Das Kind nicht in den Brunnen fallen lassen

  • Tara Franke, Hebamme und Redakteurin der DHZ: »Während aus falscher Vorsicht häufig zu viel interveniert wird, werden manche sich tatsächlich anbahnende Notfälle so lange abwartend betreut, bis das Kind tatsächlich ‚in den Brunnen gefallen‘ ist.«

  • Kindliche Notfälle: Jede Hebamme fürchtet sie, fast jede erlebt sie im Laufe ihres Berufslebens. Doch die wenigsten bekommen eine echte Routine in deren Versorgung, weil sie dafür insgesamt nicht genug Geburten betreuen. Um adäquat handeln zu können, müssen Hebammen sowie ärztliche GeburtshelferInnen über aktuelles fachliches Wissen und Handlungssicherheit verfügen. Dies zeigt das Beispiel von Can, einem heute siebenjährigen Jungen, das ich in dieser Ausgabe vorstelle. Ohne das beherzte Einschreiten der Hebamme hätte er seine Geburt wohl nicht überlebt.

    Da evidenzbasierte Leitlinien für die Geburtshilfe in Deutschland bisher weitgehend fehlen, finden sich höchst unterschiedliche Standards in den Kliniken. Dr. Sven Hildebrandt, Professor für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Hochschule Fulda, macht in seinem Leitartikel deutlich, dass unsinnige und überflüssige Interventionen kindliche Notfälle sogar provozieren können, anstatt ihnen vorzubeugen.

    Aber auch bei einer idealen Geburtsbetreuung können wir vermutlich nicht ausschließen, dass vereinzelt geburtshilfliche Notfälle auftreten. Für die Erstversorgung der Kinder sollten häufiger alle beteiligten Berufsgruppen gemeinsam geschult und trainiert werden. Auch wenn es klare Tätigkeits- und Zuständigkeitsbereiche gibt – wer vor Ort ist, sollte möglichst gut und sicher alles tun können, was Leben und Wohl des Kindes retten kann. Einen Nabelvenenkatheter zu legen, mit dem Medikamente bei der Reanimation appliziert werden können, ist eine einfache Möglichkeit für Hebammen und GynäkologInnen, das Kind für die Erstbehandlung durch PädiaterInnen vorzubereiten. In diesem Heft schildert der Kinder- und Jugendarzt Dr. Thomas Hoppen diese Maßnahme.

    Hebammen müssen sich auf ihre Fertigkeiten, Erfahrungen und ihren klaren Menschenverstand verlassen können, wenn es zum Notfall kommt. Aber auch auf die Organisationsstrukturen ihres Arbeitgebers. Wird ein anhaltender Personalmangel zum Sicherheitsproblem, sind sie verpflichtet, Überlastungs- beziehungsweise Gefahrenanzeigen zu erstatten. Rechtsanwalt Matthias Diefenbacher beschreibt das richtige Vorgehen.

    Viele Hebammen und ÄrztInnen erleben immer seltener physiologische Geburten ohne Interventionen. Während aus falscher Vorsicht häufig zu früh und zu viel eingegriffen wird, werden manche sich tatsächlich anbahnende Notfälle so lange unterschätzt oder abwartend betreut, bis das Kind tatsächlich »in den Brunnen gefallen« ist. Dann wird es umso schwerer, das Kind wieder »herauszuziehen«. Beim Recherchieren zu dieser Ausgabe durchzuckte mich ein Gedanke: Riskieren wir durch die Pathologisierung der normalen Geburt, das Gespür für echte Geburtskrisen zu verlieren?