Corona, der erste April – und was das mit uns macht

Die Hebammenzentrale Hannover im März: eine kleine Feier zum einjährigen Bestehen ist in der Planung. Dann kommt Corona – und alles kommt anders. Bericht einer Betroffenen. Christina Aust
  • Direkt mit Beginn der Corona-Krise in Deutschland werden Händedesinfektionsmittel knapp.

Eigentlich. Eigentlich hätten wir am 1. April 2020 unser einjähriges Bestehen der Hebammenzentrale der Region Hannover feiern wollen (siehe auch DHZ 11/2019, Seite 68). Ein paar Tage zuvor hatten wir die freiberuflichen Kolleginnen aus Hannover und der Region eingeladen, am 1. April bei uns in der Hebammenzentrale während ihrer Hausbesuchstouren eine kurze Verschnaufpause einzulegen und sich bei Tee, Kaffee, einem Snack und einem kleinen Plausch zu stärken. Die Resonanz war durchweg positiv. In unserer nächsten Teamsitzung wollten wir den Tag planen. Eigentlich. Dann kam Corona.

 

Fehlende Desinfektionsmittel

 

Im Januar 2020 mehren sich die Meldungen über den Ausbruch und die Verbreitung des neuartigen Corona-Virus SARS-CoV-2 in China, die in einer zunächst chinaweiten Epidemie enden. Die Berichterstattungen verfolge ich mit zunehmendem Interesse. Ende Januar 2020 gibt es den ersten Fall von Covid-19 in Deutschland.

Der Gedanke, dass der Infekt, der durch Covid-19 ausgelöst wird, in meinem Alter und bei meinem Risikoprofil deutlich milder verlaufen soll als eine Influenza, setzt sich in meinen Kopf fest und ich denke zunächst nicht mehr viel darüber nach. Wenn die Grippe wesentlich heftiger sein soll als ein Infekt mit dem Corona-Virus, kann es so schlimm nicht sein.

Das Verdrängen der Gedanken gelingt mir bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich ein paar Tage später versuche, in der Apotheke telefonisch Bestellungen für meine freiberufliche Tätigkeit aufzugeben. Der Apotheker lacht mich fast aus, als ich zwei Flaschen Händedesinfektionsmittel bestelle. Die gäbe es schon seit Tagen nicht mehr und es sei auch nicht absehbar, wann eine Nachlieferung erfolge. Davon hatte ich nichts mitbekommen. Ich recherchiere im Internet und kann es kaum glauben: Die Menschen in Deutschland haben die Desinfektionsmittelvorräte soweit aufgekauft, dass für das medizinische Fachpersonal keine ausreichenden Mengen mehr zur Verfügung stehen. Der Blick in meine Hebammentasche bestätigt meine Befürchtung: Die Flasche ist nur noch halb voll. Und jetzt? Ich bestelle über das Internet bei zwei Händlern Hände- und Flächendesinfektionsmittel. Der eine sendet gleich nach Bestellaufgabe eine Absage, sie nähmen keine neuen KundInnen mehr an. Die andere Bestellung kommt vier Wochen später, als sich die Situation bereits deutlich zugespitzt hat. Aber sie kommt.

In der darauffolgenden Teamsitzung der Hebammenzentrale sprechen wir über das Dilemma der Bereitstellung von Desinfektionsmitteln für außerklinisch tätiges Fachpersonal und entschließen uns, über unseren Newsletter, einen Aufruf zu starten, unter den Kolleginnen Vorräte auszutauschen. Die Koordination würden wir übernehmen. Außer etlichen Anrufen von Kolleginnen, die Sorge haben, wie sie an Desinfektionsmittel kommen könnten, erreicht uns nichts. Die sonst so engagierten Kolleginnen sind ebenso in der Situation gefangen und erste Unsicherheiten sind deutlich zu spüren.

Ich erkundige mich bei der zuständigen Ärztin des Gesundheitsamtes der Region bezüglich eines Notvorrates an Desinfektionsmitteln für uns Hebammen. Der existiert nicht. In einer Krisensitzung sei aber besprochen worden, dass ApothekerInnen auf Basis hochprozentigen Alkoholes selbst Desinfektionsmittel herstellen könnten. Das klingt beruhigend und wird mir von „meinem“ Apotheker auch so bestätigt.

 

Veränderte Arbeitsbedingungen

 

Neben meiner Tätigkeit in der Hebammenzentrale arbeite ich freiberuflich und betreue Schwangere und Wöchnerinnen. Anfang März nehmen die Anfragen im Kontext zum Corona-Virus deutlich zu. Es ist unvermeidbar, sich zu informieren und auf dem neuesten Stand zu bleiben. Die Frauen und Familien möchte ich nicht zusätzlich verunsichern, sie sind es bereits. Ich lese viel im Internet, höre Podcasts und nehme die regelmäßig eintreffenden Meldungen des Berufsverbandes begierig auf. Corona verbreitet sich zeitgleich immer mehr in Deutschland. Die Medien bringen kaum ein anderes Thema.

Mitte März ergeht in Niedersachsen der Erlass, dass Schulen und Kindergärten bis Mitte April geschlossen werden sollen. In der Hebammenzentrale beschließen wir zeitgleich, alle Veranstaltungen wie Netzwerktreffen, Fortbildungen – die in der Zentrale angeboten und sehr gut angenommen werden – bis auf weiteres abzusagen. Wir hoffen, durch diese Maßnahme die Verbreitung des Virus zu verlangsamen.

Immer mehr sind es nicht nur die Frauen und Familien, die bei der Hebammenzentrale anfragen, sondern auch die verunsicherten Kolleginnen. Niemand möchte sich anstecken und schon gar nicht den Familien Corona ins Haus schleppen.

Die Unsicherheiten wachsen, die Informationen für uns Hebammen sind lange teils lückenhaft und unzureichend. Besonders im Bereich der Hygiene und des Infektionsschutzes gibt es etliche Fragen. Wir reagieren darauf und versenden Newsletter, in denen wir Informationen zu Corona weiterleiten und die Hebammen auffordern, noch solidarischer untereinander zu sein als sowieso schon üblich. Wir werden uns gegenseitig in den kommenden Wochen zunehmend unterstützen müssen. Auf der Internetseite der Hebammenzentrale informieren wir über das Virus, entsprechende Hilfsangebote und Fachinformationen für die Hebammen-Kolleginnen.

 

Solidarität

 

Mitte März sind etwa 150 der Hebammen aus Hannover und Region bei uns registriert. Eigentlich wollten wir im April noch einmal verstärkt Akquise betreiben, um weitere Kolleginnen zu gewinnen. Eine Neuerung im Angebot der Hebammenzentrale ist ein Vertretungssystem. Kolleginnen können sich für einzelne Tage oder Zeiträume nur für Vertretungen zur Verfügung stellen. Dies wurde zunehmend gut angenommen, sowohl von den Kolleginnen, die sich dafür anboten, als auch von denen, die nach einer Urlaubs- oder Krankheitsvertretung suchten.

Es zeichnet sich zu dieser Zeit immer mehr ab, dass die Infektionsfälle mit dem Corona-Virus in den nächsten Wochen deutlich ansteigen sollten. Mittlerweile dürfen sich alle BürgerInnen in der Öffentlichkeit nur noch eingeschränkt und wenig bewegen und so wenig Kontakt zu anderen haben wie möglich. Es ist absehbar, dass auch die Hebammen in Quarantäne gehen werden. Es bedarf einer Regelung für den Fall, dass nur noch wenige Hebammen arbeitsfähig sein werden.

Daher setzen wir drei Kolleginnen uns ans Telefon und sprechen mit den noch nicht bei uns registrierten Kolleginnen und bitten um Kooperation. Wir bemühen uns, keine Panik zu verbreiten oder mehr Ängste zu schüren, wenn wir darum bitten, uns vor allem in der jetzigen Situation zu solidarisieren. Jeder ist klar, dass wir uns jetzt noch solidarischer zeigen müssen. Viele haben inzwischen Existenzängste, da sie nur noch eingeschränkt arbeiten dürfen und können, und keine weiß, wie die kommenden Wochen und Monate sich auf unseren Verdienst im Rahmen der Freiberuflichkeit auswirken werden.

 

Fehlende Schutzausrüstung

 

Bei den Gesprächen mit den Hebammen gibt es immer ein Thema: die fehlende Schutzausrüstung. Kaum eine von uns Freiberuflerinnen hat die geforderten Mund-Nasenschutze, Schutzkittel, Schutzbrillen oder Kopfbedeckungen in ihrem Vorrat. Zu bekommen ist all dies über den freien Handel schon lange nicht mehr. Wie sollen wir arbeiten, wenn Corona da ist? Mittlerweile ist es sogar schwierig, an Handschuhe zu kommen. Auch führt es zu großer Verunsicherung, dass es bundesweit keine einheitlichen Handlungsanweisungen für uns außerklinisch tätigen Hebammen für den Infektionsfall im Bereich Hygiene und Schutzmaßnahmen gibt. Das geben die jeweiligen Gesundheitsämter der Länder und Kommunen vor, an die wir die Kolleginnen verweisen. Die Gesundheitsämter sind die übergeordneten Dienststellen und für uns Freiberuflerinnen in diesen Fällen Ansprechpartner. Auch das Robert Koch-Institut und die Internetseiten des Deutschen  Hebammenverbandes (DHV) geben Informationen an die Kolleginnen weiter.

Die Hygieneempfehlungen verändern sich im Laufe der Wochen. Ein von mir betreutes Paar erlebt diese über die Wochen mit: die Besuche werden kürzer, die Abstände größer. Wir verlegen uns auch auf Telefongespräche. Als ich an einem Tag mit Einmalhandtüchern und einer kleinen Tasche, die nur Desinfektionsmittel, Handschuhe und meine Säuglingswaage enthält, zu ihnen komme, nimmt der Vater mich zur Seite und fragt: „Jetzt wird es richtig schlimm, oder? Du hast deinen Koffer nicht mehr dabei.“ Ich beruhige ihn, erkläre ihm den Grund meines Vorgehens und frage mich innerlich, wie es werden wird, wenn ich eventuell in voller Schutzkleidung zu ihnen fahren muss. Nach dem Besuch desinfiziere ich am Auto meine Arbeitsmaterialien und merke, wie unzufrieden ich mit dem bin, was ich aktuell nur leisten kann – und so gerne anders machen würde.

Von der Hebammenzentrale aus starten wir einen Aufruf an die Kolleginnen: Wer hat noch Schutzausrüstung und könnte teilen? Uns ist schon bei Verbreitung des Aufrufes klar, dass wir vermutlich keine Antworten bekommen werden. Und so ist es auch. Der DHV ist engagiert, Schutzkleidung für Hebammen über die Bundesregierung zu organisieren. Hoffentlich wird das zeitnah passieren.

Die Kliniken in der Region wappnen sich für den Ernstfall, für die Versorgung etlicher Corona-Infizierter. Und wir? Können wir dann geschützt arbeiten, wenn die ersten Wöchnerinnen und Schwangeren infiziert und/oder in Quarantäne sind? Wir sind als medizinisches Fachpersonal verpflichtet, die Versorgung im Rahmen unseres Behandlungsvertrages fortzusetzen, solange wir selbst nicht erkrankt oder in Quarantäne sind. Das Nutzen der Schutzkleidung bei der Betreuung von infizierten Frauen oder Frauen, die sich in Quarantäne befinden, wird also unvermeidbar sein.

 

Hilfsangebote und Unterstützung

 

Die Sorgen und Ängste der Menschen wandeln sich in meinem Arbeitsfeld aber auch in Unterstützung, Hilfe und Solidarität. Manchmal stehe ich freudig-fassungslos der Situation gegenüber, als zum Beispiel ein frischgebackener Vater anruft und mir zehn Liter Desinfektionsmittel für die Hebammen schenken möchte, die er in seinem Betrieb entbehren kann. Er hätte mitbekommen, dass wir Hebammen mit der Beschaffung Probleme haben. Ich kann zwei Familien, die ich als Nachsorgehebamme betreue, dazu verhelfen, Windelpakete auszutauschen, weil sie keine passenden mehr im Supermarkt erhalten können. Ebenso ist es kein Problem, Säuglingsnahrung für eine verzweifelte Mutter über eine andere zu bekommen, die vor leeren Supermarktregalen steht. Geld fließt keines. Es ist spürbar, dass sich viele jetzt bedingungslos unter die Arme greifen – auch dann, wenn sie sich gar nicht persönlich kennen.

In der Hebammenzentrale wächst die Nachfrage nach Kooperation, Vernetzung und Vertretungswünschen. Die Menschen rücken näher zusammen, wenn auch nicht räumlich in diesen Tagen.

So hoffen wir, dass wir „nach Corona“ im Spätsommer oder Frühherbst das nachholen können, was wir uns für Anfang April vorgenommen haben: eine kurze Verschnaufpause bei Tee, Kaffee, kleinem Snack und Austausch – dann hoffentlich gemeinsam wieder an einem Tisch, in direktem Kontakt. Und dann werden wir noch ein bisschen mehr feiern. In dem Fall dann nicht nur das fast eineinhalbjährige Bestehen der Hebammenzentrale der Region Hannover.

Rubrik: Ausgabe 05/2020

Vom: 23.04.2020