Schwanger auf der Flucht in Corona-Zeiten

Die Krise hat sich noch verschärft

Lebensschützende und lebensrettende Gesundheitsdienste für Schwangere, Mütter und Kinder unter fünf Jahren werden während der Covid-19-Pandemie weltweit zurückgefahren. Ein Grund ist die Ausrichtung der begrenzten Personalressourcen auf die Pandemiebekämpfung. Auch psychische Extrembelastungen und erlebte soziale Diskriminierung führen bei geflüchteten Frauen zu höheren Schwangerschaftsrisiken. Melanie M. Klimmer
  • Mitte September 2020: Frauen verharren im Schatten ihrer notdürftigen Behausung nach den Bränden im Flüchtlingscamp von Moria auf der griechischen Insel Lesbos.

  • Schwangere Geflüchtete aus Côte d’Ivoire mit Ehemann im sogenannten Ankerzentrum im unterfränkischen Geldersheim im Juli

Der Anteil der Schwangeren an den geflüchteten Frauen auf den europäischen Mittelmeerouten wird von humanitären Organisationen, wie Ärzte ohne Grenzen, auf bis zu 30 % geschätzt. Wie Geert Ates, Geschäftsführer des Europäischen Advocacy-Netzwerks gegen Nationalismus, Rassismus und Faschismus UNITED for Intercultural Action mitteilte, sind im Mittelmeer zwischen 2014 und 2020 mindestens 46 schwangere Frauen auf der Flucht ertrunken. Viele weitere Fälle bleiben unbekannt. »Schwangere Frauen, die übersetzen, sind häufig auf hochseeuntauglichen Schlauchbooten zusammengepfercht«, so Sophie Weidenhiller, Sprecherin der Hilfsorganisation Sea-Eye, Regensburg, gegenüber der Women Under Siege-Journalistin Sara Cincurova (WMC 2020). – Das Projekt Women Under Siege ist eine unabhängige Initiative des Women’s Media Center (WMC), das Vergewaltigung und genderbasierte Gewalt als Mittel der Kriegsführung und bei Völkermord dokumentiert. Viele Frauen seien dehydriert, unterernährt, physisch und mental völlig erschöpft. – Immer wieder kommt es auf Flüchtlingsbooten zu vorzeitigen Geburten, auch Mehrlingsgeburten.

 

Frauenspezifische Fluchtgründe

 

Ende 2019 waren weltweit 79,5 Mio. Menschen auf der Flucht (UNHCR 18.6.2020). Wenn Frauen in ihren Herkunftsländern mit konventionellen, weiblichen Rollenmustern, Sittenregeln und rigiden Rechtsnormen in Konflikt geraten oder bewusst ein politisches Statement dagegen setzen, werden sie häufig mit unverhältnismäßigen Strafen konfrontiert. Frauen erleben nicht nur frauenspezifische Verfolgung, zum Beispiel durch weibliche Genitalbeschneidung, Versklavung, Zwangsverheiratung, Vergewaltigung als Kriegswaffe, Zwangsprostitution, Menschenhandel und anderem. Frauen fliehen, ebenso wie Männer und minderjährige Kinder und Jugendliche, vor den massiven Eindrücken von Krieg, Terror, politischer Inhaftierung, Folter, körperlicher und sexualisierter Gewalt, Geiselnahme oder Gefangenschaft oft in ihrem Heimatland und auch auf der Flucht. Häufig sind die Staaten, aus denen Frauen fliehen, selbst in Menschenrechtsverletzungen verwickelt oder zeigen sich nicht willens genug, Schutzgesetze in ausreichendem Maße zu entwickeln und gegen Missbrauch zu verteidigen.

Die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats (UNSCR 2000) stärkt den Schutz von Frauen vor sexualisierter Kriegsgewalt (Prävention und Protektion), die höhere Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen (Partizipation) und die Strafverfolgung der Täter (Penalisation). Die UNSCR-Resolution 1820 »Women and Peace and Security« vom 19. Juni 2008 bezeichnet erstmals Vergewaltigung als Kriegstaktik und Kriegsverbrechen. Erst seit 2007 gilt in Deutschland auch die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe als anerkennenswerter Asylgrund. Der Nachweis bleibt jedoch schwer: Frauenspezifische Fluchtgründe sind schambesetzt, tabuisiert, häufig schwer nachzuweisen und reichen tief in soziale und kulturelle Ungleichheiten hinein.

 

Höhere Schwangerschaftsrisiken

 

Bibi Gol war mit vier Kindern und ihrem Ehemann aus Afghanistan geflohen und mit Zwillingen schwanger, als sie versuchte, mit dem Schlauchboot von Canakkale in der Türkei nach Lesbos überzusetzen. Sie und andere Frauen und Kinder wurden mit Angelrouten geschlagen und belästigt, wie sie Sara Cincurova berichtete. Türkische Polizisten hätten sie drei Mal gewaltsam an der Überfahrt gehindert. Erst beim vierten Versuch gelang es der Familie, Lesbos zu erreichen. Durch den erheblichen Stress verlor die 40-jährige Afghanin eines ihrer ungeborenen Kinder. Das zweite Kind kam zu früh zur Welt und musste drei Wochen lang intensivmedizinisch betreut werden.

Geflüchtete Frauen haben häufiger Schwangerschaftskomplikationen, so die Hebamme MSc Marina Weckend (2020). Es komme häufiger zu Gestosen, Mangelversorgung im Mutterleib, Frühgeburten und Fehlgeburten, zu Fehlbildungen bei Neugeborenen und einer höheren Aufnahmerate auf Neugeborenen-Intensivstationen. Die Sterblichkeit von Mutter und Kind sei höher, so die deutsche PhD-Studierende an der Edith Cowan University in Perth, Australien.

ForscherInnen der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie der Universität für Gesundheitswissenschaften der türkischen Hafenstadt Derince, Ausbildungs- und Forschungskrankenhaus Derince, Provinz Kocaeli, stellen zudem häufiger ein niedriges Geburtsgewicht bei Neugeborenen geflüchteter Frauen fest (Turkay et al. 2020).

 

Beschränkter Zugang zu Gesundheitsdiensten

 

»Auf der Flucht haben Frauen weniger bis keinen Zugang zum Gesundheitssystem. Dadurch können Komplikationen oft nicht rechtzeitig erkannt, Früh-, Fehl- und Totgeburten weniger gut verhindert werden«, so die Diplom-Psychologin mit Schwerpunkt Kulturen, Migration und psychische Krankheit Dr. Maria Belz, Göttingen, im Interview. »Zusätzlich kommen eine erhöhte psychosoziale Stressbelastung, eine schlechtere Nahrungsversorgung und die unhygienischen Zustände hinzu, so dass normale Schwangerschaftsrisiken zusätzlich erhöht werden.«

Die Belastungen aber von geflüchteten Schwangeren und Müttern wirken sich unmittelbar auf die Familiengesundheit als Ganzes aus. »Die Babys geflohener Mütter gehen durch die Hölle noch bevor sie diese Welt betreten«, so Sophie Weidenhiller von Sea Eye (WMC 2020). Auch die PartnerInnen fühlen sich oft hilflos, weil sie nicht wissen, wie sie ihren Frauen in dieser Situation helfen sollen. »Die Mehrzahl der Frauen ist an irgendeinem Punkt auf ihrer gefährlichen Reise vergewaltigt worden, berichtet das frühere Crew-Mitglied des Rettungsschiffs Alan Kurdi. »Das transgenerationale Trauma, das von diesen Müttern erfahren wird, wird für kommende Generationen schlimme Folgen haben. Ihre Kinder leiden oft unter chronischen Gesundheitsproblemen, die Folge von Stress und Vernachlässigung sind.«

 

Hoffnung – trotz aller Gefahr

 

»Die Überfahrt war die Hölle«, berichtet auch Zeinab Nourzehi (WMC 2020). Die 28-jährige Afghanin war mit ihrem ersten Kind im sechsten Monat schwanger, als sie mit ihrem Ehemann Pejvak von Izmir aus mit dem Schlauchboot nach Lesbos aufbrach. – Sie machte sich keine Gedanken über die Lebensgefahr auf See, die Push­backs, die miserablen Lebensbedingungen in den Camps oder die rassistischen Übergriffe, die sie auf Lesbos erwarten könnten und von denen so häufig berichtet wird. «Alles, was ich heute will, ist, für meine kleine Tochter ein anständiges, würdevolles Leben aufzubauen«, so Nourzehi.

15.000 Menschen waren es 2020, die auf der östlichen Mittelmeerroute ihr Leben auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland oder Zypern auf diese Weise riskierten. 10.000 Menschen waren es, die wie die allein reisende, 24-jährige Minette aus Kamerun über die westliche Mittelmeerroute von Marokko zum spanischen Festland oder auf die Kanaren flohen (WMC 2020). Minette war im vierten Monat schwanger, als sie 2013 vor ihrem gewalttätigen Ehemann flüchtete. Ihre schwangere Freundin erlitt bei der Überfahrt nach Spanien eine Fehlgeburt. Alle bereits gekauften Babykleider hat sie ihr weitergegeben.

 

Tabelle 1: Herkunftsländer und Art der Begleitung von Frauen auf der Flucht [ohne separate Angaben zum Anteil schwangerer Frauen; Mehrfachnennungen möglich; Daten aus strukturierten, muttersprachlichen Interviews mit geflüchteten Frauen (n=663) aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak, Somalia und Eritrea aus verschiedenen Regionen in Deutschland (Jesuthasan J. et al. 2018)]

 

Alleinreisende Frauen besonders gefährdet

 

»Viele Frauen, welche die Risiken einer Flucht auf sich nehmen, werden schwanger«, so Lauren Wolfe (WMC 2015). »Jede einzelne Frau, die ich im Rahmen meiner Reportage traf, berichtete mir von Vergewaltigungen bei der Durchquerung des afrikanischen Kontinents, durch Libyen und über das Mittelmeer nach Italien – sie deutete dies an oder hatte es bei anderen beobachtet.« 24.000 Menschen nahmen 2020 die zentrale Mittelmeerroute von der Nordküste Afrikas (Libyen) nach Italien und Malta. »Alle Frauen, die sich auch nur für kurze Zeit in Libyen aufhielten oder dort festgenommen wurden – auch Männer – sprachen über erlebte oder beobachtete Vergewaltigungen, Schläge, Folterungen bis hin zu Schüssen. Jede einzelne Frau.«

»Alleinreisende Frauen sind ungeschützter und werden häufiger Opfer sexualisierter Gewalt – neben den traumatisierenden Erfahrungen, die sie – genauso wie Männer – treffen können, wie Versklavung, Folter oder Lösegelderpressung«, so Belz. Rund 87 % der Frauen mussten sich auf der Flucht SchmugglerInnen anvertrauen (Jesuthasan et al. 2018).

 

Tabelle 2: Traumatische Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht

 

Weniger Aufmerksamkeit für Schwangere

 

Wie schon bei anderen Epidemien, wurden aufgrund der Sars-CoV-2-Pandemie weltweit das Gesundheitspersonal zur Behandlung und Notfallversorgung von Covid-19-PatientInnen abgezogen und Gesundheitsdienste umgestellt. Bei Epidemien werden so »wesentliche, primäre und reguläre Gesundheitsservices vernachlässigt«, wie die Weltgesundheitsorganisation bereits vor mehr als zwei Jahren feststellte (WHO 2018). Spezielle Bedürfnisse von Schwangeren treten aus zum Teil massiver Angst vor Ansteckung, Mangel an qualifiziertem Personal und geeigneter Schutzausrüstung und wegen Falsch- und Desinformation in den Hintergrund. Auch Diskriminierungen im Ankunftsland im Rahmen der Nutzung von Gesundheitsleistungen werden von Geflüchteten häufig beschreiben – trotz Diskriminierungsverbots in Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Fürsorgeauftrag in Artikel 23 der Genfer Flüchtlingskonvention, Geflüchteten die gleiche Behandlung zu gewährleisten, wie eigenen Staatsangehörigen.

Augenzeugenberichten zufolge werden schwangere Flüchtlingsfrauen auf der griechischen Insel Lesbos bei Wehen-Eintritt ohne ein negatives Covid-19-Testergebnis von der Ambulanz nicht ins Krankenhaus gebracht. Unter diesen Umständen soll es am 11. September 2020 in einem Park in der Stadt Mytilene zu einer Geburt unter freiem Himmel gekommen sein, wie der deutsche Flüchtlings- und Obdachlosenarzt Prof. Dr. med. Gerhard Trabert aus Moria auf Lesbos berichtete (Facebook, 12.9.2020). Auch berichtete der diplomierte Sozialarbeiter aus Mainz von einer anderen geflüchteten Frau, die wenige Tage nach dem Brand in der Nacht zum 9. September 2020 keine Kindsbewegungen mehr gespürt habe.

»Auch in Deutschland lassen sich Zugangsbarrieren erkennen«, so Belz. »Im August erst gab es wieder einen solchen Fall, bei dem eine Schwangere in einer Erstaufnahmeeinrichtung eindeutige Beschwerden zeigte und dann während einer Wartezeit von mehreren Wochen bis zum gynäkologischen Sprechstundentermin eine Fehlgeburt erlitt.« – Solche Berichte stehen im Widerspruch zum UN-Sozialpakt Artikel 12 Absatz 2 Satz 1, Senkung der Zahl der Totgeburten und der Kindersterblichkeit, und Satz 4, Sicherstellung der medizinischen Versorgung und Betreuung.

 

Indirekte Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Gesundheit

 

Clara Menéndez, seit 2008 Wissenschaftlerin und Professorin am Institut für Globale Gesundheit (ISGlobal) in Barcelona und als Spezialistin für Mütter-Kind-Gesundheit und reproduktive Medizin im Bereich Infektionskrankheiten Gründungsmitglied eines Gesundheitsforschungszentrums in Manhiça, Mozambique, hat mit ihren KollegInnen anhand dreier Szenarien zur Dauer der Pandemie die indirekten Folgen der Sars-CoV-2-Maßnahmen auf die Mutter-Kind-Gesundheit in Niedriglohnländern und Ländern mit mittlerem Einkommen untersucht. Das Forschungsteam schätzt, dass es bei einer Verringerung wesentlicher Mutter-Kind-Gesundheitsdienste im Zuge der Maßnahmen gegen Sars-CoV-2 um etwa 45 % über einen Zeitraum von sechs Monaten in diesen Staaten zu 1.157.000 zusätzlichen Todesfällen bei Kindern unter fünf Jahren und 56.700 zusätzlichen Todesfällen bei Müttern kommen wird. Ihr Fazit: Die indirekten Auswirkungen der Covid-19-Maßnahmen wären weitaus gravierender für die Mutter-Kind-Gesundheit als das Virus selbst (Menéndez et al. 2020).

Wichtige Angebote im Bereich der Schwangerenvorsorge, der Familienplanung, der professionellen Geburtsbegleitung sowie wesentliche Versorgungsketten in der Unterstützung geflüchteter Frauen werden vielerorts unterbrochen, ersatzlos zurückgedrängt oder vernachlässigt. Auch die Verteilung von »First-Aid-Kits« im Bereich der reproduktiven Gesundheit geflohener und von Krieg betroffener Frauen – zum Beispiel spezielle Notfallkits nach Vergewaltigung oder Kontrazeptiva – ist unter Corona-Bedingungen nicht mehr überall sichergestellt, da der Zugang für Hilfsorganisationen an vielen Stellen erschwert ist.

 

Postmigrationsstress

 

Bei schwangeren Frauen können nach der Flucht dieselben peri- und postpartalen, psychischen Belastungsstörungen auftreten, wie bei nicht geflüchteten Frauen. Zusätzlich besteht ein erhöhtes Risiko für fluchtbedingte psychische Belastungen. Geflohene Frauen, die nach ihrer Flucht für unbestimmte Zeit in provisorischen Lagern und Sammelunterkünften untergebracht sind, leiden nicht selten – bedingt durch Exil- und Diskriminierungserfahrungen, die Trennung von der Familie oder schlechte Wohnverhältnisse – besonders häufig unter Postmigrationsstress.

Die Prävalenz für eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) liegt bei frauenspezifischen Traumata mit 50 % nach Vergewaltigung, Kriegs-, Vertreibungs-, Folter- und als Folter wahrgenommenen Traumata (zum Teil auch bei weiblicher Genitalbeschneidung) am höchsten. Im Durchschnitt leiden etwa 40 % der geflüchteten Männer, Frauen und Kinder an einer PTBS (Gäbel et al. 2006). Betroffene Frauen zeigen – unmittelbar nach einem kritischen Ereignis und auch um Jahre verzögert – typische Symptome wie Flashbacks, partielle Amnesie und Intrusionen, das heißt sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das traumatische Ereignis; Übererregungssymptome mit Schlafstörungen, erhöhter Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen; emotionale Taubheit verbunden mit sozialem Rückzug und Vermeidungsverhalten hinsichtlich traumaassoziierten Triggern.

 

Gesundheit für Körper und Seele

 

ForscherInnen der Charité – Universitätsmedizin Berlin um Dr. med. Meryam Schouler-Ocak, Professorin für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, haben 639 aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak, Somalia, Eritrea und Äthiopien geflüchtete Frauen zwischen 17 und 69 Jahren befragt, von denen 39 % in Berlin, 18 % in Nürnberg, 16 % in Rostock und jeweils 13 % in Frankfurt/Main und Mainz leben (Charité-Studie, Schouler-Ocak et al. 2017). Die Leitende Oberärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus und Leiterin des Fachbereichs Interkulturelle Migrations- und Versorgungsforschung und Sozialpsychiatrie konnte mit ihren Kolleginnen zeigen, dass das Risiko, an einer PTBS und/oder an einer Depression zu erkranken, mit 56 % bei geflüchteten Frauen über 35 Jahre und mit 69 % bei geflüchteten Frauen über 45 Jahre sehr hoch liegt (Schouler-Ocak et al. 2017). 55 % der befragten Frauen leidet an körperlichen, 40 % an seelischen Beschwerden. Aber nicht einmal jede sechste Frau nimmt tatsächlich Hilfe in Anspruch.

»Die Rückgewinnung der Autonomie über den eigenen Körper ist [für Geflüchtete] ein wesentlicher Schritt in Richtung Normalität«, so die Psychologin und Psychotherapeutin Barbara Preitler an der Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt, Abteilung für Sozialpsychologie, Ethnopsychoanalyse und Psychotraumatologie (2010). »Der überlebende Mensch darf und kann wieder bei sich selbst zu Hause sein. Das gesamte Spektrum körperlicher Empfindsamkeit steht wieder zur Verfügung und ist nicht mehr nur auf Schmerzen reduziert.«

 

Betrayal-Traumata

 

Gewalt gegen Frauen werde nicht nur als Machtmittel der Boko Haram, der Al-Shabaab-Miliz und anderer Terrorgruppen genutzt, so Belz. »Angehörige von Militärs und UN-Friedenstruppen nutzen ihre privilegierte Stellung ebenfalls aus.« – Immer wieder berichten Frauen auch von sexualisierter Gewalt durch Ärzte und anderes medizinisches Gesundheitspersonal, Polizisten und Grenzschützer. Hierbei handelt es sich um besonders tiefgreifende Erfahrungen des Ausgeliefertseins und des Vertrauensmissbrauchs (Betrayal-Traumata, betrayal, englisch: Verrat), da die Taten von Personen begangen werden, denen Menschen in Not solches niemals zugetraut hätten. Die persönliche Selbst- und Weltwahrnehmung wird tief erschüttert. – Bleibt die Antwort auf eine körperliche und seelische Versehrung wider Erwarten aus oder wird von Menschen, denen man es niemals zugetraut hätte, sogar direkte oder indirekte Gewalt ausgeübt, wird damit auch unwiederbringlich eine wesentliche, rettende, innere Stütze genommen, in die man zuvor sein ganzes Leben gelegt hat (vgl. Améry 1988, S. 45).

Frauen, die aufgrund von Vergewaltigung, Folter und Misshandlung um Hilfe bitten, haben noch das Vertrauen, dass es Menschen gibt, die sie unterstützen werden und in der Not nicht alleine lassen. Misstrauen gegenüber der Arbeit von Hebammen und anderem, medizinischem Personal sollte souverän mit Verlässlichkeit, Möglichkeiten der Partizipation für die schwangere Frau und Wöchnerin, empathischer Beratung, solider Information und wertfreier Unterstützung beantwortet werden.

 

Positive Mutter-Kind-Bindung

 

Eine starke Ablehnung des Kindes oder eine postnatale Depression sind bei geflüchteten Frauen nach Vergewaltigung nicht selten. »Es gibt schwangere Frauen, die trotz widerfahrener sexueller Gewalt eine gute Bindung zum Kind aufbauen können«, so Belz. »Ein gutes Beispiel dafür ist eine junge Mutter, die stark belastet war und mir erzählte, dass ihr Sohn die ›wichtigste Kraft in ihrem Leben‹ sei. Da kann man nur staunen, wie resilient Bindung auch sein kann. Meist ist es so, dass das aus einer Vergewaltigung hervorgegangene Kind an das Erlebte immerzu erinnert.«

»Die psychosoziale Versorgung der Frauen ist in der Ankunftsphase kaum existent«, berichtet Hannah Zanker, Psychologische Leiterin des Modellprojekts »SoulTalk« in der Ankunfts- und Rückführungseinrichtung für AsylbewerberInnen im unterfränkischen Geldersheim. Seit 2017 bietet das ANKER-Zentrum mit anfänglicher Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen und unter Federführung des St. Josef-Krankenhauses in Schweinfurt geflüchteten Frauen und Männern eine erste psychosoziale Unterstützung in ihrer Muttersprache an. Dann kam die Corona-Pandemie, und das Angebot musste auf digitale Messenger-Dienste und Apps zurückgefahren werden.

 

Besonderem Schutzbedarf gerecht werden

 

Mit dem sogenannten »Friedländer Modell«, das 2012 in Göttingen entwickelt und durch das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V. (NTFN) auf weitere Standorte ausgeweitet wurde, können Traumatisierungen früher erkannt und die besondere Schutzbedürftigkeit schon in einer Erstaufnahmeeinrichtung identifiziert werden (Thomsen 2019). »Seit 2015 gibt es nun in Niedersachsen ein Schutzkonzept für Frauen, welches auf ministerialer Ebene beschlossen wurde«, so Belz. »Es sieht unter anderem das rechtzeitige Erkennen einer Schutzbedürftigkeit, die sorgfältige Auswahl von SprachmittlerInnen und Sicherheitspersonal, eine gute Zusammenarbeit mit der Polizei, bauliche Maßnahmen, die Sensibilisierung und regelmäßige Schulung des Personals auf allen Ebenen, Gewaltprävention und feste Abläufe bei Gewaltvorkommnissen vor.«

Rubrik: Ausgabe 12/2020

Vom: 17.12.2020