Beschämende Nachlässigkeit

  • Katja Baumgarten, Hebamme, Filmemacherin und Redakteurin: »Die Tabuisierung der Müttersterblichkeit in Deutschland findet sich auch bei der Erfassung wieder.«

  • Ein Tabu in der Geburtshilfe ist die Müttersterblichkeit. Zwar läuft die Furcht vor einer schweren Blutung bei fast jeder Geburt im Stillen mit, bis die Nachgeburtsphase überstanden ist. So richtig vorstellen kann es sich allerdings kaum jemand, die betreute Frau in der Schwangerschaft, während ihrer Geburt oder in der Wochenbettzeit zu verlieren.

    Doch manchmal wird das Undenkbare Wirklichkeit: 24 Müttersterbefälle wurden 2015 hierzulande statistisch erfasst. Verglichen damit, wie selten Mutterschaft als Todesursache in Deutschland ist, sind mir bislang erstaunlich viele Kolleginnen begegnet, die in ihrem Leben einen oder mehrere Todesfälle von Müttern miterlebt haben – manchmal nur am Rande als Teils des Teams. Zutiefst erschütternd ist das immer. Gesprochen wird darüber kaum, hilflos sind die meisten. Und manchmal kann damit nicht einmal innerhalb des Teams offen umgegangen werden, schon gar nicht mit den Ängsten, die die eigene Arbeit danach schwer oder unmöglich machen können. Heutzutage, wo sich die Medizin viel zutraut, ist dieser Tod »vor der Zeit« eine Konfrontation mit der »Naturgewalt«, die eine Geburt auch bedeuten kann. Dann münden geburtshilfliches Wissen und Handeln in Ohnmacht.

    Die Tabuisierung findet sich auch bei der Erfassung wieder. Einzig Bayern erhebt die Müttersterbefälle differenziert und umfassend – auch die späten Todesfälle bis zu einem Jahr nach der Geburt. Die WHO empfiehlt dies seit 20 Jahren. So fließen viele Fälle in Deutschland nicht in die Statistik ein – im internationalen Vergleich stehen wir damit scheinbar umso besser da.

    Es ist dem außergewöhnlichen Engagement des inzwischen 90-jährigen Geburtshelfers Prof. Dr. Hermann Welsch zu verdanken, dass die Notwendigkeit der lückenlosen Erhebung der Müttersterbefälle in Deutschland immer wieder thematisiert wurde. Weniger aus rein statistischem Interesse, sondern um Zusammenhänge zu verstehen und daraus zu lernen. In Großbritannien ist dies seit vielen Jahrzehnten Goldstandard. Welsch hatte seit den 1970er Jahren ebensolche Einzelfalluntersuchungen in Deutschland gefordert und ist in Bayern mit gutem Beispiel vorangegangen: 30 Jahre lang hat er jeden Todesfall einer Mutter anhand der Krankenunterlagen anonymisiert untersucht. Während ich diese Zeilen schreibe, ruft er an: Aus dem Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) hat er erfahren, dass die WHO jetzt eine international vergleichbare amtliche Todesbescheinigung als Grundlage für die Todesursachenstatistik vorgelegt hat. Sie führt auch die Details zur Erfassung der Müttersterbefälle umfassend auf. Nun scheint es nur noch eine Frage der Zeit, dass in Deutschland die beschämende Nachlässigkeit hinsichtlich der Registrierung aller Todesfälle von Müttern ein Ende hat.