Autismusspektrumstörungen

»Wenn sie doch mit mir kuscheln würde …«

Wenn Eltern etwas an ihrem Kind »komisch« finden, ist es immer ein Anlass, dem sofort nachzugehen. Autismusspektrumstörungen sind angeborene, meist erst mit drei Jahren diagnostizierte schwere und komplexe Entwicklungsstörungen. Sie beeinträchtigen die soziale Interaktion, Sprache und Kommunikation. Die Entwicklungsdiagnostik birgt Chancen und Risiken, wie ein Fallbeispiel aus der Entwicklungspsychologischen Beratung zeigt. Dr. Dagmar Brandi
  • Babys mit Autismusspektrumstörungen leiden oftmals unter Reizüberflutung. Diese ist offenbar schwerer zu ertragen als körperlicher Schmerz.

Seit die Mutter vor einem halben Jahr wieder begonnen hat zu arbeiten, wird die 18 Monate alte Eli gemeinsam mit acht Kleinkindern tagsüber von zwei Tagesmüttern in einer Wohnung betreut. Eli ist ein absolutes Wunschkind, obgleich die Eltern unsicher waren, ob sie es schaffen würden, gute Eltern zu werden, weil sie selbst in ihrer Kindheit weder Geborgenheit noch Schutz kennengelernt hatten.

Eli war ein sehr unruhiges Baby und hat in den ersten drei Monaten viel geschrien. Sie ließ sich nicht trösten, schlief schlecht und ließ sich schlecht füttern. Die Eltern sind oft an ihre Grenzen gekommen. Seit einigen Wochen traten neue Verhaltensauffälligkeiten auf, die sie so beunruhigten, dass sie eine Beratungsstelle aufsuchten. Eli versuchte, sich nicht mehr nur mit Schreien durchzusetzen, sondern haute mit dem Kopf gegen die Wand und biss sich in die Hand. Nachts wachte sie häufig auf und ließ sich nicht beruhigen. Die Eltern waren zunehmend gereizt und gerieten in einen Paarkonflikt.

In der Entwicklungspsychologischen Beratung wurde den Eltern das Wissen darüber vermittelt, was für ein Kind in Elis Alter an Selbstregulation und Autonomie zu erwarten wäre. Anhand von Videobeobachtung in der Interaktion von Eli mit ihren Eltern konnten sie die Perspektive des Kindes wahrnehmen und fanden Lösungsansätze, wie sie Eli in ihrer Regulation unterstützen können. Beide Eltern zeigten feinfühliges Verhalten, solange sie selbst sicher waren. Elis Schreien tagsüber und die nächtliche Unruhe verbesserten sich. Doch das selbstverletzende Verhalten triggerte bei den Eltern schwierige Kindheitserinnerungen. Sie gerieten in Streit über das Thema und suchten Unterstützung beim Kindertherapeuten.

 

Die Untersuchungssituation

 

Eli ist ein sehr niedliches, sanftes Kleinkind – eher verträumt wirkend. Sie ist auf ihre Mutter bezogen, spielt aber gern allein. Auf Ansprache reagiert sie verzögert, den Blickkontakt sucht sie kaum. Der Mutter gibt es einen Stich ins Herz. Sie liebt Eli und wünscht sich nichts mehr, als dass Eli mit ihr kuschelt. In der Untersuchungssituation werden beide Eltern gebeten, mit Eli zu spielen.

Den Vater ignoriert sie nahezu. Er bezieht das auf sich und ist gekränkt. Seine Frau wirft ihm vor, sich nicht ausreichend einzubringen. Er folgt der Aufforderung und spielt Ball mit Eli. Die Kleine wird quicklebendig, als der Ball rollt. Eli ist das Spiel mit ihrem Vater nicht so wichtig wie der Ball selbst. Sie zeigt ihre Erregung, indem sie mit den Händen wedelt. Ihr Vater möchte sich einbringen, nimmt ihr den Ball weg und rollt ihn ihr zu. Eli schreit wie aus heiterem Himmel, wirft sich hin und schlägt mehrfach mit der Stirn auf den Boden. Die Eltern stürzen hinzu und nehmen das schreiende, um sich schlagende Kind hoch und sagen: »Sehen Sie, das meinen wir! Sie tut sich doch weh! Warum macht sie das?«

Gemeinsam besprechen wir, was wir erlebt haben. Wir vermuten, dass Eli bei starken Gefühlen in einen Erregungszustand kommt, der sich wie eine Glocke über sie legt. Wenn sie dann angesprochen wird, ist sie überfordert. Ihr fehlt es offenbar an der Fähigkeit, rechtzeitig zu merken, wenn jemand etwas von ihr möchte. Wenn es ihr zu viel ist, kann sie sich nicht selbst regulieren. Die Reizüberflutung ist offenbar unangenehmer zu ertragen als körperlicher Schmerz. Weder Berührung, Trösten noch gut Zureden können ihr helfen, sondern scheinen es für sie noch unerträglicher zu machen. Eli geht aus jedem Kontakt.

Für die Eltern ist das sehr frustrierend. Ausgerechnet sie haben ein Kind, das sich bei Stress gegen jegliche soziale Interaktion wehrt! Wie sehr hätten sie sich beide in ihrer eigenen Kindheit gewünscht, liebevoll gehalten zu werden. Elis Eltern haben in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen gemacht und reagieren unbewusst ängstlich auf das Schreien und Um-sich-Schlagen ihrer Tochter. In dem Zustand eskalieren die hilflose Wut der Eltern und das selbstverletzende Verhalten des Kindes. Der Teufelskreis kann nur mit Hilfe von außen durchbrochen werden.

Die Kinderärztin sagt: »Auch wenn wir uns das nicht vorstellen können, gibt es Kinder, für die in manchen Situationen alle Gefühle – sogar die der tröstenden Eltern – zu anstrengend sein können.« Das entlastet die Eltern, die immer den Fehler in ihrem eigenen Verhalten gesucht haben.

 

Die Frage nach dem Warum

 

Natürlich fragen alle Eltern, warum ihr Kind so ist und nicht anders. Wenn wir auffälliges Verhalten bei Kindern beobachten, dann ist das eine Momentaufnahme und noch keine Diagnose.

Eli ist noch keine zwei Jahre alt. Ihre Sprachentwicklung ist leicht verzögert, aber noch nicht auffallend. Dahingegen sind der fehlende Blickkontakt in der Interaktion und die sparsame Kommunikation deutlich. Eli zeigt eine Hypersensibilität für Wahrnehmungsreize und Bewegungsstereotypien. Sie kann ihre Affekte schlecht regulieren.

Die Kinderärztin empfiehlt eine Untersuchung auf Autismus in einem Sozialpädiatrischen Zentrum, um Eli gezielt fördern zu können, falls sich der Verdacht auf Autismus bestätigen sollte.

Es gibt bislang keine objektiven Kriterien für die Diagnose Autismus, vielmehr setzt sich diese zusammen aus der Befragung der Bezugspersonen, einem Entwicklungs- und Intelligenztest und einer Verhaltensbeobachtung. Je jünger das Kind ist, desto wichtiger ist die Verhaltensbeobachtung. Bei Kindern unter zwei Jahren erfolgt diese über mehrere Tage. Ebenso komplex wie die Diagnose ist die Förderung des Kindes.

Unter den frühkindlichen Entwicklungsauffälligkeiten ist die soziale Interaktions- und Kommunikationsstörung mit Auswirkungen auf Teilhabe der Betroffenen in der Gesellschaft, heute als Autismusspektrumstörung bezeichnet, eine besonders schwerwiegende Entwicklungsstörung. Die Hälfte aller Betroffenen zeigt schwerwiegende sprachliche und kognitive Störungen.

In den ersten zwei Lebensjahren eines Kindes geschieht die Entwicklung so schnell, dass kleine Abweichungen mitunter auch von den Fachleuten nicht gesehen werden. Oftmals sind es die Eltern, die feststellen, dass etwas nicht stimmt. Später sind es Erzieher:innen und andere Bezugspersonen, die das Kind in seiner Besonderheit gut beobachten und sich fragen, ob alles gut ist.

Schließlich bringt jedes Kind seine einzigartige genetische Prägung und seine Entwicklungsmuster mit auf die Welt. Erst im feinfühligen Miteinander mit seinen Eltern und anderen Bezugspersonen wird es seine angelegten Möglichkeiten entfalten und verwirklichen können. Dies ist abhängig von den Reifungsphasen des Gehirns. Insbesondere der Aufbau der weißen Substanz ist großen individuellen Schwankungen unterworfen.

Dabei folgt jedes Kind seinem eigenen Entwicklungsplan, der sich wesentlich mit den gängigen Tabellen der Entwicklungsdiagnostik deckt (siehe Stufenkonzept IVAN).

Normtabellen für die körperliche und funktionelle Entwicklung lassen sich im Untersuchungsheft für Kinder verfolgen. Die Bandbreite der normalen Entwicklung des Kindes ist groß. Jeder Reifeschritt der Gehirnentwicklung verändert sein Verhalten, jedoch nicht in so engen Zeiträumen, wie es die oft zitierten »Wachstumsschübe« vorzugeben meinen. Entwicklung ist eben immer individuell.

 

Stufenkonzept IVAN

 

Der Begriff »Entwicklungsauffälligkeiten« ist bisher nicht klar definiert und somit unscharf. Deshalb hat eine »Interdisziplinäre verbändeübergreifende Arbeitsgruppe ENtwicklungsdiagnostik (IVAN)« der Verbände für Kinder- und Jugendmedizin sowie Sozialpädiatrie ein Stufenkonzept der entwicklungs- und sozialpädiatrischen Versorgung in einem interaktiven Diagnostik-/Therapiemodell erarbeitet. Die Ziele sind:

  • Frühzeitige zuverlässige, valide und kontextbezogene Erfassung und frühzeitige adäquate Behandlung und Versorgung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten und -störungen
  • Gesellschaftliche Teilhabe betroffener Kinder und deren Familien
  • Verbesserte sektorale und kollegiale Versorgung der Kinder- und Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen.

Aus: Sozialpädiatrie. Band 1 (2016). Das Altöttinger Papier 3.0, 171–135 – IVAN. > www.dgsp.de

 

 

Was es braucht

 

Was ein »kompetentes« Baby für seine Entwicklung dringend braucht, sind eine geeignete anregende Umgebung und Bewegungsmöglichkeiten. Vor allem aber braucht es die zuverlässige fürsorgliche und haltgebende Beziehung zu seinen primären Bezugspersonen, sein »containment«. So kann es Urvertrauen aufbauen.

Ein Baby kann nicht erzogen werden. Es kann nur durch eigene Erfahrungen lernen. In der Interaktion mit seinen Eltern lernt das Baby diese und sich selbst und dann die Welt kennen. Dazu braucht es Schutz und dosierte Anregung.

Babys wie Eli benutzen dabei aber andere Wahrnehmungskanäle als die meisten Menschen und erhalten damit andere Informationen über ihr Umfeld. Da sie häufig Blickkontakt meiden, lernen sie wenig die mimischen Veränderungen ihrer Eltern kennen und bekommen kaum Information über deren Befinden. Damit fehlt ihnen das für das Leben in sozialen Gruppen wichtige Informationsmaterial zur Orientierung.

Es bleibt nicht aus, dass Eltern sich vergleichen und sich fragen, ob ein Verhalten bei ihrem Kind normal ist oder ob sie für ihr Kind gut genug sind. Der Kinderarzt Remo Largo hat den Begriff der Passung eingeführt. Dieser bedeutet, dass der Anpassungsprozess zwischen dem Kind und seiner Umwelt so passend sein sollte, dass das Wohlbefinden des Kindes gewährleistet ist.

 

Viele Entwicklungsaufgaben

 

Es gibt viele Entwicklungsaufgaben bereits im ersten Lebensjahr zu bewältigen. Die zentralen Aufgaben betreffen:

  • Wachstum
  • Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Essverhalten
  • Bewegungsentwicklung
  • Frühe Entwicklung der Wahrnehmung
  • Erstes Erkundungsverhalten (oral, manuell, visuell)
  • Entwicklung der Objektpermanenz
  • Frühe non-verbale Kommunikation
  • Bindungsentwicklung
  • Frühe Emotionsregulation.

Viele Eltern wissen nicht, was sie erwartet, wenn das Baby da ist, fühlen sich darauf nicht vorbereitet und probieren vieles aus. Die meisten Kinder aber reagieren auf Veränderungen mit Unruhe. Die Strukturierung des Tages, ein Rhythmus, Rituale helfen allen.

Viele Eltern suchen erst spät Orientierung durch Fachleute, die das Wachsen der Familie begleiten wie Hebammen, Kinderärzt:innen, Mütterberatung, Familie, Nachbarschaft und Frühe Hilfen.

U1 bis U6

 

Entwicklungsschritte erfassen

 

Die Kindervorsorgeuntersuchungen U1 bis U6 erfassen gut die funktionellen und sozialen Entwicklungsschritte des ersten Lebensjahres in den Bereichen:

  • Grobmotorik
  • Feinmotorik
  • Perzeption/Kognition
  • Sprache
  • soziale/emotionale Kompetenz
  • Interaktion/Kommunikation.

 

Legt man die Auswirkungen der Reifung des Gehirns, die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben und die Reifung des Eltern-Kind-Interaktion bei den sechs Vorsorgeuntersuchungen im ersten Lebensjahr wie Folien übereinander, so ergeben sich sechs Themenbereiche für Babys erste Schritte in die Welt:

  1. Die Eltern und das Kind lernen sich kennen (0 bis 3 Wochen)
  2. Das Wochenbett als Zeit der gegenseitigen Anpassung (2 bis 6 Wochen)
  3. Das Baby schenkt seinen Eltern seine volle Aufmerksamkeit (6 bis 12 Wochen)
  4. Mit allen Sinnen die Welt begreifen (3 bis 6 Monate)
  5. Das kann ich schon – das will ich noch (6 bis 9 Monate)
  6. Lass uns gemeinsam die Welt entdecken (9 bis 12 Monate).

 

 

Entwicklungswissen schafft Handlungsoption

 

Genaue entwicklungspsychologische Kenntnisse helfen Fachleuten und Eltern,

  • Kinder sowie deren Verhalten und Entwicklung besser zu verstehen
  • Fehlentwicklungen rascher erkennen zu können und eventuell zu korrigieren
  • Individuelle kindliche Eigenheiten und Bedürfnisse wahrzunehmen und somit einen vertrauensvollen Kontakt zum Kind und zu den Eltern herzustellen.

Besonders effektiv ist die videogestützte Entwicklungspsychologische Beratung (EBP), entwickelt von Prof. Dr. phil. Ute Ziegenhain, Leiterin der Sektion Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, und ihrem Team. Auf der Homepage des Instituts Kindheit und Entwicklung (> https://www.institut-ke.de/) werden Beratungsstellen in ganz Deutschland aufgeführt. Der Deutsche Kinderschutzbund und viele Erziehungsberatungsstellen setzen diese Beratungsform ein. In vielen Bundesländern machen die Familienhebammen und Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger:innen (FGKiKP) eine Weiterbildung in EPB. Letztere bietet allerdings nur ein Entwicklungsscreening. In unklaren Fällen hilft nur eine Abklärung in einem sozialpädiatrischen Zentrum.

Neben dem Nutzen birgt Entwicklungsdiagnostik ebenso potenzielle Risiken. Daher gehören Aussagen immer genau überprüft. Entwicklungsdiagnostik geht in drei Stufen:

  1. Screeningdiagnostik (20 min)
  2. Basisdiagnostik (50 min)
  3. Mehrdimensionale Bereichsdiagnostik der Sozialpädiatrie (einige Tage).

 

Entwicklungsdiagnostik kann als Ausgangspunkt hilfreicher antizipierender Beratung der Eltern stattfinden. Kompetente Entwicklungsdiagnostik ist nicht ausschließlich auf das Aufdecken von Defiziten ausgerichtet. Die Voraussagbarkeit nimmt zu, wenn die Ressourcen des Kindes und protektive Faktoren des Umfelds einbezogen werden.

Nie wird das kleine Kind allein gesehen, sondern immer im Kontext mit seinem Umfeld, auf das es angewiesen ist. Die Feinfühligkeit der Eltern ist ein wesentlicher Punkt, um die Entwicklungschancen auch bei Defiziten des Kindes zu beurteilen.

Psychosoziale Risikofaktoren in der Familie können »red flags« sein und Umfeldbelastungen bedeuten, die weitere Unterstützungsmaßnahmen erforderlich machen.

 

Was bedeutet das für Eli und ihre Familie?

 

Eli war schon früh für die Eltern eine große Herausforderung, weil sie ein »Schreibaby« war. Forscher:innen sagen, dass das unspezifische Schreien des Säuglings ein Hinweis auf einen frühen Anpassungsprozess des Nerven- und Verdauungssystems ist. Der Kinderarzt Oskar Jenni hat nachgewiesen, dass exzessiv schreiende Babys unter einem Wechsel von Übermüdung und Überreizung leiden, weil ihr circadianer Rhythmus noch unreif ist. 20 % aller Neugeborenen sind davon betroffen und benötigen fachliche Hilfe. Auch wenn es sich grundsätzlich um gesunde Babys handelt, ist die Belastung für die Eltern doch so groß, dass die Interaktion dadurch beeinträchtigt ist.

Elis Eltern haben keine Hilfe in Anspruch genommen. In Deutschland gibt es in jeder Kommune Angebote der Frühen Hilfen. Auf der Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) finden sich unter »Schreibabys« Aufklärungsvideos und Texte sowie Empfehlungen für Schreibabyberatungen in Deutschland.

Möglicherweise hätte eine Entwicklungspsychologische Beratung den Eltern gezeigt, wie reizoffen Eli ist, und die Eltern darin bestärkt, die Selbstregulation von Eli zu fördern. Möglicherweise hätten die Eltern ihre Sorgen berichtet und sich eine Zweitmeinung einer anderen Kinderarztpraxis geholt. Wir wissen, dass es diesen Eltern sehr wichtig war, bei ihrem Kind alles richtig zu machen. Ein Versäumnis lag vermutlich nicht vor. Eher sind sie vertröstet worden, dass sich Elis Auffälligkeiten schon auswachsen würden. Über weite Strecken war es auch einfach mit Eli, weil sie sich außergewöhnlich gut allein beschäftigen konnte und wenig Ansprüche stellte.

Ihre Entwicklung wurde in den Vorsorgeuntersuchungen unauffällig beurteilt. Die Eltern-Kind-Interaktion wurde als normal angesehen, obgleich Eli in der Sprachentwicklung nicht altersgemäß war und wenig Blickkontakt zeigte.

Erst mit Beginn der Tagesmuttergruppe war Eli verändert, unruhig, zog sich zurück und wirkte mehr und mehr überfordert. Als sie begann, mit dem Kopf auf den Boden zu schlagen, waren die Eltern alarmiert und machten einen Termin bei einer Beratungspraxis.

Durch die Interaktionsvideos in der Entwicklungspsychologischen Beratung lernten die Eltern ihr Kind besser kennen und unterstützten Elis selbstregulativen Fähigkeiten. Sie übten Blickkontakt und freuten sich über bessere Kommunikation. Die Beraterin schickte die Familie wegen der Paarkonflikte in meine Praxis für Eltern-Säugling-Kleinkind-Therapie.

Die Schilderungen der Eltern trafen auf einige Kleinkinder mit ähnlichen Symptomen zu, wie Störung der Selbstregulation, hohe Reizbarkeit, kognitive Entwicklungsstörung, vermeidendes Verhalten aufgrund der gestörten Interaktion mit den Eltern. Ähnliches Verhalten zeigen auch sehr unreife Frühgeborene. Eine genaue Verhaltensbeobachtung und die Schilderung der Eltern zeigten im Erstkontakt bei Eli jedoch die typischen Anzeichen einer Störung aus dem Autismusspektrum wie Blickvermeidung, Sprachstörung, Stereotypien, Störung der sozialen Interaktion.

Im nächsten Schritt überlegten wir, ob es ein geeigneteres Umfeld für Eli gebe.

Ich wies die Eltern auf die Schwierigkeiten von Eli im Kontakt mit anderen Menschen und ihr Bedürfnis nach Struktur hin. Ich empfahl, einen geeigneten Kindergarten mit Frühförderung zu suchen, sowie einen Termin in einem sozialpädiatrischen Zentrum zur Abklärung der Entwicklungsauffälligkeiten und ob eine Erkrankung aus dem Autismusspektrum vorliegen könne. Unter zwei Jahren wird die Diagnose selten gestellt. Eli und ihre Eltern hatten Glück, dass sofort eine spezifische Beratung begonnen wurde, so dass die Entwicklung von Eli überaus positiv verlief und die Eltern sich sicherer fühlten.

Eli kann jetzt Körperkontakt besser ertragen und kommt manchmal von sich aus, um kurz mit der Mutter zu kuscheln. Mit ihrem Vater macht sie eher Ballspiele. Elis Schwierigkeiten aufgrund ihrer Wahrnehmung der Welt werden vor allem bei Veränderungen zu hohen Erregungszuständen führen können, aber die Eltern lernen es immer besser, darauf weder hilflos noch wütend zu reagieren, sondern es in Ruhe mit ihr auszuhalten. Wenn es Eli gelingt, sich sprachlich mitzuteilen, so ist die Hoffnung, werden auch ihre Ausbrüche zurückgehen.

 

Zusammenfassung

 

Zu spät behandelt, führen Autismusspektrumstörungen zu schweren Einschränkungen des sozialen Lebens und der Lebensqualität. Wenn es hingegen gelingt, wie bei diesem 18 Monate alten Mädchen, die Weichen für ein geeignetes Umfeld frühzeitig zu stellen, können diese Kinder mit speziellem Training vieles lernen, was sie sonst nicht gekonnt hätten.

Oft gibt es frühe Hinweise wie exzessives Schreien und wenig reaktives Lächeln, jedoch sollte die Diagnose – auch der Verdacht – speziellen Zentren vorbehalten sein.

Rubrik: Ausgabe 11/2022

Vom: 26.10.2022