Dokumentarfilm

Gretas Geburt

»Ein Kind ist gestorben. Nichts ist wie vorher«, so der Untertitel des neuen Dokumentarfilms von Katja Baumgarten. Der Film handelt von einem Gerichtsfall nach dem Tod eines Kindes bei seiner Geburt. Die Filmemacherin hat den Schwurgerichtsprozess beobachtet und zehn Jahre lang immer wieder die Hebamme und Ärztin gemeinsam mit der Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen begleitet. Die Geburtshelferin hatte die außerklinische Geburt des verstorbenen Mädchens betreut. Einmalig bis dahin, dass im anschließenden Gerichtsprozess nach 59 Prozesstagen das Urteil »Totschlag« lautete. Was war geschehen? Elisabeth Niederstucke
  • Die Geburtshelferin bei einem Gerichtstermin zur Verkürzung ihrer Haftstrafe.

Nachdem 2008 ein Kind bei seiner außerklinischen Beckenendlagengeburt gestorben war und seine Geburtshelferin dafür rechtlich verantwortlich gemacht wurde, sprachen wir in der Redaktion der Deutschen Hebammen Zeitschrift viel darüber. Wir reflektierten auch den juristischen Prozess, zumal die Angeklagte eine beliebte Autorin der DHZ war. Sie hatte durch ihr breites Wissen zur Physiologie der Geburt und die Hausgeburtshilfe einige lesenswerte Artikel geschrieben.

Als dann ab 2012 der Prozess am Landgericht in Dortmund begann, fuhr meine Kollegin Katja Baumgarten hin, um den ersten Prozesstag mitzuverfolgen. Die Stimmung und das Geschehen im Gericht zogen sie derart in den Bann, dass sie auch an den folgenden 58 Prozesstagen dabei sein wollte.

 

Umfassende Gerichtsreportage

 

Katja Baumgarten berichtete in einer 16-teiligen Gerichtsreportage von der Prozessaufnahme bis zur Urteilsverkündung in akribisch-beobachtenden Beiträgen. Ihr Sohn Nikolaus reiste fortan mit nach Dortmund, um im Gerichtssaal zu zeichnen.

Seine Illustrationen boten in den Berichten ein professionelles Mittel, um die Personen und die Stimmung im Gericht einfangen zu können, wo Fotografieren oder Filmen verboten war, höchstens mal in einer gestellten Situation. Eine solche ist auch im Dokumentarfilm zu sehen und mutet wie ein Theaterspiel an. Doch was geschehen ist, ist traurige Wirklichkeit.

Und diese ist nun auch im Dokumentarfilm »Gretas Geburt« zu verfolgen. Ich habe ihn direkt zweimal gesehen und werde ihn sicherlich nochmal anschauen. Was den Film auszeichnet ist das, was ich in den Gerichtsreportagen schon faszinierend fand: der nüchterne, wertungsfreie Blick auf das Prozessgeschehen und die involvierten Personen. Im Film wird das geschriebene Wort der Autorin teils zum gesprochenen Wort der Filmemacherin, die Zeichnungen werden zum dokumentarischen Illustrationsmittel. Sie durchziehen den Film, wenn es darum geht, die Personen im Gericht zu zeigen. Deren Handeln, Denken und Urteilen wird von der Filmemacherin in Form einer dokumentarischen Erzählung beschrieben.

 

»Der absolute Horror«

 

Die Eingangsszene zeigt die Hebamme und Ärztin, die über ihr Ringen um das Leben des kleinen Mädchens spricht. »Das ist natürlich für jede Geburtshelferin der absolute Horror.« Sie beschreibt, wie das Mädchen leblos zur Welt kam. Wie sie es nicht hatte reanimieren können und parallel den Notarzt gerufen hatte. Wie sie alle nichts mehr hatten tun können.

Szenenwechsel: Nebel über einem See, alles nur schemenhaft sichtbar. Dann wird die Stimme der Filmemacherin zum ersten Mal hörbar: »Im Juni 2008 wird ein kleines Mädchen geboren. Leblos.« Sie erzählt vom Ausgangspunkt des Dramas, das sich in besagtem Sommer im Zimmer eines Hotels im Ruhrgebiet abgespielt hatte. Von hier spannt sie den Bogen zum vier Jahre später im August 2012 begonnenen Gerichtsprozess, in dem die Eltern der kleinen Greta als Nebenkläger aufgetreten waren, bis hin zur Verurteilung.

 

Szenenwechsel

 

Der Film wechselt zwischen Gesprächen mit der Geburtshelferin, mit der Kamera aufgenommen Szenen vor dem Gerichtssaal, den Zeichnungen aus dem Gerichtssaal und Naturszenen an einem See in Hannover. Der See war für die Filmemacherin zum Refugium geworden. Dort konnte sie das Erlebte in ihrem Gartenhaus nach den Prozesstagen verarbeiten, es verschriftlichen für die Artikelserie, beziehungsweise in der Tonspur aufgreifen und später den Dokumentarfilm schneiden.

Die Untermalung ihrer Gedanken durch die Naturszenen am See oder bei Fahrten durch die Landschaften bei Sonnenaufgang auf dem Weg zwischen Hannover und Dortmund wirkt manchmal in gewisser Weise erlösend, beispielsweise nach beklemmenden Gesprächen mit der Geburtshelferin.

Besonders erleichternd ist das zu spüren nach einem Gespräch mit der Verurteilten, die ihre Gefängnisstrafe schließlich in Berlin absitzt. Zu sechs Jahren und neun Monaten Haft war sie verurteilt worden. Sie berichtet bei einem Besuch der Filmemacherin im Gefängnis davon, wie sie die Haft wahrnimmt und was sie dabei erlebt. Man hat das Gefühl, sie will das Beste aus dieser Zeit machen. Sie erzählt, dass sie in einer kleinen Gefängnisbibliothek zur Ruhe kommt, weil sie dort auch mal für sich sein kann.

In anderen Gesprächen zeigt sich auch deutlich, worum die Gedanken der Geburtshelferin ununterbrochen kreisen: die Frage, woran Greta während ihrer Geburt gestorben ist.

Das Gericht hatte ihr auf diese Frage keine plausible Antwort geben können, auch wenn es zu einem minutiös untermauerten Urteil gekommen war. Die Verurteilte hatte die Urteilsbegründung auf 436 Seiten jedoch nicht als ihre Wahrheit anerkennen können – vor dem Hintergrund, was sie gesehen hatte, was sie aus früheren Steißgeburten kannte sowie aufgrund ihres eigenen Wissens und ihrer Sicht auf die Untersuchungsbefunde der Gutachter:innen. Sie fühlte sich durch manche böse Unterstellungen in dem Urteil gar nicht gesehen.

Einmal ist die Kamera auf einen Tümpel gerichtet. Ihn überziehen grüne Wasserlinsen. Die Filmemacherin spricht dabei über ein Detail der Anklage: Mekonium. Ist das Kindspech ein Zeichen für eine pathologische Entwicklung im Falle einer Steißgeburt oder doch physiologisch? Das Gericht hatte an dieser strittigen Frage einen großen Teil seiner Urteilsbegründung aufgehängt.

Für die Betrachter:innen des Films dürfte es hilfreich sein, ein gewisses Fachwissen mitzubringen. Oder jedenfalls ein Interesse an der Geburtshilfe und ihren unterschiedlichen Ausrichtungen.

 

Die Angeklagte wird zu sechseinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt.

Filmstill: Nikolaus Baumgarten/viktoria11.de

Der Mekoniumabgang wird jedenfalls vom Gericht als deutliches Zeichen einer pathologischen Geburtsentwicklung gewertet. Folgt man einer Szene, in der die Geburtshelferin ihre eigene Fachliteratur studiert, ist das allerdings anders zu bewerten. Und auch die Filmemacherin trägt in ihren Worten vor, was einschlägige Geburtshilfelehrbücher in diesem Fall sagen. Wer hat Recht? Das ist die große Frage in diesem Film, die sich immer wieder auch in den Details rund um das geburtshilfliche Fachwissen zeigt.

 

Zwei Welten

 

Der Film öffnet zwei Sichtweisen auf die Geburt. So wird deutlich, dass die Hausgeburt anderen Regeln folgt als eine Geburt im Kreißsaal. Im Prozess sei jemand mit Fachwissen über die Hausgeburtshilfe nicht unter den Sachverständigen vertreten gewesen, der Hauptgutachter habe die Geburt aus dem Blickwinkel des Klinik-Geburtshelfers beurteilt, so eine Aussage der Hebamme und Filmemacherin in ihrer dokumentarischen Filmerzählung.

Katja Baumgarten ist selbst 30 Jahre als Hausgeburtshebamme tätig gewesen. Ihr war die Geburtshelferin bereits im Jahr 2000 bei einem Kongress zur Hausgeburtshilfe begegnet, der sie fasziniert hatte, erzählt sie im Film. Sie hält den dort erlebten Geist in einer Szene fest: Die Protagonistin sitzt an einem Gartentisch und sortiert Fotos von ihrer Arbeit in den 1970er Jahren in ihrer eigenen Praxis im Ruhrgebiet. Manche Bilder landen im Papierkorb, andere betrachtet sie länger, kommentiert sie und bewahrt sie auf: Die Bilder zeigen die Geburtshelferin in ihrer Praxis, wie sie dort Frauen, Partner:innen und Geschwisterkinder empfangen und begleitet hat. Auf einem Foto tastet sie den Bauch einer Frau mit versonnenem Blick in die Ferne, während das Geschwisterkind die Mutter umarmt. Als Zuschauerin wünsche ich mir in dem Moment, dass die Szene anhält. Mit diesem Foto – im Film herangezoomt in der Hand der Geburtshelferin – wird mir klar, was deren Arbeit als Hebamme und Ärztin ausgezeichnet hatte: Sie bot Frauen und ihren Familien einen Schutzraum für die Schwangerschaft, teilweise auch für Geburten in ihrer eigenen Praxis, und auch für die Zeit danach.

Das alles galt so lange, wie alles gut gegangen war. Sie selbst spricht aus, dass sich durch einen einzigen Fall alles wenden kann. Im Film wird sichtbar und fühlbar, was sich dann auftut. Und wie sich der ganze Blick verändert auf einen Menschen und sein Handeln, wenn ihm das passiert.

Und dann zeigen sich auch im Film Dinge, die mir als Betrachterin Unbehagen bereiten: Die Geburtshelferin spricht in einer beklemmenden Szene nach der Verurteilung darüber, dass sie sich dem deutschen Rechtssystem nicht mehr zugehörig fühle. Sie fühlt sich verfolgt, zu Unrecht bestraft. Man spürt, wie sie durch den Prozess zur Getriebenen wird. Man erkennt sie so nicht wieder. Auch das wird im Film gezeigt – und nicht bewertet.

 

Die Ärztin und Hebamme Anfang der 1990er Jahre
Filmstill: © Holger Krull/viktoria11.de

 

Ermittelnde im eigenen Fall

 

»Gretas Geburt« ist als dokumentarische Filmerzählung auch ein Drama. So wie die Hebamme und Ärztin, die die Totgeburt begleitet hat, es anfangs formuliert hatte: der Horror.

Faszinierend und erschütternd zugleich ist, wie sie ihren Blick auf ihre Fallgeschichte richtet. Sie bleibt wie eine Kriminologin eine Ermittelnde in ihrem eigenen Fall im Versuch, ihre Unschuld zu beweisen. Sie scheint manchmal wie dissoziiert von ihrer eigenen Geschichte, für die sie die Verantwortung trägt und für die sie büßen muss. Sie erscheint bei aller Verzweiflung wie außen vor, wenn sie zum Gericht geht. Sie erklärt es in einem Gespräch mit ihrer »Schüchternheit« durch das ihr unbekannte Geschehen.

Doch deutlich wird durch den teils retrospektiven Blick des Filmes, dass sie das Kind nicht wollte sterben sehen, was bei Totschlag mit bedingtem Vorsatz angenommen wird. Sie bleibt eine Suchende unter der sie bedrängenden Frage, was vor nunmehr fast 15 Jahren geschehen ist: woran die kleine Greta gestorben ist.

Wie die Verurteilte die dramatischen Szenen nach der Totgeburt beschreibt, als sie den Eltern das Kind nicht mehr in die Arme legen sollte, weil die Kripo bereits da war, macht deutlich, dass das Kind für sie in diesem Drama zu seinen Eltern gehörte. Die Eltern hätten es im Arm halten sollen, um sich verabschieden zu können. Dieses im Grunde professionelle Vorgehen wirkt im Film mit Blick durch das Urteil »Totschlag« fast gespenstisch. Man erfährt im Film schrittweise tiefgreifende Ereignisse aus der Biografie der verurteilten Ärztin und Hebamme. So hat sie einen erwachsenen Sohn mit einer Behinderung. Er kam als extremes Frühgeborenes zur Welt. Berührende Szenen mit Fotos von einer Handvoll Leben in den Händen der Mutter kurz nach der Geburt ihres Kindes machen deutlich, wofür sie damals und bis heute Sorge trägt. Dass sie für dieses Leben gekämpft hat, bis es bleiben konnte, ist eben auch Teil ihrer Biografie.

 

Daten zum Film

 

»Gretas Geburt. Ein Kind ist gestorben. Nichts ist wie vorher.«
Deutschland, 2023; 96 Minuten
Regie: Katja Baumgarten
Kamera: Gisela Tuchtenhagen, Katja Baumgarten
Gerichtszeichnungen: Nikolaus Baumgarten

Filmvorführungen:
DokFest in München, www.dokfest-muenchen.de
Alle Vorführungen mit anschließendem Gespräch mit der Regisseurin

  •  5.5. Premiere| 20.30 Uhr City Kinos | City 2 Sonnenstraße 12a, 80331 München, 089 591 918
  • 10.5. | 16.00 Uhr Neues Rottmann Kino, Rottmannstraße 15, 80333 München, 089 521 683
  • 11.5. | 20.30 Uhr Bellevue di Monaco Müllerstraße 2, 80469 München
  • 12.5. | 18.00 Uhr Gasteig HP8 – Halle E Hans-Preißinger-Str. 8, 81379 München, 089 48 098 215

Deutscher Hebammenkongress, Berlin

 

  • 15.5. | 15.45 Uhr. Anschließende Diskussion mit Katja Baumgarten
     

Weitere Informationen: www.gretas-geburt.de

 

 

Resümee

 

Der Film hat mich ergriffen und hängt mir noch immer nach. Zu sehen, wie der Tod des Mädchens für mehrere Menschen eine schwere Lebenskrise bedeutet, ist bewegend. Jede Geburt kann mit dem Tod enden, doch ist das selten in unserer zivilisierten Welt mit ihrer Vorsorge- und Hochleistungsmedizin. Und trotzdem gibt es das. Ich habe über Schicksal nachgedacht, über das, was im Leben geschehen kann, ohne dass wir es vollständig im Griff haben. Über Lebensrisiken und wie wir damit umgehen. Dass wir bei allem Fortschritt mit Restrisiken leben müssen, dass es immer wieder Unerklärbares gibt – auch in einem Hebammenleben – das hat der Film mir deutlich gezeigt. Am Ende steht für mich eher Demut als Verurteilung. Und die Erkenntnis, dass Hebammen und Geburtshelfer:innen – natürlich immer im Sinne der Sicherheit von Mutter und Kind – eine frauenzentrierte Betreuung anbieten müssen. In der Sorge, es könnte etwas schiefgehen, steht so viel auf dem Spiel.

Hebammen und Geburtshelfer:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen, Verteidiger:innen und Gutachter:innen – alle, die mit Geburten befasst sind und im Fall der Fälle zu einem Urteil kommen oder damit weiterleben müssen – sollten den Film sehen, aber auch Eltern, Seelsorger:innen, Ethiker:innen und Wissenschaftler:innen.

 

Rubrik: Ausgabe 05/2023

Vom: 25.04.2023