Beckenbodentraining in der Schwangerschaft

Paradigmenwechsel

Oft wird dem Beckenboden erst in der Zeit nach der Geburt des Kindes aktive Beachtung geschenkt – nämlich dann, wenn er Probleme bereitet. Warum kann sich ein gezieltes Training schon in der Schwangerschaft positiv auf die Geburt und den Zeitraum danach auswirken? Ulla Henscher
  • Abbildung 1: Aufbau der weiblichen Beckenbodenmuskulatur (mit freundlicher Genehmigung durch die AG GGUP)

Grundsätzlich lassen sich Risikofaktoren für den Beckenboden durch Sport und gezieltes Beckenbodentraining minimieren. Körperliche Aktivität und Sport in der Schwangerschaft wirken sich positiv auf Mutter und Kind aus. So weisen Babys von Frauen, die sich während der Schwangerschaft fit hielten, ein höheres Geburtsgewicht auf (Bisson et al., 2013). Zusätzlich sinkt die Rate der Kaiserschnitte und der operativen Geburtsbeendigungen (Syed et al., 2021). Außerdem wurde beobachtet, dass Wöchnerinnen sich rascher erholen und seltener eine postpartale Depression entwickeln (Vargas et al., 2019).

Hingegen kann wenig Bewegung in der Schwangerschaft die Gesundheit des Kindes negativ beeinflussen. Beispielsweise erhöht sich die Veranlagung für Diabetes Typ 2 beim Kind (Davenport et al., 2018).

Internationale Leitlinien empfehlen gesunden Schwangeren mindestens 150 Minuten moderate bis körperlich anstrengende Aktivität (Ausdauer- und Krafttraining) an mindestens drei Tagen pro Woche (Mottola et al., 2018). Vor der Schwangerschaft körperlich aktiven Frauen wird empfohlen, ihre Aktivität in einer physiologischen Schwangerschaft beizubehalten.

Es ist wichtig zu wissen, dass Übungen mit einer Annäherung des Brustbeins zum Bauchnabel in Rückenlage (zum Beispiel Sit-ups) den Druck in Richtung Beckenausgang leiten. Das führt zu einer Absenkung des Blasenhalses, auch dann, wenn der Beckenboden dabei angespannt wird (Baessler & Junginger, 2017). Insbesondere für einen geschädigten Beckenboden sind diese Übungen nicht zu empfehlen.

 

Beckenboden in der Schwangerschaft

 

Schon in der Frühschwangerschaft verändert sich die Organposition nach kaudal (Chan et al., 2013; Shek et al., 2012) und die Beckenbodenkraft sinkt (Resende et al., 2012; Kocaöz et al., 2013). Verantwortlich hierfür ist die hormoninduzierte Veränderung im Beckenbindegewebe. Der weibliche Musculus (M.). levator ani ist mit bindegewebigen Spalträumen durchsetzt, die sich unter Hormoneinfluss lockern (Fritsch & Fröhlich, 1994). Deshalb ist die Beckenbodenkraft geringer als vor der Schwangerschaft.

 

Abbildung 2: Vergleich zwischen männlichem und weiblichem M. levator ani

Abbildung: © AG GGUP

Hartnäckig hält sich die Vorstellung, ein kraftvoller Beckenboden, wie zum Beispiel bei Reiter:innen, habe eine protrahierende Wirkung auf den Geburtsverlauf. Aus diesem Grund ist gezieltes Beckenbodentraining in der Schwangerschaft immer noch umstritten.

Dem Wahrheitsgehalt dieser These ging eine norwegische Forscher:innengruppe um Kjell A. Salvesen und Siv Morkved in ihrer Studie nach. Sie untersuchte 301 Erstgebärende, unterteilt in eine Trainingsgruppe (148) und eine Kontrollgruppe (153). An einem strukturierten Beckenbodenübungsprogramm von 60 Minuten Länge, angeleitet von einer Physiotherapeutin, nahmen die Schwangeren der Trainingsgruppe einmal wöchentlich über einen Zeitraum von zwölf Wochen (zwischen der 20. und 36. Schwangerschaftswoche) teil.

Zusätzlich sollten die Schwangeren zweimal täglich acht bis zwölf Mal intensiv ihren Beckenboden anspannen. Zum Zeitpunkt der Geburt wurde in beiden Gruppen die Dauer der Eröffnungs- und der Austrittsphase in Minuten gemessen. Die Austrittsphase gilt ab 60 Minuten Dauer als verlängert.

Die Ergebnisse der Studie widersprachen der oben genannten These. In der Trainingsgruppe war der Anteil der Geburten mit einer verlängerten Austrittsphase (> 60 Minuten) geringer als in der Kontrollgruppe. Die durchschnittliche Dauer der Austrittsphase war in der Trainingsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe unwesentlich verkürzt (40 versus 45 Minuten). Die Dammschnittrate fiel bei den trainierten Frauen etwas geringer aus. Die Rate an operativen Geburtsbeendigungen durch Vakuumextraktion oder Forzeps war in beiden Gruppen identisch.

Die Forscher:innen führen ihre aussagekräftigen Ergebnisse in der Trainingsgruppe auf eine verbesserte Muskelkontrolle und eine gestärkte Beckenbodenmuskulatur in der Schwangerschaft zurück.

 

Auswirkungen der vaginalen Geburt

 

Eine große Kohortenstudie bezifferte die Inzidenz der Harninkontinenz sechs Monate post partum mit 20,7 % (Wesnes et al., 2017). Die klinische Diagnose einer geburtshilflichen Analsphinkterverletzung (Obstetric Anal Sphincter Injury = OASI) wird mit einer großen Spannbreite von 1–11 % der vaginal gebärenden Frauen angegeben (Dudding et al., 2008). Die Inzidenz eines Levator-ani-Muskeltraumas (LAM) variiert ebenfalls stark und liegt nach einer vaginalen Geburt bei 13–26 % (Kearney et al., 2006; Dietz & Lanzarone, 2005).

Neben einer verkürzten Geburtsdauer senkt das regelmäßige Beckenbodentraining die Wahrscheinlichkeit für eine peripartale Inkontinenz (Morkved et al., 2003; Johannesson et al., 2021; Schreiner et al., 2018) und sollte zukünftig fester Bestandteil in jeder Schwangerschaft sein. Durch das Beckenbodentraining in der Schwangerschaft verändert sich weder der errechnete Geburtstermin, noch steigt die Komplikationsrate während der Geburt.

 

Beckenboden-Check als Grundlage

 

Grundlage einer differenzierten Behandlung von Beckenbodendysfunktionen ist die vaginale und bei Bedarf auch rektale Untersuchung einer darauf spezialisierten Physiotherapeutin.

 

Abbildung 3: Pessartherapie für ein eigenständiges Beckenbodentraining

Abbildung: © AG GGUP

Mittels Inspektion und Palpation, inklusive des Muskelfunktionstests nach dem Oxford Grading (Punktesystem) und dem PERFECT-Schema (siehe Tabelle), lässt sich der Beckenboden in Ruhe und unter Belastung bewerten. Es wird beurteilt, ob die Beckenbodenmuskulatur korrekt kontrahiert werden kann und welche Muskelkraft bei den verschiedenen Kraftqualitäten entwickelt wird. Auf Basis der Untersuchung erarbeitet die Therapeutin personalisierte Übungen, deren Erfolge im Re-Test überprüft werden.

Die Frau erhält anhand dieser Untersuchung ein Feedback über ihre Fähigkeit, den Beckenboden gezielt anzuspannen und bewusst zu entspannen. Gleichzeitig werden beim Untersuchen Lageveränderungen der Vaginalwände und des Perineums in Ruhe und unter Belastung ertastet und mit einem Handspiegel eventuell auch der Patientin sichtbar gemacht. Im Re-Test lässt sich durch Palpation eine Veränderung des Muskeltonus beurteilen.

Aber auch Hebammen können peripartal ein Feedback über die korrekte Anspannung des Beckenbodens geben.

 

Diagnostik mittels Ultraschalls

 

Die Beckenbodensonografie ist ein bildgebendes Verfahren, das mittels Schallwellen Organe und Muskelgewebe im Becken darstellt. Mit dem abdominalen und perinealen funktionellen Ultraschall sind Muskelkontraktionen und deren Auswirkungen, zum Beispiel auf die Organposition, sofort für Patientin und Therapeut:in sichtbar. Mit seiner Hilfe können Patientinnen auf dem Bildschirm erkennen, wo und wie ihre Aktivität Bewegungen im Becken verursacht.

Die Ultraschalldarstellung kann auch im Stehen durchgeführt werden, um den Einfluss der Schwerkraft und der Körperhaltung auf die Positionen der Organe zu beurteilen und für die Patientin zu visualisieren. Das Üben der Präkontraktion unter Sichtkontrolle sorgt für ein schnelles Verstehen der Zusammenhänge und bietet die Möglichkeit, so effektiv wie möglich stabilisieren zu können (Shobeiri & Junginger, 2015).

Die Anleitung der Patientin ist mithilfe des »Funktionellen Ultraschalls« wenig invasiv und sehr effektiv (Dietz, 2017). Eine Verlaufskontrolle ist schnell und einfach durchzuführen. Die Sonografie des Beckenbodens ersetzt nicht die vaginale Palpation, sonders ergänzt diese (Volleyhaug et al., 2019). Die Untersuchungsmethode der Sonografie kann abdominal auch bei der Beurteilung einer Rektusdiastase angewendet werden.

Praxistipps

 

Kommunikation als Schlüssel

 

Die Praxis zeigt, dass folgende Instruktionen zum Beckenbodentraining die größten Erfolge ‧bezüglich ihrer Verstehbarkeit erzielten (Charlanes et al., 2021):

  • Den Anus verengen oder kontrahieren (besser als »Vagina ‧verengen oder Perineum kontrahieren«).
  • Den Wunsch, zu urinieren, zurückhalten.
  • Den Wunsch, Stuhlgang zu entleeren, zurückhalten.
  • Winde zurückhalten.
  • Oder anatomisch und funktionell kombiniert, zum Beispiel:
  • Den Anus verengen, wenn man Winde oder Stuhl zurückhalten möchte.
  • Das Perineum kontrahieren, als ob man Urin zurückhalten möchte.
  • Welche Instruktionen werden am besten umgesetzt, wenn Frauen ‧ihre Beckenbodenmuskulatur bisher nicht korrekt aktiviert haben? (Kandadai et al., 2015)
  • Die Muskeln rund um die Vagina verengen, als ob Sie Urin halten möchten.
  • Die Muskeln verengen, als ob Sie Wind zurückhalten möchten.
  • Die Muskeln der Vagina um meinen Finger herum verengen.
  • Die Muskeln der Vagina nach innen und oben verengen.

 

 

Pessartherapie

 

Kommt es zu Absenkungen der Gebärmutter oder der Blase in Verbindung mit einer neu manifestierten Harninkontinenz in der Schwangerschaft oder durch vorangegangene vaginale Geburten, kann es hilfreich sein, ein stützendes Hilfsmittel (Pessar) tagsüber oder in belastenden Situationen selbst einzusetzen und zu tragen. Es gibt Würfel-, Schalen- und Ringpessare, die ärztlich angepasst und verordnet werden können (siehe Abbildung 3).

 

Drei Phasen

 

Ein stufenweiser Aufbau der Muskelkraft kann in der Geburtsvorbereitung oder Schwangerschaftsbetreuung vermittelt werden. Nach der Geburt gelten die gleichen Prinzipien. Im Sitzen lassen sich die Beckenbodenbewegungen am besten erlernen. Sie können danach in allen anderen Körperhaltungen und bei Alltagsaktivitäten durchgeführt werden.

Erste Phase

In der ersten Phase geht es um die Fähigkeit, die Muskeln differenziert ansteuern, aktivieren und modulieren zu können (kurz und stark, lang und zart). Nach einer traumatischen vaginalen Geburt ist es wichtig, sich die Aktivität der Beckenbodenmuskeln intensiv vorzustellen. Besonders relevant ist die Fähigkeit, den Harnröhrenbereich, die Scheide und den After anspannen zu können. Da sich die Beckenbodenmuskulatur in einem von Scham behafteten Bereich des Körpers befindet, sollte zunächst einfühlsam die richtige Arbeits- und Funktionsweise der Beckenbodenmuskulatur, auch über Bildmaterial, vermittelt werden.

Die Schwangere muss ein sicheres Gefühl für das »Anspannen«, also das Anheben und Zusammenziehen (Schnüren) sowie für das »Entspannen« dieser zarten Muskelgruppe entwickeln. Es kann ihr helfen, mit Visualisierungsübungen ein »inneres Bild« dieses Bereichs zu bekommen. Untersuchungen zeigen, dass viele Frauen nicht in der Lage sind, auf Anhieb ihren Beckenboden anzuspannen. Stattdessen werden die Bauchmuskeln oder Gesäßmuskeln aktiviert. Eine leichte Beckenbodenkontraktion sollte ohne sichtbare Bauch- und Gesäßmuskelbeteiligung erfolgen.

Der richtige Übungsauftrag ist wichtig, um zu verstehen, welcher Bereich genau aktiviert werden soll (siehe Kasten).

Zweite Phase

Die zweite Phase bezieht sich auf die Zunahme der Muskelmasse, die nur über das Aufbringen einer Intensität von 60–80 % der Maximalkraft erreicht werden kann. Damit verbessert sich die Muskelkraft und die Ausdauerfähigkeit. Ein regelmäßiges Training sollte an zwei bis drei Tagen pro Woche mit einer Pause von 48–72 Stunden zwischen den einzelnen Trainingseinheiten über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten durchgeführt werden.

Dritte Phase

In der dritten Phase soll die Beckenbodenspannung in das tägliche Leben integriert werden. Die Frau lernt, die Beckenbodenanspannung und -entspannung gezielt einzusetzen. Zum Beispiel ist es sinnvoll, den Beckenboden vor und während einer intraabdominalen Druckerhöhung (zum Beispiel beim Husten, Niesen, Heben) als »Sicherheitsgurt« anzuspannen .Insbesondere bei einer leichten Belastungsinkontinenz hat sich die bewusste Anspannung des Beckenbodens (»the knack«) vor und bei einer Belastung als inkontinenzmindernd erwiesen (Ashton-Miller& DeLancey, 1996; Miller et al., 1998).

 

Und wenn die Blase drängelt?

 

Das kurze, kraftvolle Anspannen bei vorzeitigem Harndrang kann peinliche Erlebnisse verhindern. Die Beckenbodenspannung bewirkt ein Nachlassen der Kontraktion der Blasenmuskulatur und die Toilette kann trocken erreicht werden (Shafik & Shafik, 2003).

Das funktionelle Beckenbodentraining und sportliche Aktivitäten in der Schwangerschaft sind nachweislich eine Möglichkeit, Inkontinenz zu verhindern oder zu verbessern, und fördern eine komplikationsarme Geburt. Das Erlernen der korrekten Anspannung der Beckenbodenmuskulatur ist dafür eine wichtige Voraussetzung und sollte kontrolliert werden.

Bei peripartalen Dysfunktionen sollten Physiotherapeutinnen mit einer speziellen Qualifikation herangezogen werden (siehe Li

Rubrik: Ausgabe 05/2023

Vom: 25.04.2023