Das beste Wissen teilen

  • Dr. Angelica Ensel: „Evidenzbasierte Medizin heißt, dass wir nicht stehen bleiben und etwas vertreten, nur weil es schon immer so war.“

  • Sehr gut erinnere ich mich an die Fragen, die mich bewegten, als ich das erste Mal von Evidenzbasierter Medizin (EBM) hörte: Kann man das komplexe geburtshilfliche Geschehen in diesen Kategorien fassen? Bedeutet das nicht eine Reduktion von zentralen Ebenen, wie Intuition und Erfahrung, die eine gute Geburtshilfe erfordert? Im Laufe der Beschäftigung mit EBM wurde mir zunehmend bewusst, welcher hohe Anspruch hinter diesem Konzept steht und dass Evidenz und Ethik zusammengehören. EBM ist kein Selbstzweck aus dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm, sondern ein zutiefst demokratischer Ansatz, der uns herausfordert und beweglich hält.

    EBM heißt, sich um das beste Wissen zu bemühen und dieses zu teilen, weil es unser Auftrag ist, den uns anvertrauten Frauen die beste Basis für ihre Entscheidung zu geben. Dabei geht es keinesfalls darum, die Individualität, Intuition und Erfahrungen von Frau und Hebamme auszugrenzen, sondern um die Frage: Welches Wissen ist die Basis meines Handelns und der Kommunikation mit den Frauen, die ich informiere und aufkläre? EBM heißt, dass wir nicht stehen bleiben und etwas vertreten, nur weil es schon immer so war. EBM stellt Ansprüche an die Beziehung zwischen Professionellen und Laien, denn sie fordert Transparenz, Kommunikation und Partnerschaft. Das „beste verfügbare Wissen" muss kommuniziert und verstanden werden – von beiden Seiten. Hier gibt es keine „natürliche" Autorität der Expertin, die weiß, was gut ist, sondern jede hat das Recht zu wissen, auf welcher Basis die Expertise beruht. EBM ist frauenfreundlich, denn sie wendet sich gegen patriarchale Beziehungsstrukturen.

    EBM fordert Teilhabe. Es geht darum, dass ich als Expertin mein Wissen teile und es auf eine Art kommuniziere, die mein Gegenüber verstehen kann – ein hoher Anspruch und gleichzeitig die zentrale Basis für Partnerschaft! In Deutschland gibt es diesbezüglich noch viel zu tun. Wir brauchen dringend evidenzbasierte, für Frauen geschriebene Informationen, die unsere Arbeitsfelder betreffen. Aus dieser Teilhabe entsteht eine Partnerschaft, die auf der Kommunikation des Wissens und einem Vertrauensverhältnis beruht. Dann bedeutet EBM auch Empowerment – für die eigene Professionalität und für die uns anvertrauten Frauen. Wenn wir sie stärken, indem wir ihnen das beste Wissen an die Hand geben, geben wir ihnen die Chance für eine fundierte, selbst verantwortete Entscheidung. EBM praktizieren heißt deshalb auch, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein und verantwortlich damit umzugehen.

    EBM praktizieren heißt Fragen stellen, sich nicht mit pauschalen Antworten zufrieden zu geben, sondern davon auszugehen, dass unser Lernen niemals aufhören wird und dass wir uns mit unserem Wissen verändern werden. Dies braucht uns nicht zu beunruhigen, denn diese Herausforderung an unsere Beweglichkeit befreit uns von einengenden Denkmustern und hält uns lebendig.