Arm versus Reich

  • Katja Baumgarten: „Kaum etwas zeigt den Unterschied zwischen Arm und Reich so augenfällig, wie die Verteilung der geschätzten jährlich über eine halbe Million Müttersterbefälle auf der Welt.“

  • Über die Todesfälle infolge Wochenbettfiebers veröffentlicht das preußische Kultusministerium folgende Zahlen: Es starben 1906 in Preußen 3.722 Frauen im Wochenbett, das macht auf je 10.000 Entbundene 28,81. Sonderbarerweise ist die Verhältniszahl in den Städten, wo doch eher Hilfe zur Hand ist, größer als in den Landgemeinden: 30,30 und 27,75. Auf die einzelnen Bezirke verteilt, ergibt sich für Berlin die ungünstigste Zahl, nämlich 56,48, für den Bezirk Arnsberg die günstigste, nämlich 17,84. Diese Zahlen bilden einen Beweis für die Notwendigkeit einer Reform des Hebammenstandes." Neue Untersuchungen der WHO kommen zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Frauenzeitschrift des Caritasverbandes, die diese Zahlen 1908 veröffentlichte: Gut ausgebildete Hebammen sind notwendig, um die weltweit viel zu hohe Müttersterblichkeit effektiv zu senken. 100 Jahre nach den preußischen Erhebungen hat sich das Blatt immerhin für die Industrieländer gewendet: Der Tod durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett ist hier zum Einzelfall geworden.

    Kaum etwas zeigt den Unterschied zwischen Arm und Reich und die Wertschätzung von Frauen und Kindern so augenfällig, wie die Verteilung der geschätzten jährlich über eine halbe Million Müttersterbefälle auf der Welt. Die Spannbreite liegt bei 2.000 Müttersterbefällen pro 100.000 Lebendgeburten in den ärmsten Ländern, im einstelligen Bereich dagegen in den meisten hoch entwickelten Ländern, die alle zusammen allenfalls an die 2.000 Müttersterbefälle erheben. Doch auch dort ist die Müttersterblichkeit zwischen arm und reich ungleich verteilt: Nach der britischen Studie „Why Mothers Die" bedeutet Arbeitslosigkeit beider Elternteile und soziale Isolation ein bis zu 20-fach erhöhtes Risiko für eine Frau, in Folge ihrer Mutterschaft zu sterben, gegenüber einer sozial besser gestellten Frau.

    Beim einzigen Mal, als ich mit dem Tod einer Mutter konfrontiert war, war Armut nicht das Problem. Die Schwangere hatte Angst vor der Entbindung geäußert. Die Privatpatientin erhielt die erbetene Sectio. Drei Tage danach wurde sie überraschend tot gefunden. Bei aller Betroffenheit von der Tragik für die Familie hat mich damals noch etwas anderes beschäftigt. Die Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Tod mitten im Leben hatte auch vor Professionellen nicht halt gemacht: Ein Psychologe riet dem Vater, an den vierjährigen ersten Sohn zunächst fiktive Briefe der angeblich verreisten Mutter zu schreiben. Erst Wochen später sollte er vorbereiten, dass die Mutter nie mehr zurückkehren würde. Der Kleine würde dem Neugeborenen sonst die Schuld am Tod ihrer Mutter geben. Dass das Kind von lauter trauernden Menschen umgeben war und wahrscheinlich längst die verborgene Wahrheit spürte, schien niemand zu vermuten. Die Vertrautheit mit dem Sterben ist in unserer Kultur zum Glück einer langen Lebensaussicht gewichen. Die Angst vor dem Tod beherrscht uns vermutlich trotz allem nicht weniger.