net/publication/309188794_Stem_Cells_in_Breastmilk_for_Preterm_Infants
Cregan MD et al.: Identification of Nestin-positive putative Mammary Stem Cells in human Breastmilk. Cell Tissue Res 2007. Jul;329(1):129–36. www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17440749
Fischer A: Can Stem Cells from Breast Milk be found in the Brain of Babies? https://fedisbest.org/2019/04/can-stem-cells-from-breast-milk-be-found-in-the-brain-of-babies/
Grompe M: Tissue Stem Cells: New Tools and functional Diversity. Cell Stem Cell 2012. 10: 685–9
Hassiotou (nun Kakulas) F et al.: Breastmilk Imparts the Mother´s Stemcells to the...
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