Pränatale palliative Beratung

Chance auf gemeinsame Zeit

Bei pränataldiagnostischen Untersuchungen kommt es nicht selten zur Diagnose einer schweren Erkrankung beim Kind. Die Eltern fühlen sich in einer Entscheidungsnot, da ein schneller Schwangerschafts­abbruch als geläufige Option im Raum steht. Ihnen im Rahmen einer palliativen Beratung ergebnisoffen auch andere Möglichkeiten zu nennen, kann den Blick öffnen. Theresia Rosenberger

Etwa 85 % aller schwangeren Frauen in Deutschland lassen pränataldiagnostische Untersuchungen durchführen. Bei 3 % der untersuchten Feten wird eine schwerwiegende Diagnose festgestellt (Heider & Steger, 2014). Bei den fetalen lebensverkürzenden Diagnosen handelt es sich hauptsächlich um die Trisomien 13 und 18, aber auch um angeborene (inoperable) Herzfehler, Nieren- oder Hirnfehlbildungen wie beispielsweise eine Anencephalie, die eventuell erst beim Zweittrimesterscreening auffallen.

Im Fall einer infausten Prognose werden die Eltern mit vielschichtigen Themen konfrontiert. Neben dem Schock und der Trauer um den Verlust eines gesunden Kindes und mit der Erwartung eines frühen Todes wird von ihnen meist auch eine Entscheidung verlangt, ob und wie die Schwangerschaft weitergeführt werden soll. Ein Schwangerschaftsabbruch erscheint den meisten Fachleuten sowie den Eltern als erste und vermeintlich einfachste Lösung.

Eine Alternative bietet das Weitertragen mit der Option einer palliativen Geburt und der Möglichkeit, einen ruhigen und würdevollen Abschied vom Kind nehmen zu können. Dafür zeigt das Konzept der pränatalen palliativen Beratung gute Alternativen zum Schwangerschaftsabbruch auf und befähigt werdende Eltern, im Rahmen eines gemeinsamen Prozesses dazu, eine für sie langfristig tragbare Entscheidung zu treffen (Blakeley, 2019).

Das Kinderpalliativteam Südhessen konnte mit Hilfe einer Spendenaktion ein eigenständiges Projekt »Pränatale Palliativ­medizin« für die palliative Beratung und Versorgungsplanung vor der Geburt etablieren. Das dreiköpfige Team besteht aus der Kinderärztin und Neonatologin Dr. Silke Ehlers, der Hebamme Theresia Rosenberger und der Teamassistentin und Seelsorgerin Anette Krüger.

Vorgestellt

 

Team »Pränatale Palliativmedizin«

 

Das Team »Pränatale Palliativmedizin« ist als Projekt des Kinderpalliativteams Südhessen 2019 entstanden. Sowohl Beratungen der werdenden Eltern und Versorgungsplanung als auch der Aufbau eines Netzwerks mit Geburtskliniken und allen beteiligten Personen sind im ambulanten Setting keine Leistung der Krankenkassen.
Die Arbeit von Neonatologin Dr. Silke Ehlers, Hebamme Theresia Rosenberger und Teamassistentin und Seelsorgerin Anette Krüger wird ausschließlich durch Spenden finanziert.
2022 wurde das Projekt mit dem Preis der Dr. Wolfgang und Sigrid Berner Stiftung Frankfurt sowie dem 2. Platz des Anerkennungs- und Förderpreises für ambulante Palliativversorgung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin e.V. ausgezeichnet.

 

 

Shared Decison Making

 

 

 

 

Abbildung 1: Multiprofessionelle Begleitung, pränatale Versorgung und palliative Geburt
Abbildungen: © Dr. Silke Ehlers

 

Die Palliativversorgung eines ungeborenen Kindes beginnt bereits vor seiner Geburt. Neben ethischen Aspekten müssen immer auch folgende rechtliche Aspekte im Rahmen der Pränataldiagnostik berücksichtigt werden: Laut § 2a Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) hat die werdende Mutter ein Anrecht auf Beratung und Aufklärung in besonderen Fällen. Daraus resultiert die Hinzuziehungspflicht von Fachärzt:innen, wie beispielsweise Neonatolog:innen, die sich mit der zu erwartenden Erkrankung auskennen.

Im § 15 Gendiagnostikgesetz (GenDG) findet sich auch der Anspruch auf genetische Beratung vor der Durchführung einer pränataldiagnostischen Untersuchung sowie nach einem auffälligen Befund (Krones & Richter, 2008). Leider fehlt vielen werdenden Eltern diese wichtige Information, so dass auch kein umfassendes Beratungsgespräch stattfindet und der Weg oftmals direkt im Schwangerschaftsabbruch endet. Hier besteht dringender Aufklärungsbedarf unter Gynäkolog:innen und Pränatalmediziner:innen.

Es ist erwiesen, dass sich in der Entscheidungsfindung von betroffenen Eltern das Modell des Shared Decision Making bewährt hat – nicht zuletzt um die psychische Verarbeitung und einen gesunden Trauerprozess zu unterstützen, der bereits direkt nach der Diagnosestellung beginnt (Krones & Richter, 2008).

Es wird eine partizipative Entscheidungsfindung angestrebt, die idealerweise in eine gestützt autonome und gut begründete Entscheidung der werdenden Eltern mündet. Hierbei ist der Austausch von Informationen zwischen Fachleuten und Patient:innen, ein gemeinsames Abwägen und gemeinsames Tragen einer Entscheidung unerlässlich. Erstrebenswert ist also eine multiprofessionelle Begleitung (siehe Abbildung 1).

 

Im Dialog

 

Eltern, die sich zum Weitertragen entschieden haben, haben sich auf verschiedenen Wegen an das Kinderpalliativteam gewandt, und ihre Gedanken und Gefühle formuliert.

» Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie immer wieder von einer Entscheidung gesprochen wurde. Wir blickten uns an und ich wusste: Wir werden nichts entscheiden.« (Jessica und Joshua)

Als Beratungs- und Versorgungsangebot Pränatale Palliativmedizin sehen wir uns als Ergänzung der medizinischen und der psychosozialen Beratung. Im Dialog mit der Schwangeren und ihrem Partner oder ihrer Partnerin finden wir in mehreren Beratungsgesprächen heraus, ob und welche Möglichkeiten nach der PND in Frage kommen. Hierbei achten wir besonders darauf, das persönliche Werteverständnis der Eltern zu akzeptieren – gerade kulturelle Unterschiede müssen hier berücksichtigt werden.

Konkret stellen sich bei vermuteter lebensbegrenzender Erkrankung zunächst zwei essenzielle Fragen:

  • Wie sicher ist die Diagnose?
  • Wie sicher ist die Prognose?

Es muss einerseits abgewogen werden, ob die Prognose das Angebot von Palliative Care erlaubt, und andererseits, ob die Entscheidung für eine palliative Geburt im besten Interesse des Kindes ist.

» Auch wenn mit diesem Gedanken klar war, dass ein Abbruch für uns keine Option war, so konnten wir uns die Maximalversorgung ebenfalls nicht gut vorstellen.« (Jessica und Joshua)

Somit müssen betroffene Paare sich zunächst die Frage stellen: Möchten wir die Schwangerschaft fortsetzen oder abbrechen?

An dieser Stelle ist es uns besonders wichtig, den Elternpaaren alle Möglichkeiten wertfrei zu erläutern, alle Fragen ausführlich zu klären und in der ersten Runde ergebnisoffen zu beraten.

 

Mögliche Entscheidungen

Nach der Diagnose einer lebensverkürzten Erkrankung des Ungeborenen:


Schwangerschaftsabbruch

 

  • je nach Schwangerschaftswoche evtl. Fetozid notwendig

Austragen des Kindes

  • mit dem Ziel einer maximalen lebenserhaltenden Therapie/Diagnostik, insbesondere bei unsicherer Prognose
  • Intensivstation mit Möglichkeit der Therapieziel-Änderung zu einem späteren Zeitpunkt

Palliative Geburt

  • Abwarten eines spontanen Verlaufs oder vorzeitige Geburtseinleitung
  • anschließend stationäre Palliativbetreuung im Krankenhaus oder Entlassung mit Überleitung nach Hause in eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV)

Aufnahme in ein Kinderhospiz

 

 

Advanced Care Planning

 

 

 

Abbildung 2: Pränatale Versorgung nach der Diagnose einer lebensverkürzenden Erkrankung

Bei einer sicheren Diagnose gilt es zu entscheiden, ob eine kurative oder palliative Behandlung angestrebt werden soll. Es wird über erwünschte sinnvolle Maßnahmen bei der Geburt gesprochen (beispielsweise Verzicht auf Dauer-CTG, Sectio nur aus mütterlicher Indikation). Soll das Kind postnatal auf der neonatologischen Intensivstation aufgenommen werden oder nicht? Und wenn ja, sollen diagnostische Untersuchungen durchgeführt werden, die mehr Klarheit über die Erkrankung und Prognose des Kindes bringen können? Bis dahin ist auch ein kurativer Ansatz möglich, mit der Option auf Therapieziel-Änderung zu einem späteren Zeitpunkt.

Nach einer Entscheidung zum Weitertragen klären wir gemeinsam mit den Eltern gewünschte beziehungsweise angemessene Maßnahmen bei Komplikationen. Es werden Absprachen mit (zukünftigen) beteiligten Netzwerkpartnern in der Versorgung des Kindes wie Geburtsklinik, Kreißsaal, Kinderklinik, Nachsorge-Hebamme getroffen. Wenn notwendig, treten wir auch mit Sanitätshäusern, Apotheken, Krankenkassen oder niedergelassenen Kinderärzt:innen in Kontakt, um den werdenden Eltern belastende Aufgaben abzunehmen. Alle getroffenen Entscheidungen werden in einem palliativen Geburtsplan schriftlich festgehalten.

 

Gründe zum Weitertragen

 

Welches sind die Gründe zum Weitertragen des Kindes nach in­fauster Prognose? Die erste Säule stellen persönliche Überzeugungen und religiöse Gründe dar:

» Wir konnten und wollten nicht darüber entscheiden, ob Mila leben sollte oder nicht. Wir wussten nur, dass wir Mila ihren Weg gehen lassen wollten.« (Christine und Moritz)

Bei der zweiten Säule handelt es sich um Eltern- und kindzentrierte Gründe:

Die werdenden Eltern wünschen sich möglichst viel Zeit, um das Kind lebend kennenzulernen und ihm einen festen Platz in der Familie geben zu können. Hierbei wird das Kind gewürdigt und in den Mittelpunkt gestellt. Des Weiteren möchten Eltern ihr Zuhause als geschützten ungestörten Raum mit ihrem Baby erleben. Sie möchten ihrem Kind Liebe schenken und für es sorgen, um »ganz normal« Eltern sein zu können – wie die meisten anderen mit einem gesunden Baby.

Hierbei haben sie die Chance, möglichst viele Erinnerungen zu sammeln und festzuhalten. Dadurch erhöht sich die Selbstwirksamkeit der Eltern und sie gewinnen in Zeiten des absoluten Ausnahmezustandes an Kontrolle hinzu.

Zusätzlich zu den genannten Gründen gehört auch das Bestreben, durch das Fortführen der Schwangerschaft Angehörige wie Geschwister und Großeltern besser mit einbeziehen zu können. Somit wird der Verlust, der den werdenden Eltern bevorsteht, besser nachvollziehbar. Alle diese Punkte fördern insgesamt einen gesunden und wichtigen Trauerprozess.

 

Der Weg nach Hause

 

Im Laufe der Beratungsgespräche bekommen werdende Eltern eine Elternmappe ausgehändigt, die unter anderem Listen mit notwendigen Utensilien zur Vorbereitung einer raschen Entlassung nach Hause enthalten – sofern diese gewünscht ist. Auch Informationsmaterial mit konkreten Adressen weiterer Unterstützungsmöglichkeiten sowie Literaturtipps zum Thema früher Kindsverlust finden sich hier.

Direkt vor der Entlassung eines lebensverkürzt erkrankten Kindes ist eine genaue Absprache mit der Klinik zur Planung notwendig, um eine bestmögliche Überleitung in die Versorgung des Kinderpalliativteams durchführen zu können. Dies gewährleistet beispielsweise die Organisation des voraussichtlichen Bedarfs an Medikamenten und Hilfsmitteln für das häusliche Umfeld. Hierfür ist die Ausstellung einer Verordnung spezialisierter ambulanter Palliativversorgung erforderlich (Formular 63). Wir erklären den Eltern die Ruf- und Einsatzplanung im Kinderpalliativteam und händigen alle notwendigen Telefonnummern aus. Falls nicht vorhanden, halten wir ein kleines Starterpaket mit Windeln, Kleidung und Pflegeprodukten vor, das uns von ehrenamtlichen Organisationen gespendet wird.

Eine sozialrechtliche Beratung zur Palliativversorgung gehört ebenfalls dazu, damit eine Überleitung vom Krankenhaus nach Hause bestmöglich gelingt.

 

Checkliste

Die palliative Geburt

 

Peripartal:

  • Partner:in mit aufnehmen
  • Einzelzimmer, nicht auf Wöchner:innen‧station
  • Ruhige Umgebung
  • Kein grelles Licht
  • Wenig Personalwechsel
  • Seelsorge
  • Geburtsplan.

Postnatal:

 

  • Körperkontakt möglichst direkt, möglichst die Eltern
  • Wärme
  • Verzicht auf Monitoring oder invasive Maßnahmen
  • Respektieren der Wünsche der Eltern
  • Selbstbestimmtes Handeln der Eltern fördern
  • Seelsorge
  • Neonatologische Symptomkontrolle.

 

Rubrik: Ausgabe 06/2023

Vom: 24.05.2023