Das Selbstwertgefühl stärken

  • Dr. Angelica Ensel: „Frauen stehen in unserer Gesellschaft gerade in der Schwangerschaft unter einem großen Druck.“

  • Trotz großer Verbesserungen der perinatalen Mortalität konnte bei uns die Frühgeburtenrate nicht gesenkt werden – obwohl wir in einem der reichsten Länder der Erde leben und im Vergleich eine sehr gute Gesundheitsversorgung haben. Die Ursachen dafür sind komplex und noch immer nicht umfassend erforscht. Weil die Schwangerschaft ein biopsychosoziales Geschehen ist, betreffen Störungen das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen. Vorzeitige Wehen können durch bakterielle Infektionen hervorgerufen werden, durch eine konstitutionelle Muttermundsschwäche oder durch bestimmte belastende Faktoren in der Anamnese. Entscheidend aber wird eine zervixwirksame Wehentätigkeit durch Schwangerschaftsangst, Stress und psychische Belastung beeinflusst. Der Stress schwangerer Frauen hat seine Ursache jedoch nicht unwesentlich in einer wenig wertschätzenden Einstellung unserer Gesellschaft. Im Gegensatz zu anderen Kulturen, in denen schwangere Frauen selbstverständlich Achtung und Rücksicht erfahren, erhalten sie hier zu wenig Anerkennung und Fürsorge. Fast scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Statt weniger von sich zu verlangen, spüren viele Frauen gerade in der Schwangerschaft oft den Druck, keine Schwäche zu zeigen, sondern sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass sie alles gut schaffen. Dazu kommen Sorgen um den Arbeitsplatz, Gedanken, wie es weitergeht, wenn das Kind da ist, wie Berufstätigkeit, Kind und Beziehung vereinbar sein werden.

    Statt umsorgt zu werden, müssen schwangere Frauen bei uns in erster Linie für sich selbst sorgen. Wenn das Ungleichgewicht zu groß ist, können vorzeitige Wehen ein Hilferuf von Körper und Seele nach Fürsorge sein. Die erzwungene Ruhe kann helfen, den notwendigen Schutzraum zu eröffnen, um von hier aus die Umstände wieder neu zu ordnen. Ganzheitliche und interdisziplinäre Betreuungsansätze können präventiv ansetzen: Sie können Frauen von Anfang an darin stärken, ihren Körper und ihre Bedürfnisse zu spüren und sie dabei unterstützen, selbst Lösungen zu finden, um die Belastungen zu reduzieren – eine gute Vorbereitung für das Leben mit einem Kind. Hebammen haben bei ihrer Vorsorge die Chance, mögliche Problemfelder bereits im Vorfeld zu erkennen und gemeinsam mit der Frau herauszufinden, wo die Ursachen liegen und was hilfreich sein könnte. Wichtig ist es, nicht zu psychologisieren, denn auch das kann Schuldgefühle auslösen und zu noch mehr Stress führen. Die Frau allein hat die Deutungshoheit!

    Entscheidend für den guten Verlauf der Schwangerschaft ist die Art und Weise, wie eine Frau in ihre soziale Umgebung eingebettet ist. Idealerweise braucht es nicht nur eine stabile Beziehung zum Partner, sondern ein unterstützendes – vor allem weibliches – Netzwerk. All das wirkt stärkend und präventiv gegen vorzeitige Wehen. Und: Schwangere mit einem hohen Selbstwertgefühl haben eine signifikant geringere Frühgeburtenrate!