»Wir müssen reden!«

Reflexion einer Praxisanleiterin, die in einer Kooperationsklinik der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig ist. Sie ist enttäuscht – und verständnisvoll, als sie über die Stimmen der vier Studierenden des Studiengangs Hebammenwissenschaft nachdenkt, die in der Augustausgabe der DHZ zu Wort kamen. Annemarie Wiegel

Als unsere Hebammenstudentin ihren Dienst beginnt, begrüße ich sie mit den Worten: »Wir müssen reden!« Es ist ruhig im Kreißsaal. Nachdem alle Routineaufgaben erledigt sind, sitze ich nun bei einer Tasse Kaffee und lese die Reflexionen der Hebammenstudentinnen in der Augustausgabe der Deutschen Hebammen Zeitschrift, die sie nach knapper Halbzeit ihres Studiums für das Schwerpunktthema »Berufsbild Hebamme« aufgeschrieben haben (DHZ 8/2022, Seite 8ff.). Alle vier sind Studierende im Dualen Studiengang Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft (HAW) in Hamburg.

Auf diese Wortmeldungen folgt in der DHZ ein Artikel von Prof. Dr. Lea Beckmann über einen Antrag der Juwehen, der Jungen und Werdenden Hebammen im Deutschen Hebammenverband (DHV), zum Thema Wertschätzung und Umgang mit ihnen während ihrer Ausbildungszeit.

Meine eigenen Gedanken versuche ich zu ordnen und in Worte zu fassen. Es war ein im Team des Johanniter Krankenhauses Geesthacht besprochener Wunsch, die Kooperation mit der HAW einzugehen und künftige Kolleg:innen bei uns auszubilden. Mit sechs Praxisanleiterinnen sind wir gut aufgestellt. Wir können eine niedrige Interventions- und Sectiorate vorweisen, viele Wassergeburten und spontane BEL-Geburten finden bei uns statt und wir sind babyfreundlich zertifiziert, was bei uns nicht einfach nur ein Konzept ist, sondern gelebter Alltag. Es gibt wenig hierarchische Strukturen, weil sich das kleine Ärzt:innen- und Hebammenteam gut kennt und auf Augenhöhe arbeitet.

Wir fühlen uns verantwortlich und wollen mit der Ausbildungskooperation einen kleinen Beitrag leisten, um der wachsenden Personalnot entgegenzuwirken. Wissen und Handwerkszeug weitergeben und junge Frauen (und gern auch Männer) auf ihrem Weg begleiten und bei Bedarf leiten. Das ist auch meine Auffassung von guter Geburtshilfe. Begleiten und da sein, aber leiten und helfen, wo es notwendig ist.

 

Traurigkeit, Enttäuschung, Frustration

 

An diesem Morgen fehlen mir die Worte, ein Gefühl von Traurigkeit, Enttäuschung und Frustration begleiten mich. Meistens leisten wir Praxisanleitung sowohl für unsere Hebammenstudentinnen als auch für die Auszubildenden der generalistischen Pflegeausbildung in unserer regulären Arbeitszeit, weil es personell kaum möglich ist, Kolleginnen nur für gezielte Praxisanleitungen freizustellen. Das bedeutet mehr Verantwortung und in stressigen Diensten mitunter sogar mehr Belastung zu tragen. Bisher haben wir keinerlei Entlohnung dafür erhalten, weil dies für Hebammen im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst nicht vorgesehen ist. Es lastet schwer zu lesen, wie groß die Unzufriedenheit bei unseren künftigen Kolleginnen ist. Unsere Studentin versichert mir, dass sich die angesprochenen Kritikpunkte nicht auf unseren Kreißsaal beziehen und sie und ihre drei Kommilitoninnen gern zu uns kommen. Doch ich lese diese Unterschiede nicht in den veröffentlichten Artikeln.

Ich lese nichts darüber, an welchen Kliniken die Kommentatorinnen eingesetzt sind. Ich lese wenig Gutes, aber viel Negatives. Vieles lässt mich schwer schlucken. Es entsteht der Eindruck, dass an der Klinik alles schlecht läuft und es schöne selbstbestimmte Geburten nur zu Hause gibt. Es gibt keine Rückmeldung, in der die positiven Aspekte die negativen überwiegen, obwohl mir unsere Studentin doch genau dies für unseren Kreißsaal bescheinigt. Es macht mich wütend, dass die Berichterstattung so einseitig und an keiner Stelle die Sicht einer Praxisanleiterin zu lesen ist. An diesem Morgen fühle ich mich vorgeführt für etwas, von dem ich bisher glaubte, dass ich es gut mache, aus vollem Herzen und mit ganzer Leidenschaft.

Meine eigene Ausbildung war streng und so, wie es teilweise in den Artikeln beschrieben wird. Die Hebammen wurden von uns gesiezt. Man saß nicht zusammen, trank Kaffee und unterhielt sich, wie ich es an diesem Tag mit unserer Studentin tue. Man schwieg, wenn die Lehrhebamme den Raum betrat, und hoffte, dass man alles zu vollster Zufriedenheit ausgeführt hatte. Ich habe Schüsseln von Hand geschrubbt und die Fugen des Kreißsaalbodens mit einer Zahnbürste bearbeitet. Wir haben viel gelernt und stets versucht, alles aufzunehmen und abzuspeichern, immer in Erwartung, bei der nächsten Gelegenheit geprüft zu werden.

Ich ging nach dem Examen mit dem Gefühl, bereit und gerüstet zu sein, in ein großes Level-1-Haus und blicke wirklich nicht ungern auf die Ausbildungszeit zurück, gleichwohl ich es heute anders machen möchte. Mein eigener Anspruch ist eine Ausbildung mit Respekt und auf Augenhöhe, in der gemeinsam gelacht, aber auch mal geweint werden darf und in der sich »meine« begleiteten Studierenden immer trauen dürfen, mit Fragen an mich heranzutreten. Es betrübt mich zu lesen, dass Studentinnen eher eine andere Studentin fragen würden als die zuständige Kollegin.

 

Alle Seiten der Medaille betrachten

 

Ich bin mir der großen Verantwortung sehr wohl bewusst und es geht nicht darum, das Empfinden der Studentinnen in Frage zu stellen oder gar zu negieren. Sie haben mit vielen angesprochenen Punkten Recht. Und dennoch ist es mitunter hilfreich, alle Seiten der Medaille zu betrachten. Ich als Praxisanleiterin bin für alles Machen und Tun der künftigen Kolleginnen verantwortlich und auch haftbar. Wie fatal ist es zu lesen, dass diese erwachsenen Frauen sich nicht trauen, uns bei Fragen anzusprechen und sich stattdessen lieber untereinander absprechen oder sich irgendwie selbst behelfen. Ich wünsche mir, dass wir unmittelbar und direkt mehr miteinander reden. Die Studentinnen berichten davon, dass sie auch werdenden Müttern gegenüber respektloses, menschenunwürdiges und überhebliches Verhalten erleben mussten und dass sie die Vision haben, dass niemals wieder einer Schwangeren verbale oder körperliche Gewalt widerfährt. Wie will jemand künftig für einen anderen Menschen einstehen und remonstrieren, wenn er/sie es hier und jetzt noch nicht einmal für sich selbst tun kann?

Ich vermisse in den Wortäußerungen, ob das Empfinden der Studentinnen in den zwei Jahren jemals den betreffenden Personen oder der Stationsleitung gegenüber geäußert wurde. Wo waren die hauptverantwortlichen Praxisanleiterinnen, was sagen die eigenen Kolleg:innen im Team dazu? Es ist mir zu oberflächlich, nur mit dem Finger auf andere zu zeigen und eben diese nicht zu Wort kommen zu lassen. Bitte redet mit uns! Sucht euch eine Vertrauensperson oder tut euch zusammen und sprecht die Praxisanleiterinnen an.

Ich selbst bin auch eine Mutter, die zwei Geburten durchgestanden hat mit allem, was so vielfach angeprangert wird. Willkürliche Übergriffigkeit und Gewalt im Kreißsaal sind absolut indiskutabel. Ich weiß, wie es nicht sein soll, und dennoch bin ich überzeugt davon, dass es Umstände gibt, bei denen sich ein Trauma nicht verhindern lässt, weil es in dem Moment nur zählt, schlimmeren Schaden von Mutter und Kind abzuwenden. Bei den gemeinsam begleiteten Geburten bereiten mir die Vorwürfe der Studentinnen ein ungutes Gefühl. Gleichwohl ich immer viel mit den von mir betreuten Eltern spreche, erkläre und sie mit einbeziehe, versuche Optionen auszuloten und auch bei schwierigen Geburtsverläufen Respekt, Würde und Selbstbestimmung der Frau zu wahren, habe ich das Gefühl, mich auch vor unseren Studentinnen rechtfertigen und erklären zu müssen.

Vielleicht ist das gut, um mich selbst fortwährend zu überprüfen: Stehe ich hinter dem, was ich da tue oder mittrage? Kann andererseits jemand, der gerade erst zwei Jahre lernt, die Tragweite bestimmter Entscheidungen überhaupt einschätzen? Und wäre ein Alternativweg tatsächlich der bessere für Mutter und Kind gewesen?

Auch hier ist mein dringender Wunsch an unsere künftigen Kolleginnen: Bitte redet mit uns. Spiegelt uns euer Gefühl. Fragt uns, warum wir so agiert haben, wie wir es getan haben. Wir sind nicht frei von Fehlern und Fehleinschätzungen. Auch mich betrüben die Geschichten, die man alljährlich am 25. November, dem Roses Revolution Day, in diversen Foren lesen kann. Ich trage ein eigenes Trauma in mir. Und dennoch gibt es Situationen, in denen man vor allem schnell handeln muss, um Schlimmeres zu verhindern. Ich suche das Gespräch dann hinterher und biete den Eltern an, zu jedem beliebigen Zeitpunkt erneut darüber zu sprechen. Es ist aber ungerecht, immer und immer wieder an den Pranger gestellt zu werden. Nicht jede Frau kann interventionsfrei gebären. Ich darf das behaupten, denn ich gehörte dazu.

 

In den Spiegel blicken können

 

Es macht mich traurig zu lesen, dass die Studentinnen nach zwei Jahren das Gefühl haben, weit davon entfernt zu sein, kompetente Hebammen zu werden, und dass sie nach dem Abschluss weit weg von dem arbeiten wollen, was sie gerade als Realität im Kreißsaal oder der Freiberuflichkeit erleben. Und dass sie gern einen Ausblick auf ein leichteres Leben nach der Ausbildung hätten. Es wird anders, keinesfalls leichter. Man findet mit der Zeit seinen persönlichen Weg und unser Beruf ermöglicht uns so viele Optionen, so dass man tatsächlich wählen kann, wo und wie man arbeiten möchte. Mir ist es dabei immer wichtig, am Ende des Tages in den Spiegel blicken zu können.

Wenn man Hebamme ist, entwickelt man im Laufe der Jahre individuelle Arbeitsweisen und Wege, sich vor allem bei einem vollen Kreißsaal zu priorisieren. Klinikschließungen und Personalnot machen uns das Leben schwerer denn je. Ich mag es gern übersichtlich im Kreißsaal, ich bin gern vorbereitet. In einem Dienst mit vielen anstehenden Geburten gibt mir das Sicherheit und Verlässlichkeit, dass im Notfall kein Chaos entsteht. Wenn ich von Kreißsaal zu Kreißsaal springe, bin ich durch meine eigene Ordnung jederzeit handlungsfähig.

Immerhin bin ich verantwortlich und voll haftbar. Eine komplett konträre Arbeitsweise erhöht den Stress und den Druck für mich. Ich möchte und muss mich darauf verlassen können, dass es gemacht wird, wenn ich eine Studentin bitte, schon einmal zur Geburt vorzubereiten oder ein Bett in den Kreißsaal zu schieben. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich irgendwem mein System aufdrücken möchte.

Ich bin in ruhigen Diensten sehr gern dazu bereit, dass unsere Studentinnen sich ausprobieren und nach ihrem eigenen Credo begleiten und betreuen. Ich wünsche mir, dass unsere Kolleginnen erst einmal ihren Fokus auf das Erlernen der Basics legen und dort Sicherheit erlangen, bevor, wie in einem der studentischen Blitzlichter beschrieben, mehr Raum für Individualität und selbstbestimmte Arbeitsweisen gefordert wird. Es kann bereichernd sein, von einem Team und der Vielzahl an unterschiedlichen Betreuungsweisen für sich das Richtige daraus mitzunehmen. Der eigene Weg kommt dann nach dem Examen noch früh genug.

 

Mit Glückshaube

 

Als ich an diesem Morgen mit unserer Studentin über meine Gedanken spreche, beschert uns der gemeinsame Dienst unverhofft doch noch eine sehr schöne Geburt. Eine Erstgebärende klingelt und eröffnet uns, dass sie aus dem Kreißsaal nicht mehr ohne Baby im Arm gehen wird. Das ist mal eine Ansage, wir lachen und das Eis ist gebrochen.

Ich überlasse unserer Studentin sehr gern die Betreuung und halte mich im Hintergrund. Tatsächlich ist der Muttermund bereits dünnsäumige 8 cm geöffnet, die Blase steht und der Kopf ist noch etwas hoch. Die werdende Mutter veratmet die kräftigen Wehen, probiert unterschiedliche Positionen und lässt sich schließlich sichtbar erleichtert in die Gebärwanne gleiten. Die Stimmung ist ruhig und entspannt.

Am Veratmen hört man den Geburtsfortschritt, dieses Kind möchte nun bald kommen. Heimlich und unverhofft prolabiert die Fruchtblase vor den Introitus. Unsere Studentin ist ganz fixiert auf den CTG-Knopf und die wunderbar normale Herzfrequenz. Ich lächle in mich hinein, nur zu gut kann ich mich an meine eigene Ausbildung erinnern und den Versuch einer möglichst lückenlosen CTG-Ableitung. Die Frau ist ganz bei sich. Beinahe lautlos wird der Kopf mit intakter Fruchtblase geboren.

Der werdende Vater ist ganz fasziniert, wir lachen und ich frage unsere Studentin, ob sie beim Rest des Kindes noch helfen möchte oder ob wir es komplett Hands-off kommen lassen. Ein kurzer Augenblick des Realisierens, gefolgt von einer Mischung aus Aufregung und Panik. Handschuhe hat sie ohnehin schon an und hebt gemeinsam mit der Mutter den Sohn durch die Wasseroberfläche auf deren Brust, wo der kleine neue Erdenbürger völlig entspannt die Augen öffnet und zu atmen beginnt.

Im Dienstzimmer muss ich dann herzhaft lachen und beruhige unsere künftige Kollegin, dass alles gut ist und sich Hands-off doch gerade in der Badewanne anbietet. Kein Auslachen, viel eher geht mir das Herz auf, weil ich so an meine eigene Ausbildung denken muss und wie sehr man alles richtig machen wollte.

Der Fokus lag auf dem CTG-Knopf, während das Kind sich beinahe heimlich in die Welt geschmuggelt hat. Die Frau hat ohne jegliche Geburtsverletzungen geboren, im Wasser, ein fittes Kind mit Glückshaube und einer völlig überraschten, großartigen zukünftigen Kollegin! Und einem perfekt abgeleiteten Cardiotokogramm! Besser geht’s nicht. Diese wunderschöne Geburt steht für mich sinnbildlich dafür, wie Ausbildung auch in der Klinik sein kann!

 

Wertschätzung gefragt

 

Meine Bitte ist: Lasst uns reden! Konstruktiv! Wann immer es Not tut! Auch wir haben Päckchen zu tragen und kämpfen mit ähnlichen Widrigkeiten. Ihr habt in vielem Recht, unbestritten muss sich sicher einiges ändern.

Aber es gibt auch Hebammen und Praxisanleiterinnen, die wirklich bemüht sind, euch gut zu begleiten, die euch wertschätzen, denen die gemeinsame Arbeit Spaß macht, die sich verantwortlich für euch fühlen und die gern bereit sind, auch ohne Entlohnung viel in euch zu investieren. Aber auch wir brauchen mal eine wertschätzende Rückmeldung!

Rubrik: Ausgabe 11/2022

Erscheinungsdatum: 27.10.2022