Sterbebegleitung als Hebamme

Am Anfang und am Ende

Als Hebamme Menschen beim Sterben begleiten? Auf den ersten Blick ein konträres Vorhaben. Doch der Beginn und das Ende des Lebens haben mehr Parallelen als gedacht. Die Begleitung in diesen Phasen erfordert ein besonderes Gespür für Bedürfnisse, Empathie und das individuelle Eingehen auf Menschen – genau das, was Hebammen so gut können. Miriam Steinhauer
  • In der Geburtshilfe sorgen Hebammen neben der Erfüllung medizinischer Aufgaben dafür, dass die Gebärende loslassen darf und dabei sicher und geborgen ist. Dies lässt sich auch bei der Sterbebegleitung anwenden.

Viele Menschen überrascht es, wenn sie erfahren, dass ich als Hebamme arbeite und gleichzeitig ehrenamtliche Sterbebegleiterin bin. Sie betrachten es als gegensätzlich, sowohl den Anfang eines Lebens als auch sein Ende zu begleiten. Meine Hebammenkolleginnen jedoch können mein Interesse für die Kombination dieser beiden Tätigkeiten meist gut nachvollziehen. Sie fühlen intuitiv, dass Geburt und Sterben zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen und dass sich viele Kompetenzen einer Hebamme auch für die Begleitung am Lebensende als nützlich erweisen. Die vielschichtigen Erfahrungen mit Menschen in einer der extremsten Lebenssituationen schenken uns Hebammen nicht nur ein besonderes Gespür für die Bedürfnisse anderer, sondern sie lehren uns, empathisch und individuell auf Menschen einzugehen, die Hilfe benötigen.

 

Erkennbare Parallelen

 

Mit zunehmender Zahl an Geburtsbegleitungen werden wir als Hebammen zu Expert:innen in der Deutung komplexer Verhaltensmuster und der Beurteilung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie Paardynamiken. Wir begleiten Frauen aus verschiedenen Kulturen, unterschiedlichen Charakters und sozialen Hintergrunds und erkennen, wie vielfältig sie und auch ihre Partner:innen sich bei der Geburt ihrer Kinder verhalten. Dadurch entwickeln wir eine wachsende Toleranz für Individualität und können uns auch an ungewohnte Situationen immer leichter anpassen. Regelmäßig müssen wir feinfühlig vermitteln und alternative Wege aufzeigen, wenn durch Vorgaben einer sicheren Geburtshilfe den Wunschvorstellungen der Frauen und ihrer Familien Grenzen gesetzt werden. Wir werden herausgefordert, kompensatorisch zu reagieren, wenn wir im Kreißsaal Schwierigkeiten, wie eine mangelnde Fürsorge der Partner:in, erkennen, die den Geburtsverlauf negativ beeinflussen könnten. Letztlich möchten wir den Gebärenden neben der Erfüllung medizinischer Aufgaben immer das Gefühl geben, dass sie sich fallen lassen dürfen und dennoch sicher und geborgen sind.

Es wird deutlich, dass sich die Voraussetzungen für eine kompetente Geburtsbegleitung in weiten Teilen mit denen einer qualifizierten Sterbebegleitung decken. In beiden Situationen finden sich Augenblicke tiefster Emotionalität und Nähe sowie Schmerz und Unsicherheit.

Für die Betroffenen ist es kaum möglich, auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen, so dass sie auf eine sachkundige Unterstützung angewiesen sind. Sowohl die Geburt eines Kindes als auch das Sterben verläuft in Phasen, in denen sich Befinden und Wahrnehmung der Menschen verändern. Dies setzt nicht nur eine gute Beobachtungs- und Anpassungsfähigkeit derjenigen voraus, die sie dabei begleiten, sondern ebenfalls die Fähigkeit, empathisch und gleichzeitig mit dem notwendigen Abstand zu handeln, um medizinische Abläufe nicht zu gefährden. Auch viele der Methoden, die in der Geburtshilfe und Sterbebegleitung zu Zwecken der Entspannung und Schmerzreduktion Anwendung finden – wie Massagen, Aromatherapien und Atemtechniken – ähneln sich.

 

Ein prägendes Erlebnis

 

Schon während meiner Hebammenausbildung habe ich mich mit dem Sterben auseinandersetzen müssen, denn in der Geburtshilfe liegen Leben und Tod traurigerweise manchmal recht nah beieinander. Auch durch Gespräche mit Personal anderer Fachabteilungen kam ich regelmäßig mit den Themen Krankheit und Tod in Berührung.

Meine erste Stelle als examinierte Hebamme besetzte ich in einer Klinik mit nur kleiner geburtshilflicher Abteilung. Jährlich erblickten dort nur etwas mehr als 500 Kinder das Licht der Welt. Wir arbeiteten im Kreißsaal in der Regel allein und suchten während ruhiger Dienste oftmals den Austausch mit den Krankenpfleger:innen der angrenzenden gynäkologischen Station. Gelegentlich halfen wir ihnen bei der Versorgung ihrer Patient:innen, die teils schwer erkrankt waren.

Ich erinnere mich noch gut an einen Nachtdienst, den ich bis in die frühen Morgenstunden am Bett einer krebskranken Patientin verbrachte. Sie wirkte beunruhigt und mit ihren Ängsten und Sorgen alleingelassen. Ich spürte, wie sie unser Gespräch etwas erleichterte und dass sie sich durch eine Massage ihrer Handinnenflächen und eine stresslösende Atemübung ein wenig entspannen konnte. In diesen Stunden erfuhr ich zum ersten Mal, dass ich meine geburtshilflichen Fertigkeiten auch anderweitig einsetzen konnte. Die Vorstellung, irgendwann an beiden Enden des Lebens tätig zu sein, ließ mich seither nicht mehr los.

Es vergingen einige Jahre, in denen ich vom Münsterland ins Rheinland zog, mich beruflich weiterentwickelte, eine Familie gründete. Schließlich aber verspürte ich den Wunsch, meinen lang gehegten Vorsatz in die Tat umzusetzen, und absolvierte den Qualifizierungskurs für die ehrenamtliche Sterbebegleitung.

Nach Erhalt des Zertifikats begleitete ich zunächst Patient:innen auf der Palliativstation eines Krankenhauses und in einem Hospiz meines Wohnorts. Heute bin ich für einen ambulanten Hospizdienst im Einsatz. Ich besuche Sterbende zu Hause und versuche, in einer schweren Zeit für sie und ihre Angehörigen da zu sein und gelegentlich für einen kleinen Lichtblick zu sorgen. Häufig befinden sie sich zum Zeitpunkt unseres ersten Kennenlernens bereits in einer Phase, in der sie ihren nahenden Tod mehr oder weniger akzeptiert zu haben scheinen. Es ist ihnen meist wieder möglich, kleine Momente des Glücks zuzulassen und nicht ununterbrochen an ihre todbringende Krankheit zu denken.

Ihre Erwartungen an mich und unsere Begegnungen sind unterschiedlich. Einigen genügt das Gespräch, das sie an Geschehnissen des Alltags teilhaben lässt oder ihnen die Möglichkeit bietet, sich etwas Belastendes von der Seele zu reden. Anderen gefällt es, mit mir Ausflüge in die nähere Umgebung zu unternehmen, sie erfreuen sich an einem gemeinsamen Essen oder genießen es, vorgelesen oder vorgesungen zu bekommen.

 

Authentische Begegnungen

 

Ich stelle fest, dass es mir, wahrscheinlich schon berufsbedingt, relativ leicht fällt, mich auf unterschiedliche Menschen einzulassen. Ich spüre im Kontakt mit Sterbenden zumeist eine Nähe, wie ich sie ähnlich im Umgang mit Gebärenden erfahre. Die Umstände einer Geburt und des Sterbens lassen Hemmungen und Vorbehalte in den Hintergrund treten, wodurch rasch eine sehr vertraute Atmosphäre entsteht. In beiden Situationen können die Betroffenen ihre Gefühle nur schwer verbergen und so erlebe ich sie hautnah und authentisch. Dadurch gelingt es mir besser, auf ihre individuellen Bedürfnisse einzugehen.

Ich wurde schon einige Male gefragt, ob ich lieber als Hebamme oder als Sterbebegleiterin tätig sein wolle, müsste ich mich entscheiden. Letztlich lässt sich diese Frage schon deshalb kaum beantworten, da sich ein Ehrenamt meiner Auffassung nach schwer mit dem eigentlichen Beruf vergleichen lässt. Ich erachte es als ein Geschenk, diese Auswahl nicht treffen zu müssen, denn gerade in ihrer Kombination und durch ihre unterschiedlichen Facetten erlebe ich sie als ungemeine Bereicherung für mein Leben und als Möglichkeit an Erfahrungen teilzuhaben, die nur wenigen Menschen zugänglich sind.

Der Zauber des Anfangs hat für mich auch nach den vielen Jahren als Hebamme nichts von seinem Reiz und seiner Besonderheit verloren. Ich bin glücklich, den berührenden Moment einer Geburt immer wieder mit den Paaren im Kreißsaal erleben zu dürfen. Doch auch die traurigen Augenblicke, die ich während meiner geburtshilflichen Arbeit erlebe, sind wertvolle Erfahrungen, die mir immer wieder aufs Neue bewusst werden lassen, wie wichtig und unersetzlich unser Beruf ist, der uns befähigt, Halt zu geben, wenn es besonders nötig ist.

 

In Ruhe begleiten

 

In der Ausübung meines Ehrenamts genieße ich besonders die Ruhe. Ich empfinde es als angenehm, mich ausschließlich auf einen einzigen Menschen und seine Situation einlassen zu können, ohne nebenher lästige Routinen, wie Dokumentationen oder Putztätigkeiten, erledigen zu müssen. Ich schätze es, gemeinsam mit den Menschen auf ihr zumeist langes Leben zurückzublicken. Häufig zeigt sich in dieser Retrospektive, was wirklich wichtig ist. Es fällt mir dadurch gelegentlich auch leichter, für mich selbst Prioritäten zu setzen und das Glück im eigenen Leben zu erkennen. Die gleichzeitige Begleitung des Lebensfangs, der Lebensmitte, in meiner Rolle als Mutter, und der des Lebensendes ermöglicht mir einen ganz besonderen Blick, für den ich ausgesprochen dankbar bin.

 

Stetige Selbstreflexion

 

Einige Menschen vermuten, dass es unnötige Ängste schüren könnte, den Tod frühzeitig ins eigene Leben zu integrieren. Dies trifft auf mich nicht zu, denn ähnlich wie bei den Geburten meiner Kinder, in deren Vorfeld ich auch über mögliche Abläufe und Risiken informiert war, beruhigen mich die Erfahrungen aus der Sterbebegleitung im Hinblick auf meinen eigenen Tod.

Ich bin erleichtert, erleben zu dürfen, dass die meisten Menschen auch während ihrer letzten Lebensphase noch Glück empfinden können und dass die moderne Medizin im Großteil der Fälle ein friedvolles Ende ermöglicht. Ich bin davon überzeugt, dass diese Erkenntnisse mir helfen, den Tod als selbstverständlichen Teil meines Lebens zu begreifen und gelassener mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. Die Beschäftigung mit dem Tod und der Tatsache, dass das Leben auch recht plötzlich und unerwartet zu Ende gehen kann, fordert mich stets auf, meine eigene Lebensweise zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern.

 

Füreinander da sein

 

Wenn mir Erlebnisse aus der Sterbebegleitung besonders nahe gehen, hilft es mir, mich mit anderen Ehrenamtlichen auszutauschen oder mit meiner Familie zu sprechen. Anfänglich verspürte ich Hemmungen, meine Kinder mit Themen wie Krankheit und Tod zu konfrontieren, doch schnell merkte ich, dass sie eher offen und neugierig reagierten als verängstigt. Sie interessieren sich für meine Erfahrungen mit den Sterbenden und nehmen Anteil an ihren Schicksalen und Gefühlen.

Gelegentlich wünschen sich die Menschen, die ich begleite, auch mich und meine Familie näher kennenzulernen. Dann kommt es vor, dass ich meine Kinder bitte, mich zu einem Besuch zu begleiten. Sie spüren in der Regel intuitiv, wie sie sich feinfühlig verhalten können und freuen sich, wenn sie feststellen, wie gut ihre kindliche Fröhlichkeit den Kranken tut. Ich finde es förderlich, sie in einem kindgerechten Rahmen an etwas teilhaben zu lassen, das ihnen bewusst werden lässt, wie wohltuend es ist, in einem Miteinander zu leben und füreinander da zu sein.

Durch meinen Beruf als Hebamme und meine Tätigkeit als ehrenamtliche Sterbebegleiterin erfahre ich eindrucksvoll, wie wichtig es ein Leben lang bleibt, sich insbesondere in schwierigen Zeiten begleitet, wertgeschätzt und aufgehoben zu fühlen. Ich spüre, wie jeder einzelne dazu beitragen kann, diese Gefühle zu vermitteln und wie sehr dies auch das eigene Leben bereichern kann.

 

Rubrik: Ausgabe 01/2023

Vom: 22.12.2022